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Das allerletzte Aufgebot

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ZU PFINGSTEN 1915, vor fünfzig Jahren, rückten die Tiroler Standschützenbataillone ins Feld. Weit über 30.000 waffenfähige Tiroler, der jüngste knapp 15, der älteste weit über siebzig, meldeten sich zu den Waffen, mit einer Selbstverständlichkeit, wie sie in der ganzen Militängeschichte der Welt kein zweites Mail verzeichnet ist. Es war ein Aufgebot, wie es keinem Land Europas möglich gewesen wäre; ein Aufgebot aber auch, das nicht nur das „beste“, sondern auch wirklich das „letzte“ war.

Wer aber waren diese Stand-chützen? Woher kamen diese Formationen? Wer berief sie ein? Wem unterstanden sie? Aus welchen historischen Wurzeln schöpften sie Ihre Kraft?

Man muß weit in die Geschichte der Alpenländer zurückgehen, will man all diese Fragen beantworten. In der frühesten Besiedlungsgeschichte Tirols waren bereits die Illyrer wehrhafte Leute bäuerlicher Lebensart, die den Römern, als sie die Alpen erobern wollten, erbitterten Widerstand entgegensetzten, wie auch die später eindringenden Bajuwaren und Alemannen eine ähnliche Lebensart aufwiesen. Im Verhältnis zu ilhrer Volkszahl, schreibt Otto Stolz in seinem Buch über die „Tiroler Standschützen“, besaßen sie eine sehr beachtliche Wehrkraft. Der Waffendienst galt als Ehrenrecht der Adeligen und Gamainfreien.

Mit dem Rittertum des frühen Mittelalters entfalteten sich auch in Tirol das Lehenswesen und das Kriegertum; es kamen Wappen auf, Abzeichen auf Schilden, Helmen, Fahnen und Satteldecken, die dann in den Sippen erblich wurden. Schon mm 1200 erscheint der Tiroler Adler mit ausgebreiteten Schwingen auf den Siegeln der Grafen von Tirol. Zu den Tiroler Landesfarben Weiß-Rot traten im Laufe des 18. Jahrhunderts die Schützenfarben Weiß-Grün.

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FÜR DIE ZÄHLUNG UND AUFSCHREIBUNG der wehrhaften Mannschaften in den einzelnen Gerichten und Gemeinden ist das erste Beispiel aus der Zeit um 1400 vom Landgerichit und der Stadt Lienz (Qsttirol) überliefert, die damals der Landesherrschiaft der Grafen von Gönz unterstanden. Jene Aufschrei-bunig bezeichnen sie selbst als „Musterung“ oder „Musterregister'', in denen nach den einzelnen Gemeinden die Namen der wehrhaften Leute und ihre Bewaffnung angeführt waren. Diese besteht teils aus Spießen, teils aus Armbrusten, und die Leute, die mit solch einer Armbrust bewaffnet waren, wurden bereits in diesen Registern mit dem Ausdruck „Schütz“ bezeichnet.

In den Ordnungen oder „Wais-tümern“ der einzelnen Gerichte und Gemeinden, 'die im 15. ttwid 16. Jahr-

hundert das dort von früher her herrschende Gewohnheitsrecht aufgezeichnet haben, wird öfters angegeben, daß die Obrigkeit die Bewohner im Falle der Not zu Wehrdiensten aufbieten konnte und diese die Pflicht hatten, dem „Aufgebot“ Folge zu leisten. Dabei konnte sich die „Not“ auf Elementarkräfte, wie Feuer und Wasser, auf Gewalttaten und Überfälle innerer und äußerer Feinde beziehen. Dabei wurde das, Verkünden dieses allgemeinen Aufgebotes mit Hilfe der Kirchenglocken als „Sturm“ bezeichnet; es

ist dies die älteste Im Bereiche

Tirols vorkommende Verwendung dieses Ausdrucks, woraus dann später Namen wie „Landsturm“ und „Volkssturm“ 'abgeleitet wurden.

Um ein solches Aufgebot aktiv zu halten, bedurfte es jedoch nicht nur

ständiger Waffenübungen, es bedurfte auch einer echten Waffenfreiheit. Hier war es Kaiser Moa:imi-lian I., der „letzte Ritter“, der 1511 mit seinem „Landlibell“ den Tirolern ihre bis heute gewahrte Waffenfreiheit gesetzlich festlegte. Erst in jüngster Zeit könne Tirols Landeshauptmann Wallnöfer beim Innenminister die erneute Bestätigung dieser Waffenfreiheit durchsetzen, eine in den übrigen Bundesländern kaum verstandene Tat, für die ihm die Tiroler Schützenkompa-

nien den Rang eines Ehrenhauptmannes auf Lebenszeit verliehen. In diesem Maximilianischen Land-libell verpflichtete sich der Kaiser, keinen Krieg ohne Willen der Landstände zu führen, und entband gleichzeitig die Tiroler, das sei besonders hervorgehoben, von allen Verpflichtungen, außerhalb der Grenzen ihres Heimatlandes Kriegsdienste zu leisten. Dafür willigten die Landstände ein, im Fall einer Kriegsgefahr aur Verteidigung des Landes „in vier Aufgeboten“ 20.000 Mann aufzustellen und au bewaffnen. In höchster Gefahr wurde zusätzlich zum Aufgebot noch der Landsturm einberufen, dem alle noch zu Hause gebliebenen Männer angehören mußten („Das letzte Aufgebot“). Hier traf es dann buchstäblich zu, daß außer kleinen Buben und sterbenskranken Männern kein einziges männliches Wesen mehr in den Dörfern verblieb.

