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Der 20. Juli 1944 in Wien

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Um den Ablauf des 20. Juli 1944 in Wien richtig verstehen zu können, ist es notwendig, die militärisch-politische Lage knapp vor diesem Schicksalsdatum, und zwar im ganzen Bereich der europäischen Kriegsschauplätze, zu skizzieren. Abgesehen von der katastrophalen Lage im Westen, wo unmittelbar nach der Landung der Alliierten schon nach sechs Tagen 326.000 Mann eingesetzt waren und die alliierten Truppen darauf ansetzten, den berühmten Durchstoß von Avranches vorzubereiten, war auch die Lage im Osten, Südosten und Süden hoffnungslos. Im äußersten Norden der Ostfront, hatte am 19. April die finnische Krise begonnen. Die finnische Regierung war nicht mehr länger gewillt, an der Seite des deutschen „Waffenbruders“ zu kämpfen und Geheimverhandlungen zwischen Finnland und der Sowjetunion führten zu ersten Kontakten, die allerdings noch keinen Abschluß eines Friedens brachten. Am 9. Juni begann die Offensive gegen die Karelische Landenge, am 21. Juni versuchte Ribbentrop durch dramatische Verhandlungen und eine sehr spärliche Waffenhilfe, Finnland weiterhin an der Seite Deutschlands zu halten. Trotzdem die Front zum Stehen kam, konnte sie dem russischen Druck auf die Dauer nicht standhalten und sechs Tage nach dem 20. Juli 1944 ging Narva verloren. Am 1. August übernahm Feldmarschall Mannerheim das Amt des Reichspräsidenten, und damit wurde die Kapitulation Finnlands eingeleitet.

Ein Loch in der Front

An der eigentlichen Ostfront, sowohl im Nord- als auch im Südflügel, ging der Verlust der Krim, die seit dem November 1943 abgeriegelt gewesen war, der späteren Entwicklung voraus. Die 17. Armee, ein Heereskörper, der sich gerade aus dem Wehrkreis XVII (Wien, Niederösterreich usw.) rekrutierte, wurde dort vor allem auf Wunsch des rumänischen Staatsführers Antonescu belassen und erlitt bei der teilweise geglückten Rückführung schwerste Verluste. Alle Vorstellungen der Generalität, den unglücklichen Frontverlauf in Rußland zu begradigen und damit auf eine günstige Verteidigungsposition zurückzugehen, hat Hitler 1943 und 1944 immer wieder zurückgewiesen. Als die russische Offensive am 23. Juni 1944 begann, gab es weder genügend Luftstreitkräfte, die an der Invasionsfront gebunden waren, noch waren speziell im Bereich der Heeresgruppe Mitte die natürlichen Hindernisse der Pripjet-Sümpfe in richtiger Form in die Verteidigung eingebaut.

Die Russen vor Ostpreußen

Hitler hatte jedoch fest darauf bestanden, den Bogen von Minsk nicht abzukürzen und die Front glich einem stark gespannten Draht, der jederzeit bei einem kräftigen Schlag zerreißen konnte. Als die Russen ausgerechnet die empfindlichsten Stellen richtig erfaßten, wurde ein Riesenloch aufgerissen und am 2. Juli stand die Rote Armee vor Minsk, am 13. Juli vor Wilna und am 18. bereits vor den Toren Ostpreußens. Eine ungeheuerliche Erregung bemächtigte sich der deutschen Ostprovinzen, um deren angebliche Verteidigung gegen Polen Hitler den unseligen Entschluß zum Krieg gefaßt hatte. Entgegen allen Warnungen der Generalstabsoffiziere, vor allem der Sachbearbeiter unter Generalmajor Gehlen, in der Abteilung „Fremde Heere — Ost“ des Generalstabes des Heeres, wollte Hitler die Stärke der Roten Armee nicht glauben und verlegte unmittelbar während der Katastrophe der Heeresgruppe Mitte noch sein Hauptquartier nach Rastenburg, um damit das bedrohte Ostpreußen zu retten.

