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DER MARSCH AN DIE WOLGA

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Die Stadt an der Wolga, die heute eine Industriemetropole mit mehr als einer Million Einwohner ist, trägt auf Anordnung Nikita S. Chruschtschows seit 1961 den Namen Wolgograd. Im Zuge der Entstalinisierung der spätfünfzi-ger Jahre hatte die damalige sowjetische Parteiführung bestimmt, daß die „Heldenstadt an der Wolga" nicht mehr mit den Taten und dem Wirken des einstigen Diktators Stalin zusammen erwähnt werden darf. Es war eine politische Entscheidung.

In den Annalen der Weltgeschichte und insbesondere in der Geschichte des Zweiten Weltkrieges wird die Schlacht an Don und Wolga 1942/43 weiterhin mit dem Namen Stalingrad in Verbindung bleiben.

Wann begann eigentlich diese für den Ausgang des Zweiten Weltkriegs so entscheidende Schlacht?

Im Frühjahr 1942 plante Adolf Hitler einen neuen Feldzug gegen die Rote Armee, da das Jahr 1941 an der Ostfront mit einem Fiasko für die Deutsche Wehrmacht endete. Vor Moskau im Dezember 1941 mußte sogar die deutsche Kriegsmaschinerie - erstmals im Verlauf des Krieges -eine Niederlage hinnehmen. Nun, das zweite Kriegsjahr im Osten sollte

- nach Ansicht Hitlers - den endgültigen Sieg über Stalins Rote Armee bringen.

Nicht an der ganzen ausgedehnten Ostfront, sondern lediglich an einem Abschnitt wollte Hitler im Sommer 1942 mit seiner Großoffensive - genannt „Blau", später „Braunschweig"

- beginnen. Er wählte dazu den Südabschnitt aus und zwar jenen, von wo aus man zum unteren Don, zur Wolga und vor allem in den Kaukasus gelangen konnte. Die „Führerweisung Nummer41" sah vier Operationsphasen für das deutsche Ostheer vor - mit dem Endziel, zum Kaukasus vorzustoßen, das Erdölgebiet von Baku zu gewinnen und die iranische Grenze zu erreichen.

Hitler brauchte Erdöl, Stützpunkte im Iran, um von dort aus - in einer späteren Phase des Feldzuges - in den

Nahen Osten vorzudrängen und sich in Palästina (oder östlich davon) mit Rommels Afrika-Korps zu treffen. Den Schlachtplan, Moskau im Sommer 1942 erneut anzugreifen, ließ Hitler fallen. Die Wolgastadt Stalingrad wollte er eigentlich nur „beiläufig" ereichen. Er beabsichtigte, Stalin durch Unterbindung der Wolga bei Stalingrad den Fluß als Transportweg zu sperren.

Das deutsche Ostheer hatte seit dem 22. Juni 1941 bis 28. Februar 1942 mehr als eine Million Soldaten verloren, davon 210.000 Tote und etwa 47.000 Vermißte - eigentlich ein Drittel seiner ursprünglichen Stärke. Noch verheerender waren die Waffen- und militärtechnischen Ausfälle. Allein die Luftwaffe hatte an der Ostfront bis zum 1. April 1942 einen Totalverlust von 2.951 Flugzeugen und dazu noch 1.977 stark beschädigte Flugzeuge. Die Panzerdivisionen des deutschen Ostheeres gingen im Winter 1941/42 praktisch unter.

Verbündete Opferlämmer

Durch Neuaufstellung von Divisionen und durch die Anstrengungen der Kriegsindustrie konnten jedoch die Reihen des Ostheeres, wenn auch nicht in allen Abschnitten, neu aufgefüllt werden. Um die Offensivkraft für die Sommeroffensive 1942 zu erhöhen und bei den entscheidenden Schlachten mit deutschen Stoß-Divisionen in Überzahl rechnen zu können, griff die deutsche politische Führung auf ihre europäischen Verbündeten beziehungsweise Waffengefährten zurück. War Hitler 1941 nicht besonders glücklich, im Ostheer der deutschen Wehrmacht auch Truppen anderer Nationen zu sehen, so waren im Sommer 1942 diese schon mehr als willkommen. Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel und Außenminister Joachim von Ribbentrop „rekrutierten" im Winter 1941/42 die Hilfstruppen für die Ostfront. Sie waren erfolgreich, vermochten doch mit gewissen Drohungen oder Belobigungen die Verantwortlichen in Budapest, in Bukarest, in Rom, Zagreb beziehungsweise in Preßburg für ihre Sache zu gewinnen.

So geschah es, daß im Mai und Juni 1942 - gemeinsam mit dem Aufmarsch der neuen deutschen Divisionen im Raum von Kiew und anderswo - auch zwei rumänische Feldarmeen, eine ungarische und eine italienische Armee nach Rußland verlegt wurden. Die Slowaken schickten zwei Divisionen, die man dann bei den Kämpfen im Kaukasus eingesetzt hatte, und der „Proglavnik" aus Zagreb (Ante Pavelic) ließ ein „verstärktes kroatisches Infanterie-Regiment" der 100. Jäger-Division angliedern, das dann in Stalingrad bis zum letzten Mann kämpfend im Jänner 1943 unterging.

Insgesamt stellten Hitlers Waffengefährten für die deutsche Sommeroffensive mehr als 600.000 Mann zur Verfügung. Ihre Kampfkraft (und technische Aurüstung) konnte sich jedoch weder mit den Russen noch mit den Deutschen messen. Die meisten Divisionen der Verbündeten zogen mit veralteten Waffen und ohne militärische oder politische Motivation in den Kampf. Sie fühlten sich eigentlich als Opferlämmer ihrer Regierangen auf dem Altar der hohen Politik.

