6777917-1969_29_11.jpg
Digital In Arbeit

Parteifeindlichkeit

Werbung
Werbung
Werbung

Im Parterre des Wiener Landes-gerichtes fuhr das Vernichtungsmesser dröhnend auf seine Opfer nieder, und andere Delinquenten starben daneben in den Schlingen der Fleischerhaken. Trotzdem vollendete sich vor den Toren des Gebäudes die Änderung der allgemeinen Mentalität. Der Selbsterhaltungstrieb überwand den Eindruck der täglichen Greuelrmeldungen von den Fronten, die das Weiterleben nach dem Feindsieg als sinn- und ehrlos hinstellen wollten. Die Russenangst wich dem Wunsch nach einem „Ende mit Schrecken“, das vielleicht besser sein könnte als der gegenwärtige Schrecken ohne Ende. Die ersten Frühlingsboten aus dem Wienerwald ließen gefallene Verwandte oder vermißte Angehörige vergessen, die erloschene Theaterlust regte sich erneut bei improvisierten Szenen auf diversen Ersatzpodien, ja, mancher vermeinte sogar, das Theater erst jetzt für sich zu entdecken. Noch immer erinnerten die Machthaber in ihren Zeitungen an die Mühsal der Wirtschaftskrise und des Vaterländischen Kurses von einst, aber dies zog nicht mehr. Mit Datum vom 10. März 1945 schildert ein aufgefundener Vermerk für den Chef der Sicherheitspolizei und des SD die „parteifeindliche Einstellung der Wiener Arbeiterbevölkerumg nach Luftangriffen“. Die Kreisleitung I des Gaues Wien berichtet am 2. April ausführlich über renitentes und aufrührerisches Verhalten in der Gaustadt und verlangt dagegen Sonderkommandos beziehungsweise Auffangkommandos des Reichsfüfarers SS. Nach diesem Bericht scheint nur noch S charitzer zufriedenstellend zu arbeiten, Schirach hingegen völlig entschlußlos zu sein.

Verhandlungen mit Renner und Käs

Das gewissermaßen amtliche Schicksal der Gaustadt nahm mittlerweile seinen Lauf, ohne sich viel um Blaschke zu kümmern. Am Oster-dienstag, dem 3. April 1945, wurde Renner vom russischen Kommando in Köttlach ins Hauptquartier nach Hochiwolkersdorf eskortiert, am Donnerstag, dem 5. April, fand dort mit ihm um 2 Uhr nachmittag die entscheidende Unterredung über die Bildung einer provisorischen Staats-regierung statt, die seitens der Roten Armee von Generaloberst Scheltoto und Generalleutnant Kromov ge-

führt wurde. Am selben Osterdiens-tag überschritt Oberfeldwebel Käs mit seinem Fahrer, dem Obergefreiten Reif, in den frühen Vormittagsstunden als Beauftragte eines höheren Offiziers im Stabe des Wiener Festungskommandanten, der gleichzeitig als Verbindungsmann zur Gauleitung fungierte, die Frontlinie bei Payerbach. In der Nacht vom 3. auf

4. April 1945 wurden mit Käs in Hochwolkersdorf Besprechungen aufgenommen, in deren Verlauf die Rote Armee zweifellos außerordentlich wichtige Einzelheiten hinsichtlich der deutschen Verteidigung zur Kenntnis nahm. Die weiteren Vereinibarungen sind bereits so oft beschrieben worden, daß sie hier übergangen werden können. Jedenfalls erschien Käs am Donnerstag,

5. April, morgens wieder in Wien bei seinen Auftraggebern.

Die Rote Armee, die bereits vor einigen Tagen mit einer Spitze durch das Steinfeld ins Raxgebiet vorgestoßen war, eine zweite Spitze durch die ungarische Pforte südlich des Neusiedler Sees gegen Wiener Neustadt vorgetrieben und eine dritte Spitze nördlich des Sees ins Leitha-gebirge bineingebohrt hatte, überrannte am 5. April eine besonders schwache deutsche Defensivstellung zwischen Wiener Neustadt und Baden, während der Reichssender

Durchbruchsversuche der Russen im Süden der Gaustadt bekanntgab. Am Morgen des 6. April gingen die Russen durch den Wienerwald nach Nordwesten vor, am selben Morgen, 4 Uhr früh, erging ein Befehl der aufständischen Wiener Offiziere an alle militärischen und zivilen Wi-dersitandsgruppen zur bewaffneten Erhebung ab 22 Uhr abends.

