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Der Herbstgesang Verlaines...

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30 Jahre ist es her. Die frühen Junitage füllten sich mit atemloser Spannung, Todesangst und offiziellen Beruhigungsreden. Der erste Luftangriff auf das Wiener Stadtgebiet war bereits am 29. Mai über Liesing und Atzgersdorf niedergegangen, seither gab es fast täglich Alarm, aber die Bomben rauschten irgendwo in der Lobau, bei Pottendorf, in Oberdonau (Oberösterreich) oder in Ungarn herunter. Am Horizont standen die gewaltigen Rauchpilze brennender öldepots.

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30 Jahre ist es her. Die frühen Junitage füllten sich mit atemloser Spannung, Todesangst und offiziellen Beruhigungsreden. Der erste Luftangriff auf das Wiener Stadtgebiet war bereits am 29. Mai über Liesing und Atzgersdorf niedergegangen, seither gab es fast täglich Alarm, aber die Bomben rauschten irgendwo in der Lobau, bei Pottendorf, in Oberdonau (Oberösterreich) oder in Ungarn herunter. Am Horizont standen die gewaltigen Rauchpilze brennender öldepots.

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Sonst war 1944 alles wie immer straff organisiert und auf den Endsieg ausgerichtet. , Allerdings, die Hussen schienen noch immer nicht endgültig aufgehalten worden zu sein, ihre Spitzen schoben sich, wenn auch unter hohen Verlusten, gegen Polen und Rumänien vor. Blieb noch der italienische Kriegsschauplatz und die so oft angekündigte Invasion irgendwo im Westen. Nun, wir werden es ihnen schon zeigen, sagten die Nationalsozialisten. Ach, wenn sie nur schon kämen, sagten die anderen.

Sie kamen, spät, aber doch, und

zwar zunächst in Italien. Nach den großen deutschen Abwehrerfolgen am Monte Cassino während der vergangenen Monate, brach die 5. amerikanische Armee Ende Mai gegen Norden durch. (Siehe DIE FURCHE Nr. 38, 22. 9. 1973.) Während der alliierte Oberbefehlshaber im westlichen Mitteimeeraum, General Alexander, zögerte, war der Frontkommandant, General Mark W. Clark, für forsches Draufgehen. Die Deutschen hatten bereits nach furchtbaren Kämpfen Cisterna di Littoria verloren und damit endlich jene Nachschubstraße eingebüßt, welche

die Alliierten aus dem Anzio-brückenkopf einen ganzen Winter lang vergeblich zu erreichen gesucht hatten. Jetzt also war es soweit, vor dem 6. Corps des Generals Clark lagen die paradiesischen Gefilde südlich von Rom im Frühsommerlicht: Campoleone, die Albaner Berge, Frascati und Palestrina. Clark plagte die Eifersucht auf die sagenhafte 8. britische Armee, die neben den Amerikanern langsam aber stetig der Ewigen Stadt zustrebte. Tatsächlich wäre ihm jetzt der massive Vorstoß in den Raum um Valmontone zugefallen, womit er die 2. und letzte

Rückzugsstraße der Deutschen durchschnitten hätte. Doch Clark wünschte das Sternenbanner so bald als möglich vor der Engelsburg aufzupflanzen. Deshalb befahl er dem 6. Corps, sowohl gegen den Rücken der Deutschen als auch gleichzeitig westlich der Albaner Berge gegen die Stadt selbst vorzugehen. Mit dieser Entscheidung hatte er die Widerstandskraft der deutschen Fallschirmjäger und der Panzerdivision Hermann Göring, die den unvermeidlich gewordenen Rückzug der Hitlerarmee schützen sollten, unterschätzt. Die Deutschen deckten

ihre Absetzbewegung bei Valmon-ton erfolgreich ab und hielten drei amerikanische Divisionen an der Straße Anzio — Albano — Rom in blutigen Gefechten auf. Freilich nicht für lange, denn Alexander und Clark waren sich mittlerweile einig geworden. Sie wollten gemeinsam am Tiber stehen, bevor es im Westen losging. Denn auf die psychologische Wirkung der Einnahme Roms für beide Seiten konnte nicht verzichtet werden, der alliierte Vormarsch durfte nicht wieder ins Stocken geraten.

