Nach dem ABGRUND

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Viele Geschichten ranken sich um das Kriegsende. Viele davon sind nur Legenden - manche zu furchtbar, andere zu schön.

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Viele Geschichten ranken sich um das Kriegsende. Viele davon sind nur Legenden - manche zu furchtbar, andere zu schön.

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"Mein Gott, als Menschen gesehen, sind sie ja auch keine anderen Leute als wir und unsere eigenen Leute, was haben unsere denn alles in Polen und überall aufgeführt ...!" Eine alte Frau in Ottenschlag/Waldviertel erinnert sich daran, was sie 1945 über die anrückenden Russen dachte, und welche Furcht sie vor deren Rache hatte.

Denn die Verbrechen von Wehrmachtsund SS-Angehörigen, vor allem im Rahmen des sogenannten "Kommissarbefehls", der vorsah, sowjetische Polit-Funktionäre sofort zu töten, oder bei der Liquidierung ganzer Dörfer als Vergeltung für Partisanenangriffe, waren ihr durchaus auch schon während des Krieges bekannt. "Ich kann mich erinnern, mein Mann hat mir Sachen erzählt ... Jesus Maria, er hat gesagt: 'Ich darf dir das nicht erzählen, das erträgst du gar nicht' - Ich war starr vor Schreck."

Nur eines von hunderten Interviews, die Mitarbeiter der "Österreichischen Mediathek" über die Zeit von 1945 bis 55 gesammelt haben. Und persönliche Erinnerungen unserer älteren Angehörigen sind es auch, die bis heute das österreichische kollektive Gedächtnis mit Geschichten - erzählt oder niedergeschrieben - von Kriegsende und Besatzungszeit speisen; nicht immer ganz präzise und den Tatsachen entsprechend, aber fast immer aussagekräftig.

Nackte Angst und Propaganda

Am 29. April 1945 betreten sowjetische Truppen der "Dritten Ukrainischen Front" im Burgenland bei Klostermarienberg österreichischen Boden. Das Kräfteverhältnis der heranrückenden Roten Armee zu den Verteidigern des nahen Wien ist circa 10:1 zugunsten der Sowjets. Wie auch anderswo ist Hitlers Befehl ausgegeben worden, die Stadt um jeden Preis zu halten. Generäle kommen und vor allem gehen sie auch schnell wieder, der Oberbefehl wechselt rasch, der Wiener Gauleiter Schirach verzieht sich in seinen Bunker im Wienerwald, um mit seinem Stab in einer Art Weltuntergangsstimmung die letzten Reserven an Luxus-Lebensmitteln zu konsumieren. Als sich das allenthalben herumspricht, wirft so mancher "Volkssturmmann" still und heimlich sein Gewehr hin, und bringt sich in Sicherheit.

Die Verteidigung der Stadt liegt nun unter anderem in den Händen von jungen Männern wie Ralf Roland Ringler aus Baden bei Wien. 24 Jahre ist er alt, und soll mit seinem "HJ-Volkssturm", dem letzten Aufgebot von Kindern, die Russen aufhalten - eine Chimäre, jedoch ist die Entschlossenheit zum Kampf groß, erinnert sich Ringler später in seinem Buch "Illusion einer Jugend".

"Die Bolschewiken sind für uns noch immer der Inbegriff des Schreckens ,des Terrors, der Unfreiheit, des Blutbades und der Grausamkeit. Die Bolschewiken in Europa, das klingt wie die Mongolen in Deutschland, die Türken vor Wien oder die Hunnen im Abendland." Die Perspektive, ausgerechnet von den Sowjets befreit zu werden schien auch objektiv gesehen nicht gerade rosig.

Denn mochten die Nazi-Parolen gegen den Bolschewismus Propaganda sein, so war es - wie der deutsche Historiker Werner Maser anmerkte - keine deutsche Propagandalüge, dass Soldaten der Roten Armee zum Beispiel am 20. Oktober 1944 im ostpreußischen Nemmersdorf Kinder, junge Mädchen und Frauen jeden Alters vergewaltigten, ihnen die Brüste abschnitten und mit ausgebreiteten Armen nackt an Scheunentore nagelten. Mindestens ebenso grausam würden wenig später tschechische Milizen gegen die Deutschen Böhmens und Mährens vorgehen.

Das Bild des mordenden Russen

Sie folgten dem Postulat des kommunistischen Polit-Predigers Ilja Ehrenburg, der 1942 in der "Krasnaja Swesda" geschrieben hatte: "Die Deutschen sind keine Menschen. Von nun an ist das Wort 'Deutscher' für uns wie ein entsetzlicher Fluch. ... Töte den Deutschen! schreit die Heimaterde. Ziel nicht vorbei. Triff nicht daneben. Töte!" Dieses Dokument festigte noch zusätzlich das Bild von den mordenden und vergewaltigenden "Bestien aus dem Osten".