Die deutsche Sommeroffensive 1942 startete - wie vorgesehen - am 28. Juni 1942 - mit der „Armeegruppe von Weichs" aus dem Raum Kursk zum Angriff gegen die Brjansker Front (Heeresgruppe) der Roten Armee. Am nächsten Tag ging südöstlich von Bel-gorod die 6. deutsche Armee mit 19 Divisionen zum Angriff über. Am 2. Juli folgte ihr die 4. deutsche Panzerarmee. Der Erfolg war enorm. Stalin erwartete nach wie vor die deutsche Offensive gegen Moskau: der Südabschnitt der sowjetischen Westfront war mit zweitrangigen Trappen bestückt. Sie wichen vor den Deutschen zurück. Die Armeegruppe von Weichs mit den ungarischen Divisionen erreichte bereits am 5. Juli die bedeutende Industriestadt Woronesch am mittleren Don und damit errichtete sie einen wichtigen Eckpfeiler der deutschen Offensive im Norden.

Am 7. Juli wurde - wie vorgesehen - die deutsche Heeresgruppe Süd in die Heeresgruppe A (Generalfeldmarschall Sigmund W. List) und in die

Heeresgruppe B (Generalfeldmarschall Fedor von Bock) aufgeteilt. Zwei Tage später konnte Hitler triumphieren: die erste Operationsphase der Sommeroffensive war abgeschlossen: die Front der Roten Armee zwischen Don und Donez wurde ins Wanken gebracht. Die Sowjets zogen sich in die Tiefe des Landes zurück. Man war in der deutschen Führung nur deswegen unruhig geworden, weil man - im Gegensatz zu 1941 - viel zu wenig Kriegsgefangene einbringen konnte. Das bedeutete, die Rotarmisten ließen sich nicht mehr einkesseln. In der Gefahrenzone räumten sie eher das Schlachtfeld.

Häuserkampf in Stalingrad

Im Juli und August blieben die Deutschen weiter in Offensive. In der Weisung Nummer 45 für die Fortsetzung der „Operation Braunschweig" verfügte Hitler am 23. Juli die gleichzeitige exzentrische Operation gegen Stalingrad und gegen den Kaukasus. Die 1. deutsche Panzerarmee stieß tief in Richtung Maikop vor, die 6. deutsche Armee zerschlug im Raum Kaiatsch Teile zweier neuer sowjetischer Armeen. Sie formierte sich nunmehr für den Angriff auf Stalingrad. Am 23. August erreichten die ersten Trappen der 6. deutschen Armee - befehligt von Generaloberst Friedrich Paulus - die westlichen Vorstädte der Wolgastadt. Ein zäher Häuserkampf begann.

Stalin erkannte die strategische Lage beziehungsweise Wichtigkeit der Wolga-Linie. Die sowjetischen Trappen - vier Heeresgruppen! - bekamen ständig Verstärkung und zählten im September 1942 bereits mehr als eine Million Rotarmisten, 900 Panzer, 13.000 Geschütze; mehr als 1.000 Flugzeuge leisteten den Deutschen samt Verbündeten Widerstand.

Mitte Oktober 1942 hatte Paulus beinahe ganz Stalingrad in seinen Händen. Lediglich am Westufer der Stadt standen noch Rotarmisten, die gemeinsam mit den Arbeitern von Stalingrad verbissen jeden Meter Boden verteidigten. Hitler hatte weitgehende Pläne mit General Paulus. Wenn er gänzlich Herr über Stalingrad war,

sollte er Stabschef einer deutsch-rumänischen Heeresgruppe werden. Den Oberbefehl wollte der Führer Marschall Jon Antonescu anbieten. Paulus, der mit einer vornehmen Rumänin verheiratet war, sollte eigentlich anstelle des rumänischen Conducatorul (Führer) die Heeresgruppe (bestehend aus zwei deutschen und zwei rumänischen Armeen) führen. Es kam aber anders.

Im September 1942 sah Stalin endlich ein, daß Moskau nicht Ziel einer deutschen Großoffensive ist. In Windeseile und unter größter Geheimhaltung wurde nun die Rote Armee umgruppiert. Mit Hilfe westlicher Kriegs-lieferangen (vor allem kamen Stalin Zehntausende von LKWs und PKWs zugute) konnte die Umgruppierung zum mittleren und unteren Don und hinter der Wolga durchgeführt werden. Der Widerstand der Sowjets versteifte sich. Im Kaukasus kam Mitte Oktober 1942 die deutsche Offensive zum Stillstand.

„Kein Schritt zurück ohne Befehl von oben!" Stalins apodiktischer Befehl Nummer 227 an die Trappe vom September 1942 war eine der Grandlagen für das starre Aushalten der Roten Armee zu dieser Zeit. Die andere: deutsche und verbündete Truppen zeigten im Oktober Ermüdungserscheinungen. Stalins Generalstab hatte bereits vorgeplant: man wollte die Deutschen in Stalingrad festnageln, nördlich und südlich davon die Reihen der zu Recht für schwächer gehaltenen Verbündeten durchbrechen und Paulus' Truppen in der Wolgastadt mit einer kühnen Operation einkesseln.

„Endgültige Besitznahme der Stadt mit vorhandenen Kräften infolge starker Ausfälle nicht möglich. Armee bittet um Stoßtrupps und Straßen-kampfspezialisten." So lautete ein Funksprach General Paulus' vom 8. September 1942 an das Oberkommando. Es traf aber kein Ersatz ein. Der Angriff mit eigenen Kräften „versande", so meldete am 20. September 1942 das Oberkommando der 6. deutschen Armee dem OK.

Das war das Ende der deutschen Offensive in Stalingrad.

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