Rumänien und Ungarn sind kriegsmüde

Auch am Südflügel waren die Verhältnisse nicht besser. Schon im Februar hatten die Russen den Bug und im April den Sereth erreicht. Sie standen in Galizien auf altösterreichischem Boden, holten sich das 1941 verlorene Bessarabien und drangen an die Moldau vor. Damit wurde aber die Standfestigkeit Rumäniens militärisch und politisch in Frage gestellt — ein Problem, das sehr eng mit einem anderen

Satelliten, nämlich Ungarn, zusammenhing. Die ungarischen Versuche, schon 1942/1943 aus dem deutschen Bündnis auszusteigen, waren nicht unbekannt geblieben und am 19. März war unter Druck nach einer Unterredung Hitlers in Schloß Kleßheim bei Salzburg der Reichsverweser von Horthy gezwungen worden, die Regierung nach den Wünschen Deutschlands umzubilden, um die Kriegsanstrengungen an deutscher Seite zu verstärken. Fiel aber nun Rumänien, dessen Bereitschaft im Kampf gegen die Sowjetunion bedingt war, durch die bessarabische Hypothek, so mußte sehr bald auch Ungarn zu den unsicheren Verbündeten gezählt werden, da es den deutschen Nachrichtendienststellen nicht verborgen blieb, welche Versprechungen die Alliierten Rumänien für eine Frontschwenkung gemacht hatten. Das unheilvolle Erbe der Wiener Schiedssprüche brach auf. Hitlers blinder Glaube an Marschall Antonescu und sein Regime, sein vollkommenes Unverständnis für Probleme des Donauraums, waren die Grundlage für die Fehlbeurteilung in den Juni- und Juliwochen des Jahres 1944. Dazu muß allerdings angeführt werden, daß, wie aus den bisherigen Veröffentlichungen von verschiedensten Seiten zu ersehen ist, vor allem von den deutschen Diplomaten und dem Nachrichtendienst, richtige Lagebeurteilungen geliefert wurden, die Hitler ebenso negierte, wie er nicht gewillt war, die Realität auf dem entscheidenden Kriegsschauplatz, dem Landekopf in der Normandie zur Kenntnis zu nehmen. Selbst die Meldung, daß am 17. Juli Feldmarschall Rommel durch den Angriff eines Jagdbombers schwerstens verwundet wurde, überzeugte Hitler noch nicht von der Krise, die heraufkam und auch mehr und mehr militärisch die eigentlichen Reichsgebiete und damit den Wehrkreis XVII, das östliche Gebiet des heutigen Österreich, zu bedrohen begann. Im Südosten war das Halten der weiten deutschen Stellungen von Griechenland bis auf den Balkan nur hinausgeschoben worden. Nach dem 20. Juli konnte sich Hitler endlich zu einer Entscheidung auf diesem Abschnitt entschließen und es blieb das Verdienst des aus dem österreichischen Bundesheer hervorgegangenen Generaloberst Lohr, die Rückzugsbewegungen so weit als möglich durchzuführen, ohne daß diese Leistung jemals entsprechend gewürdigt wurde.

Italien — riskantes Experimentierfeld

Merkwürdigerweise war für Hitler der italienische Kriegsschauplatz, vor allem unter Hinblick auf die steigende Luftaktivität der Anglo-Amerikaner gegenüber Rumänien, Ungarn und Österreich eine Art Nebenfront, die allerdings nur durch das Geschick des Feldmarschalls Kesselring trotz der Räumung Roms (4. Juni) und des Haltens der Apennin-Stellung stabilisiert werden konnte. Eine Stabilisierung, die Hitler nur unter dem Gesichtspunkt der Einflußmöglichkeiten der Schattenregierung Mussolinis, der vom Garda-see aus nicht vorhandene Divisionen und Einheiten kommandierte, als politischer Fehlschluß ersten Ranges beurteilt werden kann. An der Italienfront sollte sich aber durch das kluge politische Spiel des Botschafters Rahn und des ihm zugeteilten höchsten SS- und Polizeiführers Wolff der Ansatz zu den ersten Friedensgesprächen mit den West-Alliierten ergeben. So schlössen sich zangenförmig vom Norden, Osten und Süden um das ehemalige Staatsgebiet der Donaumonarchie die Klammern der vorrückenden Roten Armee, der Einheiten der jugoslawischen Befreiungsarmee, der aus dem Süden vordringenden anglo-amerikanischen Streitkräfte in Italien. Die Gebiete der Wehrkreise der sogenannten Alpen-und Donaureichsgaue, bisher geruhsame Retablierungs- und Ausbildungsräume der deutschen Wehrmacht, kaum von Luftangriffen belästigt, konnten über Nacht Kriegsschauolätze oder Zumindestens rückwärtige Frontgebiete werden.

