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Die Stunde „X“

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Die Schlußphase des Krieges in Europa ist

im wesentlichen von vier großen und entscheidenden Ereignissen beherrscht: dem Rheinübergang der Alliierten Ende März, die Befreiung Wiens Anfang April, dem Kampf um Berlin, der sich bis Anfang Mai hinzog und der Kapitulation der Heeresgruppe Süd am 4. Mai. Die letztere war nicht nur für den Gang der Ereignisse im Alpenraum und besonders in Österreich von entscheidender Bedeutung, sondern sie spielte auch eine ganz große Rolle für den totalen Zusammenbruch des Hitlerregimes überhaupt. Sie schaltete eine bis dahin fast völlig intakte und gut ausgerüstete Gruppe von drei Armeen und zusammen etwa 300.000 Mann aus und machte die Durchführung des Verteidigungsplanes im bayrisch-österreichischen Alpenland unmöglich. Um den Verlauf dieser Kapitulation richtig zu wägen, muß man die Situation im Frühling 1945 überschauen. Diese Ereignisse sind ja allen, die durch den Vorstoß der Roten Armee zu Ostern damils befreit waren, unbekannt geblieben.

Der Kampf um das Po-Tal

Die deutsche Front verlief damals in Italien zum Teil noch auf den Bergrücken des Apennin, sie griff im Westen auf die Mittelmeerküste bei Spezia über und führte hinauf bis zu den schneebedeckten Hochpässen der französischen Alpen. Lediglich von der Adria her war die Flanke bereits etwas geöffnet und das Po-Tal bei Bologna und Ferrara bedroht. Den ganzen Winter hindurch war es zu keinen größeren Kampfhandlungen gekommen und die Heeresgruppe Südwest, die bisher Kesselring befehligt hatte und deren Oberkommando nunmehr an Vietinghoff-Scheel übergegangen war, stellte den letzten großen und intakten Wehrmachtsverb*and dar, über den das OKW noch verfügte. Allerdings lag die alliierte Offensive bereits seit Wochen in der Luft — und dies in des Wortes wörtlichster Bedeutung: der Jagdfliegereinsatz der Alliierten machte nahezu jeden Kraftwagenverkehr auf deutscher Seite unmöglich und in den ersten Apriltagen erschienen immer wieder größere Verbände von Schlepperflugzeugen, tieffliegende Aufklärer ond einzelne Vermessungsflieger, so daß die beabsichtigte Landung von Fallschirmtruppen unschwer zu ahnen war.

Am 6. April hatten die schweren Kämpfe am Comacchio-See begonnen und damit die Offensive in Italien eingeleitet, am 20. April war Bologna gefallen und am gleichen Tage brachen die Alliierten Divisionen aus dem Hügelgelände des Apennin in die Po-Ebene aus und erreichten die Straße zwischen Bologna und Modena. In der Nacht zum 21. April wurden Fallschirmeinheiten der auf alliierter Seite kämpfenden italienischen Streitkräfte abgesetzt und am Morgen des 23. April wurde der Po bei San Benedetto, nördlich von Regio Emilia, überschritten. Damit hatte die letzte Schlacht auf dem südlichen Kriegsschauplatz begonnen, damit war aber auch schon der Kampf um das Po-Tal, das die Deutschen nach den Worten Mussolinis

„Haus um Haus und Meter um Meter“ verteidigen wollten, entschieden.

Der Angreifer im Rücken

Daß es hier nirgends mehr gelang, eine Verteidigungslinie einzurichten und Widerstand zu leisten, daß der Kampf um die Po-Ebene in knappen acht Tagen beendet war und dieser fruchtbare Garten Oberitaliens keinen nennenswerten Schaden mehr erlitt, an diesem Verdienst haben die italienischen Freiheitskämpfer, die Partisanen Oberitaliens erheblichen Anteil. Es ist kennzeichnend für die Schwäche des faschistischen Systems in Italien, daß die Bevölkerung von allem Anfang an gegen die deutschen Besatzungstruppen Stellung nahm. Seit dem Waffenstillstand Italiens mit den Alliierten im September 1943 war die Auflehnung der italienischen Bevölkerung gegen die Deutschen ganz offen, auch schon als die Front noch südlich Rom verlief. Damals zeichneten sich zwei Schwerpunkte der Partisanentätigkeit ab: der eine im oberitalienischen Alpenraum, nördlich und westlich von Mailand und Turin und der andere im Apennin. Allein in der zweiten Märzhälfte 1944 zählte der Lagebericht des 14. deutschen Armeekorps (im Räume zwischen Rom und Florenz) 18 schwere Partisanenanschläge oder Angriffe gegen die Wehrmacht auf, also mindestens täglich einen.

