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Wir aus Stalingrad

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In den letzten Wochen ist ein Gedenktag vorübergegangen, uns ein Gedenktag des Furchtbaren und der Schrecken. Es waren fünf Jahre vergangen seit dem Ende von Stalingrad. Der letzte Akt in einem Drama, das: am 12. März 1938 begonnen hatte, war damals im Ablauf.

Ende Jänner zogen wir Überlebenden der 6. Armee in langen Gefangenenreihen durch die schneedurchwehte Donsteppe. 3000 Kilometer von der Heimat entfernt, 300 Kilometer von der nächsten deutschen Front. Wir waren verdreht, verlaust und ausgehungert aus den Ruinen von Stalingrad hervorgekommen und marschierten nun zerlumpt, müde und leer durch die weiße, eisige Öde in die Gefangenschaft. Hinter uns kg die große Stadt an der Wolga in rauchenden Trümmern. Das im 16. Jahrhundert gegründete Zaryzin, das schon in den Interventionskriegen nach dem ersten Weltkrieg hart umkämpft worden war und auch damals eine militärische Wende brachte, seitdem den Namen Stalingrad führt und zu einem großen Industriezentrum mit über einer halben Million Einwohner ausgebaut worden war, existierte jetzt nicht mehr. Und auch die deutsche Armee mit 22 Divisionen, die diese Stadt hätte nehmen sollen, existierte nicht mehr. Uber 200.000 Mann der 6. Armee waren gefallen, 91.000 kamen in Gefangenschaft.

Diesen Tagen war eine Materialschlacht von gigantischem Ausmaß vorau?gegangen. Es waren Kämpfe , um jedes einzelne Haus gewesen. An den meisten Tagen waren durchschnittlich über 2000 Mann auf deutscher Seite gefallen. Manchmal verliefen die Hauptkampflinien in den Gängen von vier- bis fünfstöckigen Häusern. Mit Handgranaten, Minen- und Flammenwerfern wurde um Meter gekämpft. Seit dem 23. November 1942 waren 330.000 Mann eingekesselt und lebten von Tagesrationen von lOOGramm Brot und einer Pferdefleischsuppe. Dabei gab es Tagestemperaturen von 30 Grad unter Null und Schneestürme.

Es ist nicht der Zweck dieser Zeilen, noch einmal das militärische Geschehen zu schildern, so wi man es miterlebte. Wohl aber soll es nicht geduldet sein, daß diese blutige Tragödie weiterlebt als romantisches Epos nationalsozialistischer Dichtung, die wir zum letzten Male in Stalingrad als Leichenrede auf uns selbst, gehalten vom Reichs- marschall Hermann Göring, vernommen hatten. Ais für uns überlebende Stalin- grader, die wir in den Bunkern saßen, der Herr Reichsmarschall in seiner Rundfunkrede poetisch wurde, vom ,Tanai" und „Nibelungentreue" schwärmte und uns über das bevorstehende Ende mit den Worten tröstete, „wenn man doch vom Felde zurückkommt, so hätte man eben Dusel gehabt", da setzte er, während wir noch lebten, mir das Schlußwort hinter die A b- Schreibung der letzten von 330.000 jungen Menschen, die schon längst beschlossen worden war. Aus ohnmächtiger Wut wurden damals Dutzende Lautsprecher in den Bunkern zerschossen.

Es war nicht allein der „Führer“, der noch hinausschrie, daß, „wo ein deutscher Soldat steht, kein anderer mehr hinkommt“, es war nicht nur die dilettantische strategische Planung des Unternehmens und nicht nur die Erschöpfung der militärischen Kraft der Blitzkriegstrategie und eines verbrecherischen Angriffskrieges, was die Armee auf aussichtslosem Posten zum Sterben verurteilt hatte. Es war auch die große geistigeWende, diefürBerliner- kennbar eingetreten war unter den Stalingradern. Sie hatte an dem Beschluß mitgewirkt, diese Armee, vor der man sich fürchten mußte, weil sie zuviel erlebt hatte, abzubuchen. Eine Armee, die das Wesen der nationalsozialistischen Führer schicht und ihrer Moral und die Hohlheit der vorgetragenen Weltanschauung zu erkennen begonnen hatte, war untragbar geworden. Ein höherer Offizier erklärte mir Mitte Dezember auf meine Frage nach der Einschätzung der Lage:

„Der Großteil der Leute hier bat zu denken begonnen. Wir denken an das Volk und nicht mehr an Hitler. Doktor, ich glaube, wir sind dadurch erst Patrioten geworden und für den Nationalsozialismus natürlich Hochverräter. Die Bonzen können uns daher nicht mehr brauchen. Ausbruchsplanungen haben sie uns verboten; wir sind abgeschricben.“