Ebenso wie in Ostpreußen, im Wartheland, im sogenannten Generalgouvernement, waren sich die politischen und militärischen Funktionäre in diesen Gebieten über den Ernst der Lage nicht im klaren. Hitlers Geheimhaltungsbefehle, die Aufsplitterung der Macht im Inneren zwischen Wehrmacht, Partei und SS, die gelenkte Nachrichtenpolitik und der allgemeine Optimismus über den angeblich guten Verlauf der Invasionsschlacht konnten bei breiten Schichten der Bevölkerung, des Offizierskorps und der Beamtenschaft noch nicht den Ernst der Lage erahnen lassen. Nach außen hin schienen Wien und seine Umgebung, das Protektorat Böhmen und Mähren, ja selbst Ungarn, eine Oase des Friedens zu sein. Ordnungsgemäß lief die Ausbildung der Truppen in der Heimat, ebenso die Kriegsproduktion, wenn auch vereinzelte Störangriffe anglo-amerikanischer Bomber auf Wiener Neustadt, auf Schwechat und auf die rumänischen Ölgebiete anzeigten, daß nunmehr der „Luftschutzkeller des Dritten Reiches“, wie man gerne im sogenannten „Alt-Reich“ die „Alpen-und Donau-Reichsgaue“ bezeichnete, keineswegs mehr die Sicherheit geruhsamer Sommerfrischen für zahlreiche hierher verlagerte Stäbe, Organisationen und Kommando stellen verbürgte.

Die Kräfteverhältnisse im Wehrkreis XVII

Um die Vorgänge des 20. Juli 1944 richtig zu erfassen, ist es auch notwendig, die Stärke der Truppen der deutschen Wehrmacht und ihre Verteilung im Wehrkreis XVII so weit als möglich für dieses Datum zu rekonstruieren. Nach der Angabe des Stabschefs des Wehrkreises XVII, Oberst des Generalstabes K o d r e — eines Offiziers, der aus dem österreichischen Bundesheer hervorgegangen und mit den Männern des 20. Juli unmittelbar in keiner Verbindung gestanden war —, ergibt sich folgendes Bild: der Wehrkreis XVII umfaßte nicht nur Wien, Niederösterreich und Oberösterreich, sondern auch das nördliche Burgenland, vermehrt um Teile Böhmens und Mährens, die 1938 zum Gau Niederdonau geschlagen wurden.

Unbekannte Stärke der SS

Die Sicherheitszone dieses Wehrkreises erstreckte sich auf die Slowakei, auf Einheiten im sogenannten Protektorat, bis Olmütz, Wischau, Kremsier, Brünn und in das wichtige Industriezentrum Wittkowitz. Weitere Truppen, die dem kommandierenden General im Wehrkreis XVII, General Schubert, unterstanden, waren in Kroatien, Slawonien und anderen Gebieten zur Partisanenbekämpfung eingesetzt. Divisionsweise gab es richtige Ersatzdivisionen in Linz, in Wien, Panzerabteilungen in den gleichen Räumen, verschiedene Ersatzeinheiten und Landesschützeneinheiten zu Sicherungsaufgaben, im ganzen gesehen keine aktiven Truppen, die für die Front oder für einen Einsatz im Inneren ins Gewicht fallen hätte können. Bezeichnend ist auch, daß Oberst Kodre berichtet, wie gering die Kontakte zur territorialen Organisation im Luftkreis XVII, der analogen Gliederung der Luftwaffe im gleichen Gebiet waren, deren Stärke dem Heer teilweise unbekannt war. Entscheidend für eine mögliche Auseinandersetzung im Inneren, waren die Einheiten der SS, deren Stärke den Dienststellen des Heeres ebenfalls unbekannt war. Wohl befand sich in der Fasangartenkaserne in Wien eine Führerschule der SS zur Heranbildung von Technikern; SS-Trucpenteile unbekannter Stärke lagen in Linz, Klagenfurt und in Mauthausen. Aber es gab keinerlei engen Kontakt zwischen dem höheren SS- und Polizeiführer im Wehrkreis XVII, Querner, und den zuständigen Offizieren des Wehrkreiskommandos XVII. Nach den vorliegenden Aussagen schien von den Wiener Truppenteilen das sogenannte „Wachtbataillon“ für einen Einsatzfall am geeignetsten zu sein, eine Truppe, die stark von Österreichern durchsetzt war und aus deren Reihen ebenso wie aus dem „Streifendienst“ eine Anzahl von Offizieren hervorging, die im Verlauf der späteren Ereignisse im April 1945 noch eine Rolle spielen sollten. Zahlreiche Alarmierungen, Probeübungen und Inspektionen sowie Auskämmungsaktionen scheinen unmittelbar vor dem 20. Juli 1944 stattgefunden zu haben und dürften auf die Planung Stauffenbergs für den „Fall Walküre“ zurückgehen, ohne daß man im Wehrkreiskommando XVII die eigentliche Absicht merkte.