Die Zurücknahme der deutschen Front auf den Apenninenkamm, die Zerstörungen in Florenz, die zunehmende Härte des Bombenkrieges, die steigende Ausplünderung des Landes durch die Truppen und vollends die Zwangsverschleppung der Männer in den deutschen Arbeitsdienst führten den Partisanengruppen immer größer werdende Scharen von Mitkämpfern zu. Man brauchte sich damals in Italien eigentlich gar nicht mehr sehr vorsehen: wenn der Mann kein Schwarzhemd trug, kein Faschistenabzeichen und nicht etwa ein aus dem befreiten Süden geflüchteter Parteihäuptling war, dann war er sicher Partisane oder hatte zumindest einen Sohn oder einen Verwandten bei den Widerstandsgruppen.

Die Partisanenrepublik

Schon im Herbst 1944 waren die Partisanen im Besitz wichtiger Gebiete. Die monatlich von den „Partisanensachbearbeitern“ der deutschen Stäbe herausgegebenen „Partisanenkarten“ zeigten immer mehr „bandenbeherrschte“ Gebiete und „bandengefährdete“ Straßen. Es gab im Winter 1944/45 in ganz Oberitalien keine Straße mehr, die nicht im Geleit befahren werden mußte; selbst Kolonnen von zehn und mehr Wagen wurden sogar auf der Via Emilia oder an der Peripherie Mailands angegriffen. Die Pässe über den Apennin und die Verbindungsstraßen nach Spezia waren überhaupt gesperrt oder mußten für jeden einzelnen Transport unter Zuhilfenahme großer Truppenteile freigekämpft werden. Gebietsweise gingen die deutschen Befehlshaber auch zu Sonderabkommen mit den Partisanenchefs über, obwohl das OKW und vor allem der italienische „Oberkommandierende“, Marschall Graziani, dagegen wetter-

ten. Es gab Gebiete im Apennin und in den

italienischen Alpen, die gewissermaßen mit Anerkennung der deutschen Stellen unter der Souveränität der Partisanen standen. Immer häufiger wurden auch gebietsweise und regelmäßige Austauschverhandlungen zwischen den Partisanen .und den deutschen Polizeichefs durchgeführt, wobei in Partisanengefangenschaft geratene deutsche Soldaten gegen Partisanenführer ausgetauscht

werden mußten, die sieh in deutschen Händen befanden. Allerdings wurden diese Abkommen später dadurch erschwert, daß auf Befehl Hitlers alle deutschen Wehrmachtsangehörigen, die unverwundet in Partisanengefangenschaft geraten waren, nach ihrer Rückkehr vor das Kriegsgericht zu stellen waren. Nun mehrten sich die Fälle des Übertretens von Wehrmachtssoldaten zu den Partisanen. Österreicher befanden sich, zum Teil auch als Führer geschlossener Partisanengruppen, in größerer Zahl im Einsatz gegen den Faschismus.

Im Herbst 1944 konnten die Partisanen an der italienisch-schweizerischen Grenze die freie „Republik Domodossola“ ausrufen und erst nach vielen Wochen gelang es, unter Aufgebot starker Truppenteile, die anderswo abgezogen werden mußten, diesen Staat wieder zum Verschwinden zu bringen. Aber nach dem Abzug der Truppen war das Ossa-Tal dennoch rasch wieder zur Gänze in den Händen der Partisanen. Sooft die Deutschen auch Großunternehmungen gegen die „Garibaldi-Brigaden“ im Apennin ansetzen, waren die Partisanen rechtzeitig gewarnt und die Stöße gingen ins Leere oder wurden zurückgewiesen. Im Räume südlich von P i a-c e n z a, wo die Partisanen häufig am hellichten Tag in den Städten erschienen, verfügten sie sogar über betonierte Bunkerstellungen und auch der Einsatz der „T u r k - D i v i s i o n“ (Regimenter aus Turkestanern und Aserbeidschanern in deutschen Uniformen), die sich als „Mun-guli“ bald einen üblen Namen erwarb und unvorstellbare Grausamkeiten gegen die Zivilbevölkerung verübte, konnte nichts daran ändern, daß dieses Gebiet „bandenbeherrscht“ blieb.

