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Unternehmen „Christrose“

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EIN STRAHLENDER HERBSTTAG. Einer der letzten. Von Köln fährt der Volkswagen Richtung Trier. Münstereifel ist bereits vorüber, das Gelände wird hügelig: die Eifel. In großen Kehren frißt sich die Straße durch das karge Land an Deutschlands Westgrenze. Kleine, verschlafene Dörfer, grasende Kühe, da und dort führt ein Bauer den Pflug über seinen Acker: ein Bild des Friedens. Ein Wegweiser huscht vorüber: 1 km nach Schmidtheim; da wieder einer ... nein, das war kein Wegweiser. Ein verwittertes Birkenkreuz, darüber ein verrosteter Stahlhelm: das Grab eines unbekannten Soldaten! Eine große Wolke hat sich plötzlich über die Sonne geschoben. Von Westen her, aus der Schnee-Eifel, weht ein kalter Wind. Und da ist auch wieder die Erinnerung, die Erinnerung an die Eifel vom Spätherbst 1944. Mehr als fünfzehn Jahre trennen von jenem Tag.

ES IST DIESELBE STRASSE, auf der an einem nebeligen Novembertag eine Agenartige Kolonne zog: Soldaten einer der sogenannten „Volksgrenadierdivisionen“ mit hoher Hausnummer. An dem von einem Schwert durchkreuzten „V“ erkennen die Eingeweihten, daß diese zu der 277. gehören. Erst vor wenigen Wochen war diese im fernen Ungarn in aller Eile aufgestellt worden: alte Noimandiekämpf er neben ausgekämmten Landesschützen und jungen, in wenigen Wochen ausgebildeten Rekruten. Wie die Menschen, so die Waffen und das Material: überholte Feldhaubitzen, gezogen von RSO-Raupenschleppern. Und dann lange Kolonnen von Pferdegespannen. Das vorletzte Aufgebot.

Sie kannten einander kaum, die Kanoniere, Unteroffiziere und Offiziere der ersten Abteilung des Ar./277. Irgendein Marschbefehl hatte sie zusammengeführt. Ein Großteil von ihnen stammte aus dem Wehrkreis XVII, der einige jener Donau- und Alpengaue umfaßte, in die das ehemalige Österreich zerschlagen worden war. Da war der Wachtmeister S., ein Tiroler, da war der Kanonier B., ein breitschultriger Bauernsohn aus dem Horner Wald, und der Oberkanonier D. aus Wien. Als Arbeitsloser hatte er bereits in den dreißiger Jahren im kleinen österreichischen Heer mit dem Gewehr umgehen gelernt. Er, der sozialistische „Jungfrontier“, war dann auf seiten der Exekutive gegen seine Genossen vom Karl-Marx-Hof im blutigen Februar 1934 angestürmt. Nun marschierte er gemeinsam mit Rheinländern, Sachsen und Berlinern durch die Eifel. Und da gab es auch noch den Kanonier S. aus Posen. Er war nicht immer Kanonier gewesen. Er war bereits Unteroffizier, Unteroffizier der Republik Polen, als deren Soldat er in der Tucheier Heide gegen dieselbe Wehrmacht verbissen gekämpft hatte, in deren Reihen er nun gen Westen zog, um das Kriegsglück in allerletzter Stunde zu wenden ... Sie wußten voneinander wenig, die Soldaten der 277. Volksgrenadierdivision, die auf nebeligen Straßen, vorbei an einer verschlossenen Zivilbevölkerung, einem Ziel zustrebten, das keiner von ihnen kannte.

