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Der russische Großangriff begann

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Bei diesen traurigen Erinnerungen an das Geschehen vor 20 Jahren ist wohl das Erschütterndste die immer wiederkehrende bittere Erkenntnis, daß so viele vernünftige, fähige und unerschrockene Männer die Katastrophe vorausgesehen und noch rechtzeitig den Ausbruch aus der Mausefalle verlangt hatten. So war der Kommandeur der 297. ID., General Pfeffer, der dann in Stalingrad-Süd das IV. AK. übernahm, auf der berühmten Generalsversammlung im eingeschlossenen Stalingrad ganz energisch für den Durchbruch eingetreten, und zwar zu einer Zeit, als dies noch durchaus möglich gewesen wäre. Von ihm stammt übrigens auch das Wort: „Für den böhmischen Gefreiten schieße ich mir keine Kugel durch den Kopf!“

Aber nun, anfangs Jänner 1943, waren die meisten der etwa 200.000 noch Lebenden zu einer größeren Anstrengung rein physisch nicht mehr fähig und außerdem durch fortgesetzte Enttäuschungen seelisch schwerstens erschüttert. Mit der Ablehnung des im letzten Artikel geschilderten russischen Kapitulationsangebots auf direkte Weisung Hitlers war das Schicksal der 6. Armee besiegelt.

Mit einem einstündigen, außerordentlich schweren Trommelfeuer begann am 10. Jänner 1943 der Großangriff der .Russen gegen den Kessel; von diesem Zeitpunkt an wurde das Heldenlied des deutschen Soldaten zu einem von der obersten Führung verursachten Massensterben. Die Leistungsgrenze der Soldaten war nun weit überschritten; wohl gab es immer noch edle Aufopferung, Einzeltaten der Tapferkeit und persönliche Initiative; aber die seelische Grundstimmung war nur noch dumpfe Ergebenheit in das unentrinnbare Schicksal, ein letztes, verzweifeltes Sichwehren aus Selbsterhaltungstrieb. Den letzten Rest gab den wenigen, die sie in der Stalingrader Hölle noch hören konnte, die Göring-Rede; nun wußten sie es sozusagen „amtlich“: abgeschrieben!

Einige Funksprüche aus Stalingrad mögen uns die Dramatik der Kämpfe in der Stadt an der Wolga aufzeigen:

An OKH/Operations-Abteilung, am 21. Jänner 1943 abends:

„In unvorstellbar heldenmütigem Verzweiflungskampf versuchten heute die Divisionen der Westfront, feindliche Massenangriffe, unterstützt von starker Artillerie und Panzern, in hin-und herwogendem Kampf abzuwehren. Mehrere tiefe Einbrüche wurden notdürftig aufgefangen, im Gegenstoß

kleinster deutscher Gruppen wurden durchgebrochene feindliche Regimenter vorläufig zum Stehen gebracht. Eine Anzahl Panzer zum Teil im Nahkampf vernichtet... Gontschara in späten Abendstunden vom Feind genommen. Hier große Lücke. Lage noch ungeklärt. Westlich Flugplatz Gumrak halten noch mehrere Stützpunkte. 44. ID. anscheinend aufgerieben. Weitere Feindverstärkungen vor Südwestfront lassen Angriffe stärkster Feindkräfte erwarten.“ Heeresgruppe Don, Ia.

Funkspruch an OKH, vom 22. Jänner 1943, zur Weitergabe an Führer:

„Nach anfänglicher Abwehr massierter Feindangriffe breiter und tiefer Durchbruch 22. mittag bei XIV. Pz. und IV. AK. an Südwestfront, nachdem dort Munition verschossen. Russe im Vorgehen in 6 Kilometer Breite beiderseits Woroponowo, zum Teil mit entrollten Fahnen, nach Osten. Keine

Möglichkeit mehr, Lücke zu schließen. Zurücknahme nach Nachbarfronten, die auch ohne Munition, zwecklos und nicht durchführbar. Ausgleich mit Munition von anderen Fronten auch nicht mehr möglich. Verpflegung zu Ende. Mehr als 12.000 unversorgte Verwundete im Kessel. Welche Befehle soll ich den Truppen geben, die keine Munition mehr haben uiid weiter mit starker Artillerie, Panzern und Infanteriemassen angegriffen werden? Schnellste Entscheidung notwendig, da Auflösung an einzelnen Stellen schon beginnt, Vertrauen zur Führung aber noch vorhanden. Paulus.“

Noch am gleichen Tag antwortete Hitler an Paulus:

Funkspruch vom 22. Jänner 1943, 19 Uhr:

„Kapitulation ausgeschlossen. Truppe verteidigt bis zuletzt. Wenn möglich, engere Festung mit noch kampffähiger Truppe halten. Tapferkeit und Ausharren der Festung haben die Möglichkeit gegeben, eine neue Front aufzubauen und Gegenoperationen einzuleiten. 6. Armee hat damit einen historischen Beitrag in dem gewaltigsten Ringen der deutschen Geschichte geleistet. Adolf Hitler.“

Funkspruch vom 26. Jänner 1943, 8.20 Uhr, an Heeresgruppe Don:

„Front IV. AK. südlich Zaritza gegen überlegenen Feind im Zusammenbrechen. Von dort letzte Meldung 7.00 Uhr, daß bei 467 die Generäle Pfeffer, von Hartmann, Stempel und Oberst i. G. Crome mit wenigen Männern, aufrecht am Bahndamm stehend, in von Westen heranrückenden Russenhaufen schießen. AOK. 6.“