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In der Stadt Reggio in der Emilia erschienen Vertreter der Partisanen eines Tages in Zivil in den höheren Schulen der Stadt und hielten vor den begeisterten Schülern Werbevorträg'e für ihre Verbände. In Modena fuhr im Februar 1945 ein von Partisanen gelenkter Panzer in aller Ruhe durch die Hauptstraße und bis vor die italienische Präfektur, gab mehrere Kanonenschüsse gegen diese ab und konnte unbehelligt wieder wegfahren.

Dje deutsche Führung konnte nichts tun, als die paar verfügbaren Verbände, meist Regimenter, die aus dem Fronteinsatz zurückgenommen und in „Ruhestellung“ gelegt wurden, hin und her schieben, um einmal da und ein anderes Mal dort etwas Luft zu machen; Allein diese Hemmung durch die ständigen Überfälle und die

Unterbindung des Nachschubes war für die Alliierten eine entscheidende Hilfe.

Die Generalprobe Anfang März 1945 lag eines Morgens das gesamte Telephonnetz des 14. Armeeoberkommandos stilL Wie mit einem Schlage waren auf weite Strecken alle Leitungen unterbrochen. Erst gegen Abend konnte die Führung wieder notdürftige Verbindung mit ihren Divisionen bekommen und man erfuhr, was sich ereignet hatte: Es waren innerhalb weniger Nachtstunden über 500 hohe Telegraphenmasten umgesägt und zahllose deutsche Telephonkabel durchschnitten worden. Alle Vergeltungsmaßnahmen blieben Wirkung* los. Jede Nacht explodierten Minen auf den Hauptverkehrsstraßen, wurden Treibstoff-und Munitionskolonnen überfallen und deutsche Depots ausgeleert. Man konnte sich nie mehr auf die Uniform verlassen: die Partisanen traten in der Verkleidung als deutsche Soldaten oder Offiziere auf und es war den deutschen Kraftfahrern verboten, unterwegs Kameraden mitzunehmen oder auch nur anzuhalten, weil es allzuoft Partisanen waren!

Sie verfügten über eigene Zeitungen und Druckschriften und über einen Nachrichtendienst, der den der deutschen Fjihrung übertraf. Ihre Vertrauensleute waren in allen deutschen und italienischen Kommandostellen tätig, sogar bei der Gestapo und im SD. Zum Teil kam ihnen ja auch der Dünkel der SS- und Gestapo-Agenten entgegen. So unglaublich es ist: Die Partisanenführer gingen in den Dienststellen des SD ein und aus.

Bei Beginn der Po-Offensive waren die deutschen Truppen von der ersten Stunde an zwischen den angreifenden alliierten Verbänden und der zweiten Front der Partisanen eingekesselt.

Die Erhebung

Nach den verschiedenen Generalproben im Februar und März waren die oberitalienischen Partisanenverbände zum Haupt-, schlag bereit. Ihre Verbindungsoffiziere zum alliierten Generalstab hatten vereinbart, daß in der „Stunde X“, wenn sich die anglo-amerikanischen Armeen in den Besitz bestimmter Ausgangsstellungen gesetzt hatten, die Partisanen in Mailand, Turin und Bergamo losschlagen sollten. In Mailand war seit Wochen der berühmt gewordene amerikanische Major „M a x“ tätig, alle Partisanenverbände hatten ständige Funk-und zum Teil auch Flugzeugverbindung mit dem alliierten Generalstab.

Als am 19. April die deutschen Stützpunkte in Mailand Alarmzustand hatten und die aus dem ligurischen Raum und aus der Gegend von Turin herüber geflüchteten italienischen Mitläufer der Deutschen — die faschistischen Parteihäupter, Journalisten und sonstige Gefolgsleute des untergehenden Systems — hinter die Stacheldrahtverhaue der deutschen Kommandostellen in der Stadt flüchteten, waren auch die Partisanen alarmiert. In der Stadt befanden sich ja außer deutschen Truppen noch die bis an die Zähne bewaffneten Gruppen der j.Decima MAS“ (der sogenannten „Schnell-ßootflottille“, junge Faschisten und Abenteurer, die der Fürst Borghese als eine Art Privatarmee geschaffen und in phantastische Uniformen gesteckt hatte), der Legion „Ettone Muti“ und die „Brigata Nero“, von den Italienern meist nur „Brigante neri“ genannt, weil sie als raubende Terroristen auftraten, wo sie ihrer Uberzahl sicher waren. Am 21. April kam auch noch Mussolini mit seinen Ministern nach Mailand.