Der Einfluß der Partei muß gestärkt werden

Nicht uninteressant ist die Tatsache, daß von Seiten der Parteiführung der Durchdringung der Wehrmachtseinheiten mit nationalsozialistischem Gedankengut auch im Wehrkreis XVII besondere Aufmerksamkeit zugewendet wurde. Die Einführung der sogenannten „nationalsozialistischen Führungsoffiziere“ stieß bekanntlich 1943/44 auf allgemeinen Widerstand und konnte erst allmählich durch Schaffung von Planposten, die man entsprechend besetzte, durchgesetzt werden. Für den Wehrkreis XVII griff man diesbezüglich auf einen scheinbar bewährten alten Nationalsozialisten zurück und fand ihn in dem ehemaligen obersten Führer der SA in Österreich und früheren Bundesrat der Anrilwahlen 1932, SA-Obergruppenführer Hermann R e s c h n y. Hermann Reschny, der, wie wir aus den Aufzeichnungen Langoths wissen, Hitler einstmals für einen eventuellen Anschluß Österreichs durch einen Vertrag auf die österreichische Selbständigkeit im Rahmen des Dritten Reiches verpflichten wollte, hatte als Führer der Österreichischen Legion nach 1934 nur Undank erlebt und war mit dem mehr repräsentativen Posten eines SA-Führers in Wien abgespeist worden. Als Reserveoffizier sollte er nun innerhalb des „österreichischen“ Wehrkreises XVII wieder eine Rolle spielen und die allmächtige Parteikanzlei glaubte in ihm, zusammen mit dem aus dem NS-Soldatenring hervorgegangenen Stadtkommandanten von Wien, Generalleutnant S i n z i n g e r, der den als konservativ österreichisch bekannten General S t ü m p f 1 abgelöst hatte, einen Garant für die Zuverlässigkeit betrachten zu können. In einem Aktenvermerk der Parteikanzlei vom 14. April 1944 wird nach einer Inspektion durch einen höheren Funktionär dieser allmächtigen Zentralstelle, der Hitler die eigentliche Führung des Dritten Reiches im Innern übertragen hatte, über den Wehrkreis XVII wie folgt berichtet:

„Partei-Kanzlei

Fa - 91/2

Fasz. 4, Blatt 354.

Aktenvermerk

(14. April 1944.)

(Stellvertretender Gauleiter ScUarizer teilte Ruder mit, daß die NS-Füh-rungsarbeit im Wehrkreis XVII, Wie, besonders weit gediehen ist.)

Es liege in erster Linie an der hervorragenden Arbeit des als NS-Füh-rungsoffizier eingesetzten SA-Obergruppenführer Reschny. Parteigenosse Reschny findet die volle Unterstützung des Befehlshabers im Wehrkreis, des Generals der Infanterie Schubert, und des Generalstabschefs Oberst Kodri (Ritterkreuzträger). (Probeweise Einführung einer Schulung, zusammen mit der Reichspropagandaleitung, besonders zuverlässiger Soldaten, die bestimmte Parolen durch Mundpropaganda in die Truppe bringen sollen.) Erst nach Vorliegen guter Erfahrungen auf diesem Gebiet der Propaganda soll diese Arbeit auch auf weitere Truppenteile ausgedehnt werden .„

Sowohl im Gau Wien, als auch im Gau Niederdonau, finden regelmäßig Schulungstagungen der Kommandeure und Offiziere in den Parteischulen statt, deren Lehrplan in Zusammenarbeit mit den Gauschulungsämtern bestritten wird...

Über den Stadtkommandanten von Wien, Generalleutnant Sinzinger, der Träger des Goldenen Ehrenzeichens der Partei und Ritterkreuzträger ist, sagte Parteigenosse Scharizer, daß die Zusammenarbeit mit Sinzinger sehr gut sei und dieser die Partei in jeder Weise unterstütze. Ob Sinzinger für größere Aufgaben im Rahmen der nationalsozialistischen Führung geeignet ist, konnte noch nicht festgestellt werden, da Sinzinger erst kurze Zeit in Wien ist.

München, den 14. April 1944.

II - RulStei (Ruder)“

Im Vorfeld der Ereignisse des 20. Juli 1944 in Wien lassen sich aktenmäßig, soweit dies die eine Seite, nämlich die Abwehrmaßnahmen des Regimes, betrifft, zunächst keine weiteren Dokumente finden. Die Befehlsautomatik, die Stauffenberg auslöste, traf die Offiziere des Wehrkreises XVII an zwei Kontaktstellen: das Wehrkreiskommando und sein verantwortlicher Chef des Stabes sollten nach dem Befehl vorgehen, ein kleiner Kreis österreichischer Offiziere war bereits eingeweiht und versuchte, ähnlich wie in Paris, einzugreifen.

Wird fortgesetzt

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