Diese so charakterisierte Wende war wirklich eingetreten. Vieles, was wir im Verlauf des Feldzuges bis an die Wolga gesehen hatten, was wir aus heimatlichen Briefen entnahmen, manche lange nicht wahrhaben wollten, andere zu entschuldigen versuchten, war nun für die meisten mit deutlicher Klarheit zutage getreten. Nicht nur die vom einfachsten Soldaten erkannten Fehler der Führung, nicht nur der Totentanz von 22 Divisionen in den Ruinen der Stadt und im Steppenvorgelände, nicht nur die Hungerrationen, brachten diese Wende. Es war vor allem die Demaskierung der Staatsführung, die diese Armee klar sehen ließ. Es hatten schon oft in der Geschichte Soldaten auf verlorenen Posten gestanden, die bis zum letzten Atemzug, aber im Bewußtsein ihres Rechts und Opfers für das Vaterland kämpften. Aber hier standen Hunderttausende, die zum größten Teil einsahen, daß sie mit ihrem Kampf und Tod nur einem Verbrechen dienten. Das war die Tragik und das bedeutete die Wende.

Daß wir ja nur Landsknechte für eine Handvoll Verdiener waren, erklärte G ö b- b e 1 s schon, als er uns hören ließ, „es ginge ja schließlich nicht um Ideale, sondern um Erz, öl und wogende Weizenfelder“. Und wir alle hörten atidi die Wehrmachtsberichte, die die Heimat über die Lage in der Festung Stalingrad belogen: von der „Versorgung der Armee durch die Luft“, die Göring zugesichert hatte und die nicht einmal in den besten Flugtagen 10 Prozent des nötigsten Verpflegungsbedarfs ausmachte; vom „Feldmarschall, der neben dem Gefreiten im Graben lag“ und der in Wirklichkeit nie seinen bombensicheren Bunker verließ; von der „Disziplin der Truppe“, die damals schon in größeren Teilen hoffnungslos und marodierend von einer ihnen nichts bietenden Feldküche zur anderen zog; von der „klugen Führung“, die, tatenlos und in Kadavergehorsam verharrend, keinen Entschluß zur Rettung fassen konnte.

Dazu dämmerte ein Weiteres auf. Die große müitärische Kraft des Gegners, hinter der eine dynamisdie politische und eine zweifellos auch begeisternde patriotische Idee stand, hatten wir im Kampfe schon kennengelcmt. Nun sahen wir auch eine gewaltige materielle Überlegenheit. Das zweifelnde Gefühl war zur Sicherheit geworden: der vom Zaune gebrochene Krieg war verloren!

Und es tauchte auch die Frage der Verantwortung auf. Es mußte schon damals die Antwort gegeben werden auf die Frage, die mir auch der erste Rotarmist stellte: „Was willst du in unserem Land?“ Wir dienten in einem Verband, der eine Stadt mit 41.685 Häusern, 110 Schulen, 15 Spitälern, 7 Theatern, 120 Kindergärten, 68 Ambulatorien und 75 Klubgebäuden, den Riesenindustriewerken „Rote Barri kade" und „Roter Oktober" und den dazugehörigen 380 Kollektivwirtschaften zerstört hatte. Wir ahnten damals freilich noch nicht, welche Spur der Zerstörung die deutsche Invasion bereits hinterlassen hatte, und daß wir mit unserem Vormarsch nur Konzernen, Wirtschaftsführern, Riesen-KZ, der Zwangsverschleppung, der SS und dem SD Platz machten.

In diesen letzten Tagen, als Verpflegungsflugzeuge einmal Ladungen von — Brausepulvern für die bei minus 30 Grad kämpfende Truppe statt Brot brachten, als Divisionsärzte Empfehlungen zur schmerzlosen Tötung von Verwundeten gaben, als Generale keine Befehle mehr erteilten, sondern nur von den Arten des Selbstmordes sprachen und dann vollzählig mit Koffern und Putzern in die Gefangenschaft gingen, als der Oberbefehlshaber nur mehr als „Privatmann“ behandelt sein wollte, als sich an gefundenen Marmeladekübeln ausgehungerte Soldaten in ihrer Gier zu Tode aßen, als abertausende Verwundete im Schnee ohne Versorgung blieben, als sich hunderte junger Menschen in ihrer Ausweglosigkeit erschossen, als die eigene Artillerie keinen Schuß mehr hatte, als auf russische Parlamentäre, die ein Kapitulationsangebot überbrachten, auf Befehl gegen jedes Völkerrecht das Feuer eröffnet wurde, als die letzten Pferde verzehrt waren, ab man sich den Tag des eigenen Todes errechnen konnte — in diesen Tagen, im Angesicht des Todes waren alle Verhüllungen der Wahrheit gefallen.