Der spätere Dissident Lew Kopelew, der selbst an Gräueln beteiligt war, schrieb 1976 in seinem Buch "Aufbewahren für alle Zeit": "... Wir alle ... Generäle und Offiziere verhalten uns nach Ehrenburgs Rezept 'Tötet, tötet' nehmt die deutschen Frauen, eure Beute ... Welche Rache lehren wir: deutsche Weiber aufs Kreuz legen ... und stell dir vor, was wird später aus unseren Soldaten, die zu Dutzenden über eine Frau herfielen? Die Schulmädchen vergewaltigten, alte Frauen ermordeten? ... Das sind Hunderttausende von Verbrechern, grausame und dreiste mit den Ansprüchen von Helden ... So vollzog sich die Rache für die deutsche Invasion und die blutigen Gräuel, die die Bevölkerung der Sowjetunion zuvor zu dulden gehabt hatte, in furchtbarer Weise an Frauen und Kindern." In dieser Art handelten nur Teile der Sowjetarmee, sicher nicht die Mehrheit, aber wer sollte sich vor so etwas nicht fürchten? Wie bei den Nazis fing auch bei den Sowjets der Fisch am Kopf zu stinken an.

Als Milovan Djilas, damals Verbindungsmann des jugoslawischen Kommunistenführers Tito in Moskau, Stalin auf besagte Zustände ansprach, meinte dieser nur lakonisch: "Sie haben sich die Rote Armee ideal vorgestellt. Und sie ist nicht ideal und kann es auch nicht sein, selbst wenn sie nicht einen gewissen Prozentsatz von Verbrechern enthielte ... wir haben die Tore unserer Strafanstalten aufgemacht und alle in die Armee gesteckt. Die Rote Armee ist nicht ideal. Wichtig ist, dass sie die Deutschen bekämpft, und sie kämpft gut, alles andere spielt keine Rolle." Dass die meisten Österreicher (so sie nicht fanatische Nazis waren) zwar mittlerweile die Nase von Hitler und seiner Bande voll hatten, aber andererseits eine derartige Form der Befreiung nicht gerade herbeisehnten, lag auf der Hand. Die Menschen hatten - egal wo sie politisch standen - vor allem eines: Angst.

Überraschungen und Fehlerinnerungen

Für viele überraschend, dauerte die Schlacht um Wien nicht wie befürchtet Wochen, sondern der Kampf ums Stadtgebiet war am 13. April vorbei, und damit auch Krieg und Nationalsozialismus zu Ende gebracht. Nach den letzten Gräueltaten der SS an "Deserteuren" und "Verschwörern", regierte jetzt -außer bei den wenigen österreichischen Kommunisten -vorwiegend Skepsis gegenüber der Roten Armee. Doch da war ja die "Moskauer Deklaration" von 1943, die Grundlage für die bessere Behandlung und Unabhängigkeit Österreichs, die die Nazis selbst einst in ihrem Blatt, dem "Völkischen Beobachter" - mit hämischen Bemerkungen versehen - unters Volk gebracht hatten ! So erfüllte sich nun ,"that Austria, the first free country to fall a victim to Hitlerite aggression, shall be liberated from German domination."

Trotz Übergriffen, Vergewaltigungen und Verschleppungen durch Rotarmisten blieben die ultimativen Gräuel aus, und das Verhältnis zu den vier alliierten Besatzungsmächten wurde vielfach geradezu freundschaftlich, analysiert Rolf M. Urrisk- Obertynski, der Herausgeber des jüngst erschienenen Buches "Die vier Alliierten 1945-1955" aus der Reihe "Wien 2000 Jahre Garnisonsstadt"(Weishaupt Verlag Wien) im Gespräch: "Neben der Befreiung vom Nationalsozialismus, war das Verdienst der Russen vor allem, dass sie sofort die Brücken über die Donau wieder aufgebaut, und die Stadt versorgt haben" .

Die Legende von den Vier im Jeep

Mochten die legendären russischen Erbsen auch oft sechs Beine gehabt haben, so aßen die sowjetischen Besatzungssoldaten vorerst selbst nichts Besseres. Die US-Amerikaner wiederum gingen vor allem durch den Marshall-Plan, und die Care-Aktionen ins kollektive Gedächtnis ein, die Briten durch ihre großzügige Pflege und Betreuung österreichischer Kinder, und die Franzosen als Förderer von Bibliotheken und anderen kulturellen Einrichtungen, fasst Urrisk-Obertynski zusammen, der unzählige Erinnerungen von Zeitzeugen gesammelt hat. Auch Fehler haben sich in beliebte historische Legenden eingeschlichen: "Die 'Vier im Jeep'", also die weltweit einzigartige gemeinsame Militärpatrouille der Westalliierten und der Sowjets, die durch den gleichnamigen Spielfilm zum Synonym der Besatzungszeit in Wien und Österreich wurden, hat es so nur ein halbes Jahr gegeben. Urrisk-Obertynski: "Der Jeep war ja viel zu klein für vier Personen, und wurde bald durch einen Dodge ersetzt, und der wiederum durch einen Chevrolet. Auch die Russen haben ein eigenes Modell eingesetzt."

Es flatterten auch keine vier Fähnchen auf den Kühlerhauben - dem Fahrer wäre die Sicht genommen worden. Warum der so geschmückte Jeep trotzdem in mancher historischer Schau zu sehen ist?"Für ein Erinnerungsbild hat man einfach einen Tischständer aus der Kommandantur auf den Kühler gestellt." So existiert kein Originalfoto des beflaggten Jeeps in Fahrt - nur die "Erinnerung" an eine vermeintliche Tatsache.

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