Während die Alliierten zum Po vorstießen und die deutschen Truppen flüchtend nach Norden trachteten, begannen in Mailand Verhandlungen bei K a r d i n a 1 S ch u s t e r, die zu den interessantesten Ereignissen dieses Krieges gezählt werden müssen. Die Führer der Partisanen, darunter „Maurizio“ (der spätere Ministerpräsident Parri) verhandelten mit Abgesandten der Deutschen Wehrmacht und mit Mussolini über die Bedingungen eines Abzuges aus Mailand. Besonders heikel wurde die Situation noch dadurch, daß der deutsche Befehlshaber Oberitalicns, der SS-General Wolf, zu Verhandlungen über eine Sonderkapitulation mit den Alliierten heimlich in die Schweiz gegangen war und nun nicht mehr zurückkonnte, weil die Partisanen bereits die Nordgrenze gesperrt hielten! Die Nicht zum 25. April brachte die Entscheidung! D i e „Stunde X“ war da! Große Verbände der deutschen Truppen wurden auf dem Rückzug durch die Partisanensperren abgeschnitten, ihr Zurückfluten über die Alpenpässe verhindert, die Errichtung der neuen Abwehrlinie in den Bergen und in Österreich damit unmöglich gemacht. Bergamo, Mailand, Como und viele andere Orte waren bereits befreit, als einige Tage später die amerikanischen und englischen Truppen dort einzogen. Am 28. April fand Mussolini seinen Tod. Am gleichen Tage trafen im Alliierten Hauptquartier in Caserta zwei deutsche Stabsoffiziere in Zivil ein, um die Vorverhandlungen über den Waffenstillstand zu führen. Am 26. April war Verona gefallen, die Alliierten waren auf der Straße nach dem Brenner und auch von Bayern her rückten sie gegen die österreichische Grenze vor. Am 4. Mai, einige Tage vor der deutschen Gesamtkapitulation, unterzeichneten General von S e n g e r und E 11 e r-1 i n, der letzte Oberkommandierende des 76. Panzerkorps, als Vertreter der deutschen Heeresgruppe Südwest die bedingungslose Übergabe und schaltete damit die Armeen, die ausersehen gewesen waren, die „Festung Alpen“ zu verteidigen, aus dem Kampf aus.

Es ist das historische Verdienst der italienischen Freiheitskämpfer, den Zusammenbruch des faschistischen Systems und der deutschen Wehrmacht wesentlich beschleunigt zu haben. Daß österreichische Kameraden als aktive Mitkämpfer in den Partisanenverbänden, österreichische Offiziere und Zivilisten als Helfer und Verbindungsmänner und nicht zuletzt

auch wieder Österreicher als Mitglieder des

Befreiungskomitees von Mailand Schulter an Schulter mit den italienischen Kameraden

gekämpft haben, soll ein Unterpfand für

gemeinsames Wollen auch in der Zukunft bleiben.

Das Werk des mittelalterlichen Reiches war selbstzerstörend. Es ernährte, scheinbar sie bekämpfend, die Nationen, welche seinen Platz einzunehmen bestimmt waren. Es zähmte die nordischen Barbarenvölker und bezwang sie in einem Körper der Civili-sation, es bewahrte die Künste und die Literatur des Altertums. In Zeiten der Gewalt und der Unterdrückung stellte es vor seine Untertanen eine Autorität auf, deren Parole „Friede und Religion“ waren. Unter der tiefsten Erbitterung des Nationalitätenhasses hielt es die Idee einer großen europäischen Völkergemeinde aufrecht. Es befähigte die Menschen zu dem richtigen Gebrauch nationaler Unabhängigkeit. Es lehrte sie, sich zu jener spontanen Tätigkeit und Freiheit zu erheben, welche über dem Gesetz, doch nicht wieder dasselbe ist, und wofür diese nationale Unabhängigkeit, soferne sie ein Segen sein soll, nur das Mittel sein darf. Das Reich, das uns am Horizont der Vergangenheit noch als große Gestalt erscheint, wird vor dem Blick neuer Geschlechter immer tiefer versinken, je weiter sie der Zukunft entgegengehen. Jedoch seine Wichtigkeit in der allgemeinen Geschichte kann es niemals verlieren. Denn in ihm war alles Leben der alten Welt, aus ihm ist alles Leben der neuen Welt emporgestiegen...

James Bryce: „The holy Roman Empire“, London, 1866

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