Aber warum kämpfte die Armee trotz besserer Einsicht doch weiter? Da war vor allem der große Schrecken vor der russischen Kriegsgefangenschaft, die die deutsche Propaganda in den schwärzesten Farben ausgemalt hatte. Hie und da flackerte der Geist zur rettenden Tat auf. Aber ab zum Beispiel General v. Seydütz vorschlug, „gegen den Willen des Führers, nur dem deutschen Volke verantwortlich“, am Beginn der Einkesselung Stalingrad aufzu- geben und auszubrechen oder dann im Jänner das Kapitulationsangebot der Roten Armee anzunehmen und damit tausenden Soldaten das Leben zu retten, wurde er von den anderen Befehlsempfängern und Befehbübermittlem niedergestimmt. Diese zum Heldentod bereiten Herren habe ich dann alle in den russischen Gefangenenlagern wieder getroffen. So war die Armee ohne tatkräftige Führung. Der letzte Befehl, den ich erhielt, lautete:

„Erschießen Sie sich, versuchen Sie durch- zubredhen, geben Sie sich gefangen, kämpfen Sie in der Stadt weiter, tun Sie — mit einem Wort —, was Sie wollen. Ich selbst erschieße mich!"

Ich habe auch diesen Vorgesetzten wieder gesund in der Gefangenschaft getroffen. Aber dazwischen starben Tausende. Die Armee zerbröckelte, Bataillone kapitulierten, andere kämpften weiter, einige verhandelten über Parlamentäre — das Chaos war hereingebrochen. Und so wurde unter unsäglichen Opfern die Stalingradarmee „liquidiert".

In dieser Armee standen auch drei Divisionen, die zum größten Teil aus österreichischen Soldaten bestanden. Auch sie zogen die Bilanz im Angesicht des Todes. Bis hieher hatte der Weg vonjenem 12. Märzl938geführt, von jenem gefeierten Glückstag für die „Ostmark"! Hatte nicht dieser Krieg, all der Jammer nicht damit begonnen, daß gerade unsere Heimat zur Beute der deutschen Machthaber wurde? Litt nicht auch unser Volk unter der mitleidlosen Knechtschaft, wurde nicht auch bei uns verfolgt und in Kerkern und KZ mißhandelt und zu Tode gequält, was sich verdächtig machte, mit der Gleichschaltung des Dritten Reiches nicht einverstanden zu sein? In diesen Tagen wurde auch für die allermeisten von uns endlich die quälende Frage: Sind wir Deutsche oder Österreicher? eindeutig gelöst mit dem klaren: Wir sind Österreicher! Von diesen Tagen an haben wir Österreicher uns zusammengetan, wir halfen einander, verhinderten die Selbstmorde und stärkten den Willen zum Leben für Österreich. In unserem einigen Wollen konnte uns kein Standesunterschied, keine weltanschauliche Verschiedenheit und kein Schatten früherer parteipolitischer Gegensätze mehr trennen. So haben wir es in der Gefangenschaft zu halten gesucht. Immer dort, wo kein Anspruch auf Totalität erhoben wurde, wo keine Demagogie Zwietracht säen konnte, waren wir Österreicher in den Lagern eine geschlossene Kraft,

Nun sind wir Überlebenden von Stalingrad nach langen, schweren Jahren wieder in die Heimat zurückgekehrt. Wir haben unsere Heimat in der Fremde noch mehr lieben gelernt. Wir haben aus einem wahnsinnigen Totentanz heraus ein zweites Leben begonnen.' Ein Vermächtnis tausender toter österreichischer Kameraden bringen wir mit: dafür zu kämpfen, daß unser Leid und Schicksal anderen erspart bleiben möge, daß wir als freie Menschen in einem freien Land leben können.

Als wir über die österreichische Grenze rollten und uns die ersten Landsleute von den Feldern zuwinkten, da rannen uns Heimkehrern allen die Tränen über die Wangen. Wir sahen, daß sich österreichische Menschen darüber freuten, daß wir endlich heimkommen. Und wir wußten und empfanden es aufs neue, daß unser zweites Leben nur einen Sinn haben kann: arbeiten und kämpfen für die Einigkeit aller Österreicher, für die Freiheit der Heimat und die Freundschaft aller Völker, die den Frieden wollen!

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