ANDERE KANNTEN ES. Im fernen Ostpreußen spannten Adjutanten große Wandkarten, sie entrollten Skizzen und Pläne. Vor jenem Mann, der Deutschlands Schicksal war, standen die beiden Stabschefs des Oberbefehlshabers West und der Heeresgruppe B, die Generale Westphal und Krebs. Von ihm erfuhren sie, sie seien berufen, an der lange versprochenen „Wendung zum Guten“ entscheidend mitzuwirken; Auf der alten Siegesstraße des Jahres 1940, aus der Eifel heraus, sollten 20 Infanterie-, 10 Panzerdivisionen, 10 Volksartilleriekorps und 10 Werferbrigaden hervorbrechen. Das erste große Ziel des „Unternehmen Christrose“ heiße Antwerpen, das Hauptziel aber sei die Spaltung der aus dem Raum Holland operierenden englisch-kanadischen Truppen Montgomerys von den weiter südlich stehenden amerikanischen Kräften unter Eisenhower. 700 bis 900 Jäger stünden zur Unterstützung der Operation aus der Luft zur Verfügung — und außerdem die neuen Waffen ... ! Es dauerte geraume Zeit, bis der Monolog zu Ende war. Die Generale rapportierten ihrem Chef, dem Generalfeldmarschall v. Rundstedt, mit dessen Namen die kommende Offensive verbunden bleiben sollte. Nach dem Besuch Jcdls bei Rundstedt erschien der „oberste Kriegsherr“ höchstpersönlich am 10. Dezember auf dem ursprünglich für die deutsche Westoffensive des Jahres 1940 errichteten Gefechtsstand zwischen Ziegenberg und Bad Nauheim. Man mußte diesen zaudernden Generalen möglichst nahe sein. Die Hauptakteure waren also auf den Plätzen, bald konnte das blutige Spiel beginnen.

Von all dem wußten die müden Soldaten, die auf den Waldstraßen der Eifel bergauf, bergab zogen, keine Silbe. Sie ahnten wohl, daß sie nicht in eine Ruhestellung einrückten.

Vergessen schien zunächst auch der Krieg für die Stabsbatrerie. Aus der einen Nacht in dem kleinen Eifeldorf Dahlem werden Tage, eine Woche. Nur fernes Artilleriefeuer erinnert an die Front, der dichte Nebel ist ein schützender Mantel gegen jede Belästigung aus der Luft. Die Front scheint plötzlich sehr ferne.

NICHT SO FERNE, WIE MAN GLAUBT. Davon wissen die Muni-Fahrer zu berichten, die nachts aus'einem dichten Fichtenwald nahe der Kreisstadt Schleiden Munition an die entlang der alten Westwallbunker sich hinziehende Front befördern. Nacht für Nacht klappern lange Kolonnen von Pferdegespannen über die Straßen. Mit hochbrisanter Ladung über Stock und Stein ... Lohn der Angst? Angst ohne Lohn.

ALARM.' Ein aufgeregter Wachtmeister bringt als erster die Nachricht. Verschlafene Gesichter! Flüche! Antreten, abzählen! In zehn Minuten werden Gruppen, Züge, Kompanien aus einem zusammengewürfelten Haufen geformt. Da erhält der Richtkanonier plötzlich ein schweres Maschinengewehr, dem MG-Schützen wiederum drücken sie einige Handgranaten in die Hand, der Gefreite aus der Feldbäckerei erhält eine Panzerfaust . . . Alarmkompanie: Schrecken eines jeden, der einmal in sie hineingeraten ist. Rechtsum! Marsch! Hinein in die dunkle Nacht. Es ist die Nacht vom 15. auf den 16. Dezember.

Gegen Morgen und nach einem Gewaltmarsch auf vereisten Feldwegen stolpert die Truppe in ein menschenleeres Dorf. Hellental steht auf der verbeulten Ortstafel. Und da ist auch schon die nächste Ladung der amerikanischen Artillerie. Phosphor spritzt aus berstenden Granaten auf die Soldaten im Straßengraben, bleibt auf ihren Uniformen haften, frißt sich durch Mäntel und Blusen. Höllental! murmelt einer aus der Kolonne. Hinein in den nächsten Keller. Hier ist es, wo um 5 Uhr der Oberleutnant E. zu sprechen beginnt: „Kameraden! Um diese Stunde tritt die Deutsche Wehrmacht zum entscheidenden Gegenschlag an der Westfront an. Göring hat uns für sechs Wochen volle Luftüberlegenheit garantiert. Kameraden! Zu Weihnachten sind wir in Paris, zu Silvester am Atlantik...“

DER WEG NACH PARIS UND ZUM ATLANTIK ist weit. Er führt aus der Eifel heraus zunächst über die Höhen von Hollerath und Rocherath. Hier stürmt am Morgen dieses Tages die SS-Division „Hitlerjugend“ und die Ihrem Kommando unterstellte 277. Volksgrenadierdivision. Die Amerikaner, überrascht, verlassen fluchtartig ihre Stellungen. Große Mengen von Verpflegung und allem Anschein nach auch Kriegsmaterial bleiben zurück. Mit ungläubigen Augen erbrechen die deutschen Soldaten in den verlassenen Stellungen Kiste auf Kiste. Sie denken zunächst an Munition. Aber die Kisten bergen Stapel von Konserven. Soviel Dosen wie nur möglich wandern in die Brotbeutel und Manteltaschen der Soldaten, die seit Wochen nur noch gefrorene Pferdewurst und dumpfes