Der deutsche Wehrmachtsbericht meldete noch am 3. Juni große Abwehrerfolge südlich von Rom und in Wien war man einigermaßen überrascht, als bald darauf die etwas gewundene Erklärung von der „offenen Stadt“, mit einer Reihe von Übergabemodalitäten gesendet wurde, um die sich die Amerikaner angeblich nicht oder nur wenig kümmerten. Daher seien noch bei den Tiberbrücken Kämpfe aufgeflammt,

auch Partisanen hätten sich eingemischt und alle, selbstverständlich außer den Deutschen, seien ohne Rücksicht auf die Kulturschätze ringsum vorgegangen. Jedenfalls, am 4. Juni 1944 rollten amerikanische Panzerkolonnen, von der ausgehungerten Bevölkerung enthusiastisch begrüßt, durch die Straßen Roms den Deutschen nach, die sich nordwärts zurückzogen.

Der 5. Juni 1944, ein etwas kühlerer, wolkenbedeckter Tag, ließ Zeit, die Folgen dieser Einnahme zu überdenken, obwohl die deutsche Propaganda schnell darüber hinweg ging.

Im alliierten und im neutralen Lager machte der Fall Roms Schlagzeilen. Aber in Wien raunten sich nur die Regimegegner zu, daß damit die erste Hauptstadt der „Festung Europa“ erledigt und der Papst für deutsche Absichten unerreichbar geworden sei. Jetzt sei das republi-kanische*Italien Mussolinis lediglich ein norditalienisches Anhängsel der Nationalsozialisten und man werde überhaupt erst sehen, wo sich die deutsche Front auf der Appenninen-halbinsel erneut stabilisieren könne. Vielleicht gelänge es nun den Alliierten, ihre enttäuschende Langsamkeit zu überwinden und endlich doch in die Nähe des ehemaligen Österreich zu kommen. Vielleicht würde sie auch über die Adria hinüberspringen und dem Tito die Hand reichen. Mit letztgenannter Überlegung befanden sich die Regimegegner unbewußt in prominenter Gesellschaft, weil Adolf Hitler ebenfalls mit einer solchen Operation rechnete, ja diese Wendung, nachdem Süd- und Mittelitalien einmal verloren waren, nicht mehr so unangenehm wie früher empfand. Konnte er doch dabei auf enormen alliierten Kraftverschleiß und auf Konflikte zwischen den Westmächten und den Sowjets hoffen.

Während all diese Gedanken durch die Köpfe der Menschen geisterten, legte der Himmel nur einen einzigen

Tag Pause zwischen den Hammerschlägen des Schicksals ein. Die Amerikaner sortierten rings um Rom ihre Gefangenen, trennten Österreicher von den Deutschen und stellten es Erstgenannten frei, sich in Jugoslawien den Partisanen anzuschließen. Aber nur wenige machten davon Gebrauch, die meisten wollten lieber in die Lager der USA verschifft und vom Krieg in Ruhe gelassen werden. Auch gab es etliche Nazis, die ausbrechen und der Hitlerarmee nacheilen wollten.

Inzwischen hatten alle deutschen Dienststellen im Raum Calais Kenntnis davon, daß ein alliierter Geheimsender den Herbstgesang Verlaines rezitierte. Die Deutschen kannten den Code, der die große Invasion mit diesem Gedicht der französischen Untergrundorganisation ankündigte. Belgien und Nordfrankreich erfuhren deshalb höchste Alarmbereitschaft, alber, während Rom fiel, geschah am Ärmelkanal gar nichts. Nur die alliierten Bomber zogen Tag und Nacht mit ihrer Verderben bringenden Last über Bahnanlagen und Brücken her. Die deutschen Radarstationen, nämlich Anlagen, die ähnliche Ergebnisse wie das alliierte Radarsystem erzielten, wurden durch diese Angriffe in Nordfrankreich bis auf ein Viertel ihres Bestandes reduziert. Am 5. und 6. Juni war noch gerade so viel von ihnen übrig, um verdächtige Geleitzüge zu registrieren, die augenscheinlich der Kanalküste im Bereich von Boulogne und Ostende zustrebten. Hiebei handelte es sich um ein großangelegtes alliiertes Täuschungsmanöver, das zur Verwirrung des Oberkommandos der Wehrmacht wesentlich beitrug.