Kurz nach dieser Meldung geriet General Pfeffer lebend in Gefangenschaft. Die 297. ID. war ausgelöscht, obwohl einige Stützpunkte noch hielten. Eineinhalb Stunden später ließ Paulus funken:

Funkspruch vom 26. Jänner 1943. 9.40 Uhr, an Heeresgruppe Don:

„General Hartmann, Kdr. 71. Inf. Div., 26. 1., 8.00 Uhr, im Nahkampf durch Kopfschuß gefallen. General von Drebber, Kdr. 297. Inf. Div., 25. I. mittags auf seinem Gefechtsstand überrollt. Wahrscheinlich gefangen. AOK. 6.“

Nochmals, eineinhalb Stunden später, funkte General Strecker:

Funkspruch vom 26. Jänner 1943, 11.45 Uhr, an Heeresgruppe Don:

„Gruppe kämpft ohne schwere Waffen und ohne Verpflegung bis zum letzten Erschöpfungszustand. Leute fallen um. Erfrieren mit Gewehr im Arm ... Strecker, XI. AK.“

Die Russen versuchten wiederholt, die schrecklichen und für die 6. Armee völlig hoffnungslos gewordenen Zustände zu beenden.

Funkspruch vom 26. Jänner 1943, 23.00 Uhr, an Heeresgruppe Don:

„ ... Russe versuchte heute mehrfach, ebenso wie an den Vortagen, Verhandlungen durch Parlamentäre zwecks Übergabe zu erreichen, die abgewiesen wurden. AOK., I a über OKH.“ .

Drei Generäle, Seydlitz, Schlömer und von Drebber, schlössen örtliche Kapitulationen ab. Paulus jedoch ließ den nördlichen Kessel unter General Strecker noch drei Tage weiterkämpfen.

„Lazarett“ Timoschenko-Bunker

Die erst seit ganz kurzer Zeit der Allgemeinheit zugänglichen Funksprüche aus Stalingrad lassen schon ahnen, was die etwa 100.000 Ende Jänner noch Überlebenden auszustehen hatten. Ein plastisches Bild bekommen wir durch einen nüchternen Bericht unseres Chirurgen von der 2. San.-Kp.,

Dr. Hermann Achleitner (Ried im Innkreis), der, ebenso wie Dr. Franz Fellner (Schärding), Dr. Dibold (Linz), Dr. Fritz Senker (Amstetten) und viele andere Ärzte aufopferungsvoll Verwundete, Schwerkranke und Frostgeschädigte behandelte. Er schildert die Zustände im „Zentrallazarett“ von Stalingrad-Süd, im „Timoschenko-Bunker“:

„Am 21. Jänner 1943 erhielt ich von der Division den Befehl, mit einer Gruppe Sanitäter den sogenannten Timoschenko-Bunker zu übernehmen, der angeblich als Lazarett ausgebaut sei. Auch Holzpritschen, Licht und Verpflegung für die Verwundeten solle es dort geben. Als ich nach längerem Suchen am Steilufer de« Zaritzaflusses den Eingang zum Bunker fand, biwakierte dort eine Horde, die Feuer gemacht hatte. Die Besatzung dieses Bunkers bestand aus einer bunt zusammengewürfelten Gesellschaft von Kranken, Verwundeten und

Drückebergern. Die erste Aufgabe bestand darin, erst einmal alle hinauszubringen, die nicht hineingehörten — es sollte ja ein Lazarett werden.

Dieser Bunker war ein Stollensystem, in das Felsufer hineingehauen: ein Stollen geradeaus, dann ein Viereck mit Nebenräumlichkeiten, Lichtleitung, Wasserleitung, Frischluftleitung. Aber fast alles war zerstört, es gab weder Licht noch Wasser. Schutt und Unrat machten ein Passieren der Gänge fast unmöglich. Notdürftig beseitigten wir den Schutt und legten eine neue Lichtleitung. Glücklicherweise hatten wir unser Aggregat mitgebracht und unsere Sammelbatterien. Die Verpflegung mußten wir uns selbst beschaffen. Es gab ein wenig Brot, eine ganz dünne Scheibe für jeden: wir entschlossen uns deshalb, aus diesem Brot eine dicke Brotsuppe zu machen, damit jeder wenigstens etwas Warmes zu essen bekam.

Als in der Nacht zum 28. Jänner die Pak aufhörte, zu feuern, wußten wir, daß es jetzt mit dem Widerstand wirklich vorbei war. Am 29. Jänner, um 9.00 Uhr vormittags, kam der erste Russe in unseren Bunker; es war ein Oberleutnant, der jeden von uns mit Handschlag begrüßte. Der erste Eindruck, den wir von unserem Gegner bekamen, war also kein schlechter. Aber diese kämpfende Truppe zog bald ab. Noch am gleichen Tag torkelte ein stockbesoffener Feldscher in unseren kleinen Bunker und verlangte mit der Pistole in der Hand Schnaps. Als wir ihm keinen geben konnten, nahm er uns unser Aggregat weg. Wir mußten von nun an mit Hindenburg-lichtern und selbsthergestellten Fak-keln für die Beleuchtung sorgen.

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