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„Verräter der Sowjetunion”

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Am 1. März 1944 meldete der stellvertretende Kommissar für Justiz der Autonomen Republik der Tschetschenen und Inguschen, Malsagow, an Chruschtschow, den damals höchsten Chef der Ukraine und Mitglied des Po-' litbüros der KPdSU: „Ich berichte über die Ergebnisse der Operation zur Umsiedlung von Tschetschenen und Inguschen ... Bis zum 29. Februar wurden 478.479 Personen ... ausgesiedelt. Es wurden 180 Züge beladen, von denen 159 Züge bereits zum neuen Siedlungsort abgefahren sind '... Die Operation ist planmäßig verlaufen, ohne nennenswerten Widerstand und andere Vorfälle ... Die Leitung der Partei- und Staatsorgane Nordos-setiens, Dagestans und Georgiens haben bereits mit der Arbeit zur Nutzung der neuen Bayons begonnen, die diesen Bepubliken zugefallen sind.” (Die Autonome Republik wurde auf ihre Nachbarn aufgeteilt und erst 1957 wieder - unvollständig - hergestellt.)

Eine Woche später berichtete Geheimdienstchef ßerija an Stalin, daß an der Operation rund 120.000 Mitarbeiter des NKWD teilgenommen hätten, die schon „an Operationen zur Aussiedlung der Karatschaier und Kalmücken beteiligt” gewesen waren.

1956 war Stalin schon drei Jahre tot und Chruschtschow begann, an seinem Nimbus zu kratzen. Dabei kamen auch die Umstände der „Umsiedlung” der nordkaukasischen Völker zur Untersuchung. Ein Augenzeuge berichtete:

„Transportmittel zur Beförderung

Geheimes offenbar

macht Michael Voslensky („Nomenklatura” und „Sterbliche Götter”) in seinem neuen, abschließenden Buch über das Sowjetsystem.

der Kinder, Kranken und Greise über die Berge gab es nicht ... Die Einwohner mußten zwei bis drei Tage lang zu Fuß das Gebirge auf verschneiten Bergpfaden überqueren ... Die Vertreter des NKWD erklärten, alle Kranken und Greise müßten zur medizinischen Behandlung und zum Transport in den im Flachland gelegenen Rayons zurückbleiben. Nach den Aussagen von Augenzeugen wurde eine beträchtliche Anzahl von Bürgern, in der Hauptsache Frauen mit Kindern, Schwangere, Kranke und Greise, aus der allgemeinen Kolonne ausgesondert.

Nachdem die Umsiedler fortgeschafft waren, führten Soldaten die zurückgebliebenen Einwohner in eine große Kolchosscheune und zündeten diese an. Auf die darin befindlichen Menschen eröffneten sie das Feuer aus Maschinenpistolen und Maschinengewehren ... Die Leute in der Scheune verbrannten, die Scheune stürzte über den Leichen zusammen ...” Das berichteten zwei Funktionäre der Mi-

litärstaatsanwaltschaft am 31. Oktober 1956 an das Zentralkomitee.

Verantwortlich für die Durchführung der „Operation” war der NKWD-General Iwan A. Serow, der bei seinen Mitarbeitern den Spitznamen „Iwan der Schreckliche” führte und für seine Verdienste im Frühjahr 1944 für „vorbildliche Pflichterfüllung” mit dem Suworow-Orden erster Klasse ausgezeichnet wurde. Er hielt seinen Chef Berija über alle Einzelheiten der Aktion auf dem Laufenden.

Im Oktober 1946 zog die Abteilung Sonderumsiedlungen des NKWD Bilanz: „Es wurden insgesamt 2,463.940 Personen umgesiedelt, davon waren 655.674 Männer, 829.084 Frauen und 979.182 Kinder unter 16 Jahren.” Allein aus dem Gebiet der Tschetschenen und Inguschen waren 192.000 Kinder, 111.000 Frauen und 97.500 Männer vom NKWD verschleppt worden.

Alle diese Berichte wurden als strengstens geheim behandelt. Erst nach dem Untergang der KP-Systems und dem Zerfall der Sowjetunion kamen sie ans Licht der historischen Forschung.

Michael S. Voslensky, Jahrgang 1920, nahm als junger Dolmetscher am Nürnberger Prozeß teil, habilitierte sich als Historiker, war seit 1955 Mitglied der Akademie der Wissenschaften der Sowjetunion und hatte engen Kontakt zu den Führungsgremien der KPdSU. 1972 ging er in den Westen, lebt heute in Bonn und gilt als einer der besten Kenner der innersowjetischen Verhältnisse. Im dritten Teil seines Werkes über die sowjetische „Nomenklatura” legt er nun diese bisher streng geheimen Dokumente vor.

Was hatten die Tschetschenen - als Volk - verbrochen, daß sie von Stalin und seinen Schergen mit so viel Haß verfolgt wurden? Die offizielle Begründung lautete, die beiden Völker (und andere auch) hätten während der deutschen Besetzung die Sowjetunion verraten und wären auf die Seite der Deutschen übergewechselt.