Kraut gegessen haben. Die ersten Lucky Strikes gehen von Hand zu Hand. Ihre Verpflegung haben die Amerikaner geopfert, nicht aber ihre Granaten. Diese kommen alsbald aus neuen Stellungen mit vernichtender Wucht. Von den Dörfern Hollerath und Rocherath bleiben nur noch Ruinen. Der entlang der Waldstraße nachrückenden Alarmeinheit bietet sich am nächsten Tag ein erschütterndes Bild.

Kleine schwarze Punkte auf verschneiten Waldwiesen sieht man aus der Ferne. In der Nähe aber erkennt man die Kompanien toter Soldaten, die links und rechts der Straße nach Hollerath ihren Lauf für immer beendet haben. Es braucht nicht das Gerücht, um zu wissen: von den drei Infanterieregimentern der 277. VGD hat den Abend des 16. Dezember nur noch ungefähr ein kampfstarkes Regiment überlebt.

WIEDER BEI DER GESCHÜTZBATTERIE, irgendwo im Grenzwald. Strenger Frost ist eingefallen. Seit Tagen kein Befehl zum Stellungswechsel. Was ist aus der großangelegten Offensive geworden? Auf dem Weg nach Paris sind erst wenige blutige Kilometer zurückgelegt.

Etwas weiter ist. man im Süden gekommen. Dort stehen deutsche Panzer fünf Kilometer vor Bastogne, wo ungefähr drei Millionen Gallonen Treibstoff lagern. Dort findet auch jenes später bekanntgewordene Zwiegespräch zwischen einem Parlamentär und dem US-Brigadegeneral McAuliffe statt. Der deutsche Parlamentär fordert zur Übergabe auf. McAuliffe antwortet nur ein Wort: „Nuts“ (Quatsch!). Der Parlamentär, der nicht den amerikanischen Slang beherrscht, fragt nach der Bedeutung des Wortes. Der Amerikaner interpretiert: „Geht zur Hölle!“

Zur Hölle gehen braucht man nicht. Zur Hölle wird in wenigen Tagen die Eifel. Zu Weihnachten weicht die dichte Nebeldecke, und da sind auch schon die Alliierten-Flieger. Ihre zweimotorigen Bomber laden am Christtag über den Eifeldörfern, in denen der Nachschub liegt, ab und die „Jabos“ (Jagdbomber) blockieren alle Straßen zur Front. Mit dem Weihnachtsabend des Oberleutnants E. in Paris ist es nichts geworden und den Silvestergruß schicken Schlag 12 Uhr schwere amerikanische MG von der Hohen Mark.

Vier Wochen Eifelwinter folgen. Die Reste der 277. VGD sind zu Waldmenschen geworden. In Erdlöchern und Holzbunkern warten die von Läusen und Hunger geplagten Soldaten auf das Kommando. Der letzte Zweifel an der Zukunft schwindet. Nur wenige haben das Glück, wie der Schreiber dieser Zeilen, den grünen Zettel-an der Uniform befestigt zu bekommen: Erfrierungen zweiten und dritten Grades an beiden Beinen. Transport in ein Heimatlazarett notwendig.

ICH HABE VON DEN OFFIZIEREN und Soldaten der 277. VGD keinen Menschen mehr gesehen. Ich weiß nicht, wie viele Hitlers Weihnachtsausflug nach Paris und zum Atlantik überlebt haben. Aber ich habe die Eifel wiedergesehen. Ich bin durch das verschlafene Dahlem gegangen. Kinder spielen hier, die noch nicht am Leben waren, als die Bomben den Weihnachtsfrieden des Jahres 1944 jäh zerrissen. Ich bin vor der neuen Kirche des neuen Hollerath gestanden, bin im gemütlich-behäbigen Ratskeller der Stadt Schleiden gesessen und über Straßen gefahren, auf denen einst Troßkolonnen zogen. Alles bekannte Orte, mit deren Namen Erinnerungen an Tod, Entbehrungen und Verwüstung geknüpft sind. Bekannte Orte? Das trifft nicht. Land im Krieg und Land im Frieden — nichts Gemeinsames verbindet beide.

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