Der 5. Juni hüllte noch halb Europa in Wolken und Wind, wenngleich das Wetter wieder sommerlich zu werden versprach. Die starke Dünung des Atlantik veranlaßt die deutsche Seekriegsleitung, ihre Vorpostenboote an der normannischen Küste umkehren zu lassen. Niemand merkte, daß am Meeresgrund vor der Seinemündung bereits zwei britische

Kleinunterseeboote lagen, die in der kommenden Nacht auftauchen und mit ihren Blinklichtern die neuen Schlachtfelder markieren sollten.

Die Abenddämmerung sank über das rauchende Italien, über das angebombte Deutschland, wo Feldmarschall Rommel bei seiner Familie in Herringen rastete, und über die britischen Inseln mit ihrer geheimnisvollen Betriebsamkeit herab. Wenige Minuten nach 10 Uhr erzitterte ganz Südostengland unter Motorendonner: Welle auf Welle der größten, bisher gekannten Luftflotte verließ jetzt die Feldflugplätze, fast 19.000 Fallschirmsoldaten bereiteten sich auf den Absprung vor. Von Cornwall weit im Westen bis hinauf zur Themsenmündung ist das Wasser plötzlich mit Convoys bedeckt, schwere amerikanische Schlachtschiffe und britische Einheiten gleicher Klasse dampfen der französischen Küste zu, Transporter, Schlepper und Nachschubeinheiten aller Art arbeiten sich durch die rauhe See.

15 Minuten nach Mitternacht beginnt das Inferno. 1333 Maschinen der Royal Air Force decken die Küstenbatterien von der Seine bis Cherbourg mit 5000 Tonnen Bomben ein. Gleichzeitig kommen die Fallschirmspringer und Luftlandetruppen. Die Deutschen geben Großalarm und stürzen zu ihren Ge-

schützen. Im ersten Morgengrauen des 6. Juni 1944 erscheinen die amerikanischen Fluggeschwader und werfen ihre Todeslast auf den Küstenstredfen. Kurz darauf beginnt die Beschießung von See her. Als sich die Sonne knapp vor 6 Uhr über dem Dunst zeigt, schaukeln unzählige Landungsfahrzeuge auf einer Breite von nahezu 100 Kilometern dem Ufer zu; Die Invasion hat begonnen!

Der große Schlag

In Wien versprach der 6. Juni ein sonniger Tag zu werden. Mancher fürchtete einen neuen Luftangriff von Süden her, obwohl die letzten Tage ruhiger gewesen waren. Die Nationalsozialisten sagten, daß dies auf die blutigen Abwehrerfolge der deutschen Jagdwaffe zurückzuführen sei, aber niemand wollte es so recht glauben. Am Morgen ging das Leben seinen Gang, als ob das 3. Reich noch 1000 Jahre stehen würde. Erst der Wehrmachtsbericht, der am frühen Nachmittag über dem Rundfunk alle Stuben- und Kaffeehaushocker erreichte, zerteilte etwas die Atmosphäre. Eher bagatellisierend erklärte der Sprecher, nun sei tatsächlich der seit Monaten angekündigte Landungsversuch der westlichen Feinde von Statten gegangen. Die deutsche Abwehr habe den Gegner gebührend in Empfang genommen und an den meisten Punkten bereits vernichtet oder ins Wasser zurückgetrieben. An einigen Stellen werde noch gekämpft...

W. S. Churchill, der fast zur selben Minute vor dem Unterhaus spricht, unterspielt die Sache ebenfalls, wenngleich von der anderen Seite her. Er befaßte sich zunächst mit der Einnahme Roms und verweilt längere Zeit bei diesem Triumph. Fast beiläufig fügt er hinzu, daß zur Stunde gewisse erste Operationen an der französischen Küste angelaufen seien und planmäßig verliefen. Aber dann entschlüpft ihm doch ein Hinweis darauf, was für ein einmaliger Plan da durchexerziert werde.

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