VOR DEM ERSTEN WELTKRIEG hatte man durch das Landesverteidigungsgesetz von 1913 versucht, dieses freiwillige Schützenwesen im Interesse der Landesverteidigung straffer zu organisieren. Alle in den Schießständen (Schützengiiden) eingeschriebenen oder, wie man. es nannte, „einrollierten“ Schützen, waren im Falle eines feindlichen Angriffes auf Tirol als sogenannte landsturmpflichtige Körperschaften zur Verteidigung des Landes verpflichtet. Man muß daher klarstellen: Der „einroilierte“ Standschütze (das Wort kommt vom Schießstand, auf dem der Schütze seine Schießübungen absolvierte) zog nicht freiwillig ins Feld, sondern war als Mitglied einer landsturmpflichtigen Körperschaft dazu verpflichtet. Das Wunderbare war daher nicht das Ausrücken der Standschützen als solches, sondern die Tatsache, daß sich, als der Krieg mit Italien drohte, Tausende, ja Zehntausende junger Burschen und alter Männer freiwillig zu den Standschützen ein-rollieren ließen, um so an der Landesverteidigung teilnehmen zu können, auch wenn sie das zum Wehrdienst notwendige Alter noch nicht erreicht oder schon lange überschritten hatten. Es ist in der ganzen Kriegsgeschichte kein Fall bekannt,

daß ein Volk seine ganze Mannheit so restlos für die Verteidigung der Heimat eingesetzt hat wie 1915 dieses Land Tirol. In manchen Gemeinden gab es außer dem Pfarrer und ein paar Achtzig- und Neunzigjährigen keinen einzigen Mann. In einigen Gegenden rückten sogar Soldaten, die in Galizien verwundet worden waren, mit den Standschützen, humpelnd und auf Krücken gestützt, an die Front in den Bergen. ★

DIE SCHIESSSTÄNDE und Stand-

schützenverbänide hatten gewählte Vorstände, die Unter- und Oberschützenmeister genannt wurden. Bei der Mobilisierung wurden sie als Kommandanten und Führer der Bataillone, Kompanien und Züge von der Mannschaft wiedergewählt, von der Militärbehörde bestätigt und sie erhielten die beim Heer üblichen Bezeichnungen wie Major, Hauptmann und Leutnant. Dabei wurde jedoch nicht einmal verlangt, daß die Betreffenden bei der Armee die allgemeine Dienstzeit und Ausbildung als Offiziersanwärter oder als Unteroffizier mitgemacht hatten. Es genügten eben ihre ausschließlich in Tirol geübte Praxis als Mitglieder und gewählte Leiter eines Schießstandes und das Vertrauen ihrer Schützenkameraden. Jedem Standschützenbataillon, das an die Front zog, wurde zwar ein Berufsoffizier als taktischer Berater des Komiman-danteu mitgegeben, sonst aber waren diese Standschützen ausschließlich

dem Abteilunigskommandanten der Front unterstellt. Nur wenn sämtliche gewählten Offiziere durch Tod oder Verwundung ausfielen, übernahmen vorübergehend Berufsoffiziere das Kommando.

Der Krieg an der Südfront brachte den rund 38.000 Tiroler Standschützen schwere Verluste; trotadem hielten sie die Stellungen und gewannen sogar beachtliche Geländegewinne, obwohl die Front 460 Kilometer von der Schweiz bis zur Adria umfaßte und obwohl den Tirolern

frische Truppenmassen der Italiener mit fast 900.000 Gewehren gegenüberstanden. Das Verhältnis stand zu Beginn des Krieges 8:1 für die Italiener, aber auch zum Schluß noch hatte sich das Verhältnis auf 4:1 verringert. Trotz dieser vierfachen Übermacht konnten die Tiroler ihre Stellungen behaupten.

Legendär verliefen die 12 Isonzo-schlachten, die 1915 bis 1917 den Italienern jedes nennenswerte Vordringen verwehrten und die zu den entsagungsreichsten Kämpfen des ersten Weltkrieges überhaupt zählten. Zusammen mit österreichischen und deutschen Truppen konnten die Tiroler 1917 bei Plitsch-Karfreit-Tolmein unter Kaiser Karl I. den zweitgrößten Sieg des Krieges 1914/ 1918 erringen. Italien büßte 330.000 Gefangene und 3150 Geschütze ein. Als Hauptverteidiger der Südfront gingen Feldmarschall Erzherzog Eugen mit 12 Siegen' und Feldmarschall Boroevic, der „Löwe vom Karst“, in die Geschichte ein, genauso wie die namenlosen Standschützen, von denen so viele nie wieder ihre Heimat sehen sollten, an deren bedrohter Grenze sie so hervorragend gekämpft hatten.

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AM ENDE dieser gedrängten Darstellung mag sich unwillkürlich die Frage aufdrängen: Wieso hatten die militärisch nicht ausgebildeten Standschützen, die ja alle als kriegsdienstuntauglich erklärt worden waren (sei es wegen ihres zu geringen oder zu hohen Alters, sei es durch irgendwelche Gebrechen), diese in der Kriegsgeschichte einmaligen Erfolge? .

Ein Offizier des königlich-bayrischen Leibregimentes gab die Antwort: „Ihr Standschützen seid keine Soldaten, aber geborene Krieger, und das ist im Krieg die Hauptsache. Dem Soldaten wird bei der Ausbildung die eigene Initiative aberzogen. Er handelt nur auf Befehl, die Standschützen aber nach ihrem Hausverstand und angefeuert durch ihre übergroße Heimatliebe.“

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