Im August 1943 waren deutsche Gebirgsdivisionen bis zum Hochkaukasus vorgestoßen. Hierbei war sogar - in einer mehr sportlichen als militärischen Aktion - auf dem Elbrus die Reichskriegsflagge gehißt worden. Der Stoß nach Georgien und zu den Ölfeldern in Aserbeidschan war jedoch nicht möglich. Als dann die Lage in Stalingrad kritisch wurde, zogen sich die Truppen im Jänner 1944 wieder aus dem Kaukasus zurück. Und schon am 20. Februar gab Berija den Auftrag zur Umsiedlung der Nordkaukasus-Völker.

In diesen vier Monaten verhielten sich die moslemischen Einwohner dieser Gebiete den deutschen Soldaten gegenüber kühl distanziert, wogegen die zugewanderten Russen gute Miene zum bösen Spiel machten und sich den Besatzern fügten.

Anders verhielt es sich mit den Kaukasiern unter den sowjetischen Gefangenen. Zunächst galten sie alle nach Hitlers Diktion als „Untermenschen”. Erst im Dezember 1942 erklärte er, er halte die moslemischen Turkvölker der Sowjetunion für die „einzig zuverlässigen” wegen ihres unbändigen Hasses gegen Bolschewiken und Russen.

Als schon Hunderttausende aus diesen Völkern an Hunger, Krankheiten und Mißhandlungen gestorben waren, wurden Sonderlager für Angehörige der Minderheitenvölker eingerichtet und begonnen, hier Freiwillige für den Kampf gegen den Bolschewismus zu werben. Im Oktober 1944 standen über 100.000 Mann aus den Kaukasusrepubliken in Verbänden der Deutschen Wehrmacht, davon 13.000 Nordkaukasier (wobei zwischen Tschetschenen, Inguschen, Karatschaiern, Balkaren, Kalmücken

nicht unterschieden wurde). Während die Mehrzahl der Freiwilligen vor allem den unerträglichen Zuständen in den Gefangenenlagern entkommen wollte, sahen ihre Sprecher in der Teilnahme am „Abwehrkampf gegen den Bolschewismus” die Voraussetzung zur Erlangung der staatlichen Unabhängigkeit. Aber erst, als schon alles verloren war, anerkannte die Reichsregierung die verschiedenen Nationalkomitees als bevollmächtigte Exilregierungen ihrer Völker. Das genügte Stalin, um auch

Frauen und Kinder aus ihrer Heimat zu vertreiben.

Aber Stalin war auch schon vor dem Krieg nicht zimperlich gewesen, wenn es galt, „Feinde” auszuschalten. Voslensky fragt: „Wie viele Menschen wurden in Lager und Zuchthäuser verbannt oder von Stalins Sicherheitsorganen umgebracht? Dreimal wurden offizielle Zahlen veröffentlicht - und jedesmal unterschiedliche.” Nach den Angaben des Archivars des Ministeriums für Staatssicherheit Rußlands, General Krajusch-kin, wären zwischen 1917 und 1990 3,853.900 Menschen wegen „konterrevolutionärer” Verbrechen verurteilt worden, davon 828.000 zum Tod durch Erschießen. Zahlen, die Voslensky noch zu gering erscheinen. Und wer nicht gleich erschossen wurde, hatte wenig Aussicht, im Lager zu überleben: „Die Zahl der im Lager umgekommenen überstieg die Zahl der Erschossenen um das Zehnfache.”

„Es bleibt zu hoffen”, meint Voslensky, „daß wir irgendwann einmal erfahren, wie viele Opfer die Diktatur der Nomenklatura tatsächlich gefordert hat. Auf jeden Fall wird diese Zahl viele Dutzende von Millionen betragen. Allein in der Ukraine ließ Stalin in den Jahren der Kollektivierung etwa sechs Millionen Bauern absichtlich verhungern.” Am 30. Juli 1937 gab Nikolai I. Je-schow, Stalins NKWD-Chef, den streng geheimen Befehl aus, „die ganze Bande antisowjetischer Elemente” - Kulaken, „Weiße”, „Repatrianten”, „Kader früherer aktiver Teilnehmer verbrecherischer Aufstände” - „unbarmherzig zu zerschlagen”. Am 5. August sollte mit der „Operation zur Repression” begonnen werden, in deren Verlauf innerhalb von vier Monaten 76.000 Menschen ohne Gerichtsverfahren erschossen und etwa 9.000 weniger gefährliche für acht bis zehn Jahre in Lager verbannt werden sollten.

Die Funktionäre in den einzelnen Republiken und Gebieten wollten dem nicht nachstehen und beantragten eine Aufstockung ihrer „Kontingente” zu bestrafender „antisowjetischer Elemente”. Voslensky schätzt, daß 140.000 Menschen während der Tschistka erschossen wurden - auch Jeschow selbst fiel ihr schließlich zum Opfer.

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