Letzte Hoffnung: Sepp Dietrich

Am Morgen des 2. April 1945, das war am Ostermontag, hatte man in Wien bemerkt, daß sich Schirach zu einer neuen Geste aufraffen wollte. Überall wurden kleine Plakate angeschlagen in denen er die Frauen und Kinder aufforderte, die Stadt zu verlassen. Einige Stunden später stellte der Gauleiter im Reichssender Wien persönlich seinen „alten Freund, den Obergruppenführer und Generaloberst der Waffen-SS, Sepp Dietrich“, als den Hauptfaktor der Verteidiger vor. Dietrich lagerte mit vier SS-Divisionen vor der Stadt, während sich die anderen Teile seiner Armee durchs Triestingtal gegen Westen zurückzogen. Aus der Antwort Dietrichs an Schirach im Reichssender ging ziemlich klar hervor, daß der Obergruppenführer nicht mehr an den Erfolg seiner Mission glaubte. Trotzdem begann am 3. April in Wien überall der befohlene Barrikadenbau, wobei in Abständen kleinere Bomben krepierten. Der letzte ordnungsgemäß durch Sirenenton gegebene Fliegeralarm Wiens dürfte in den Morgenstunden dieses Dienstags erfolgt sein.

In der Stadt befanden sich damals noch 30.000 Verwundete und schätzungsweise 40.000 Deserteure. Das Trinkwasser war bereits knapp geworden, obwohl die Russen die Erste Wiener Hochquellenleitung aus dem Semmeringigebiet nicht unterbrachen. Am 4. und 5. April wurde das Wiener Funkhaus von der nationalsozialistischen Leitung verlassen. Am 6. April übernahm eine SS-Gruppe die Anlage und installierte dort den „Kampfsender Prinz Eugen“. Am Nachmittag jenes 6. wurde das Stichwort: „Wien, rechts der Donau“ durch den Rundfunk verlautbart und so das Zeichen'zum Beginn umfangreicher Zerstörungen am Verkehrs- und Industriesektor gegeben. Schon in der folgenden Nacht wollte der Kommandeur des Kampfsenders das Funkhaus in die Luft fliegen lassen, einige österreichische Techniker und die Telepho-nistin verhinderten jedoch dieses Vorhaben. Knapp nach 24 Uhr schlichen alle davon, die SS-Leute nahmen noch schnell die Kasse mit. Gegen Mittag des .6. April 1945, innerhalb jener Stunden, die den Aufständischen zur Bereitstellung bis zum Losschlagen um 22 Uhr geblieben waren, kam es zu ersten Zusammenstößen mit der braunen Exekutive beziehungsweise mit zurückgehenden deutschen Truppen.

Fast gleichzeitig, aber völlig unabhängig davon, erfolgte die Verhaftung der militärischen Rädelsführer durch ein Jagdkommando der SS und durch Gestapo-Beamte. Die Festnahmen griffen auch auf andere Verdächtige über. Wahrscheinlich könnte man angesichts dieses Rückschlages den Organisatoren des Aufstandes den Vorwurf machen, daß sie überdimensioniert geplant und zu wenig der spontanen Einzelaktion überlassen haben. Anderseits hat gerade diese Planung, die stark an die Aktion des 20. Juli 1944 erinnert, das Vertrauen der Roten Armee von Anfang an gewonnen, und in Einzelfällen, zum Beispiel bei der Verwirrung der deutschen Operationen sowie beim Hintanhalten mehrerer Sprengungen, auch dann noch gewirkt, als das Gesamtkonzept undurchführbar geworden war. Die Verluste der Wiener Widerstandsbewegung waren jedenfalls damit noch nicht zu Ende, es gab mehrere am Wegrand Hingerichtete oder im Kampf Getötete, darunter die Erschießung eines ehemaligen Funktionärs der Vaterländischen Front und seines Sohnes in der Brigitten-au. In der allgemeinen Verwirrung feuerten Widerstandskämpfer sogar auf die eigenen Leute. Die Erdrosselung von drei ins Komplott verwickelten Offizieren am Floridsdor-fer Spitz am 7. April durch ein Kommando der Waffen-SS schloß die Kette jener Grausamkeiten ab, die seit der Vergeltung des 20. Juli 1944 an höheren Militärpersonen der Gaustadt verübt wurden. Die Widerstandsgruppe 05 war ihrer Partner bei der Wehrmacht beraubt.

Gestapo „greift durch“

Mit 6. April 1945 abends hörte die Möglichkeit, über die Westbahnstrecke oder über die Wiental-Bundesstraße aus der Gaustadt zu verschwinden, auf. Es war auch kein Benzin mehr aufzutreiben. Anderseits hatte die Wiener Bevölkerung den Aufruf Schirachs am 2. April von vornherein kaum beachtet. Bis auf Überängstliche oder besonders Gläubige Wieb alles zu Hause, zehn-tausende Uniformierte zogen sich in den Kellern um, ganze Regimenter lösten sich über Nacht in nichts auf, Fäden wurden zu den Russen gesponnen, und selbst Blaschke sah sich plötzlich in Verhandlungen mit konspirierenden Offizieren verwickelt, die Wien doch zur offenen Stadt erklärt haben wollten. Sogar der SS-Oberführer und Wiener

Regierungspräsident Delbrügge schien ein doppeltes Spiel zu treiben.

Aber da griff eben die Gestapo durch, man merkte sogleich, daß die Zeiten vor dem März 1938 nie und nimmer wiederkehren sollten. Eher mochten die greulichen Bolschewiken alles krummschlagen! Doch bei diesem Durchgreifen zeigte sich erst der erstaunliche Umfang und das unmittelbar bevorstehende Losbrechen eines proösterreichischen Aufstandes. In einzelnen Bezirken wurde anscheinend gerauft, und Tiefflieger veranstalteten ein zusätzliches Höllenkonzert. Der Kampfkommandant Bünau dürfte völlig den Kopf verloren haben, seitdem er wußte, daß ihn die eigenen Mitarbeiter arretieren wollten. Er sah bereits hinter jedem Fenster feuernde Partisanen und berichtete sogleich darüber ins Führerhauptquartier. Aber er täuschte sich, wenn er glaubte, daß man dort davon beeindruckt sein werde und die Schlacht um Wien deswegen abbrechen lasse.

Der Wiener Feuerschutzpolizei, es waren 3798 Männer und 627 Fahrzeuge, wurde mit einem vom 6. April 1945 datierten Befehl der örtlichen Luftschutzleitung eine Absetzbewegung verordnet. Die Autos mußten in der Nacht zum 7. April am Praiter-vorbei über die Reichsbrücke nach Kagran hinüberfahren. Die Mannschaften, die mit fremdvölkischen Kräften durchsetzt sowie durch Festnahmen und Hinrichtungen — darunter eine Massenexekution vor dem angetretenen Personal im Herbst 1944 — eingeschüchtert worden waren, wurden beim Abrücken aufs heftigste zurechtgewiesen. Trotzdem desertierten bald darauf einige Dutzend Männer mit Gerät. Die übrigen mußten dem Bürgermeister Blaschke voran gegen Oberösterreich weiterziehen, der, einem Gerücht zufolge, den ganzen Marsch aus Wut über die Wiener Widerstandsbewegung in Szene gesetzt hat.

Der Zentrale der Wiener Rettungsgesellschaft waren am 7. April noch zwei Einsatzwagen geblieben. Die Außenstelle in Mariahilf wechselte am Vormittag in Angriff und Gegenangriff mehrmals die Nationalität, blieb aber ununterbrochen in Tätigkeit. Am Telephon ließ der Stations-meister Pfleger den zentralen Betriebsleiter Janowetz sogar den Gefechtslärm mithören. Überall lagen jetzt Sterbende und Verletzte, die zur Seite getragen werden mußten. Am Dienstag, dem 10. April, früh, sprengten die Deutschen die Aspernbrücke und beschädigten damit das nahe Hauptgebäude der Rettungsgesellschaft. Die Verbindung zur Feuerwehrzentrale Am Hof riß ab, das letzte Auto ging bei einer Fahrt zum Rudolfsspital verloren. Am Sonntagabend, dem 8. April, sickerten russische Abteilungen aus den Wäldern des äußeren Groß-Wien in die südwestlichen Bezirksteile ein. Mit Anbruch der Dämmerung kam es zu kleineren, aber verlustreichen Schießereien, die letzten braunen Kämpfer sammelten sich samt ihren Familien in den Ortsgruppenleitungen, verwüsteten die Zimmer, warfen Kriegsgerät fort und verschwanden im Dunkel der Nacht. Immer mehr rote Infanterie quoll über die Mauer des Lainzer Tiergartens, bis die Menschenwoge am Morgen des Montag beim Tor des Schlosses Schönbrunn auslief.

(Fortsetzung folgt)

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung