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Nicht die einzige Entscheidungsschlacht

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Schon rein optisch wirkt es ungemein zentral. Stalingrad liegt zeitlich ziemlich genau in der Mitte des zweiten Weltkrieges und ebenso auch in der Mitte jenes Zeitraumes, der uns heute von der russischen Oktoberrevolution des Jahres 1917 trennt. Im einen wie im anderen Fale erscheint es uns als ein Wendepunkt. Ja, auf russischer Seite neigt man gerne dazu, StaMngrad als die entscheidende Schlacht des ganzen Krieges anzusehen.

Das war sie allerdings gewiß nicht, ja nicht einmal in bezug auf den Krieg im Osten. Das deutsche Heer war nach diesem furchtbaren Schlag noch keineswegs am Ende seiner Kräfte. Vielmehr gelang es ihm, einen halben Monat nach Stalingrad, in der dritten Schlacht bei Charkow die russische Offensive abzufangen, und erst nach der gescheiterten Sommeroffensive 1943, nach dem Unternehmen „Zitadelle“, gaben die Deutschen die Initiative im Osten für immer an den Gegner ab. Und anderseits stand der russische Erfolg damals keineswegs allein.

Am 23. Oktober 1942 hatten die

Engländer ähre Offensive bei El Ala- mein begonnen, die die Divisionen Rommels zum Rückzug nach Westen zwangen. Aber im Westen, nämlich in Algerien und Marokko, waren dann Anfang November starke alliierte Verbände unter dem Kommando General Eisenhowers gelandet. Afrika war also zweifellos über kurz oder lang für die Achsenmächte verloren. Und am pazifischen Kriegsschauplatz ging zur gleichen Zeit wie Stalingrad eine nicht minder bedeutsame Schlacht zu Ende. In den ersten Februartagen räumten die Japaner die so erbittert verteidigte Insel Guadalcanal. Wenn überhaupt, so ist die Entscheidung des zweiten Weltkrieges nicht auf einem, sondern auf vielen Schlachtfeldern gefallen.

Einst und heute

Aber das ist eben die Frage, ob es in einem modernen Krieg, und der zweite Weltkrieg zählt gewiß noch dazu, Entscheidungsschlachten alten Stils, also im Sinne eines Duells bis zur Kampfunfähigkeit eines der Beteiligten, überhaupt noch gibt. Sehr wahrscheinlich ist es nicht mehr der Fall. Die Entscheidung reift vielmehr in Bereichen heran, die außerhalb des Schlachtfeldes liegen, in den Konferenzzimmern der Diplomaten, in Konstruktionsbüros, aus den Fließbändern von Fabriken und auf den Nachschubrouten der kämpfenden Parteien. Und dann leuchten gelegentlich da und dort erste Signale auf.

So zum Beispiel am 27. Jänner 1943 als ein erster Tagangriff der 8. USA-Luftflotte gegen deutsches Reichsgebiet erfolgte, oder, als in der Nacht vom 30./31. Jänner die Engländer bei einem Luftangriff auf Hamburg zum erstenmal das 9-cm-Radar-Gerät H 2 S anwendeten. Im März endete dann auch die letzte Phase der U-Boot-Schlacht im Atlantik dank des Einsatzes neuer Kampfmittel und Kampfmethoden mit einem angloameri- kanischen Erfolg.

Die angeknackte Moral

Es lag also zu Beginn des Jahres 1943 eine ganze Serie von Ereignissen vor, die dem, der die Lage überblicken konnte, ziemlich deutlich zeigten, daß der Krieg für Deutschland und seine Verbündeten verloren sei. In dieser Serie war Staldngrad nur eines unter vielen Signalen. Vielleicht nicht einmal das strategisch Bedeutsamste, aber sicherlich das weithin Sichtbarste. Und darin lag seine ungeheure Bedeutung.

Die Tatsache, daß zum erstenmal ein großer deutscher Heereskörper aus einer bedrohlichen Lage nicht hatte „herausgehauen“ werden können, daß sich die deutsche Führung offenbar einer russischen Operation nicht gewachsen erwiesen hatte, und daß schließlich rund 90.000 Mann mit 24 Generalen und einem Generalfeldmarschall an der Spitze in die Gefangenschaft abgeführt werden kannte, war ein Ereignis, dessen moralische Auswirkungen weit die überstiegen, die von in dieser Hinsicht etwa vergleichbaren Schlachten wie Kolin oder Aspern ausgegangen sein mögen. Eher denkt man an Napoleons Rückzug von Moskau 1812.

Der „Sieger“ Stalin

Und als eine ähnliche Schicksalswende, als das gerechte Walten einer unerbittlichen weil zwangsläufigen Nemesis wurde dieser Sieg auch von den Russen gefeiert. Der Glaube an den endgültigen Triumph war mit diesem Erfolg wieder hergestellt. In den entrollten Fahnen, mit denen russische Regimenter über die schneeverwehten Felder vor Stalm grad gegen die letzten deutschen Riegelstellungen angriffen, dokumentierte sich, daß der revolutionäre Elan der Bürgerkriegsjahre mit dem russischen Patriotismus eine eindrucksvolle Synthese eingegangen war.

Zugleich stieg auch das militärische Prestige Stalins. Die Über legenheit der „Strategie Stalins“ . wurde zu einem Glaubenssatz, und der Diktator half dem auch optisch nach, indem er bald nach dem Sieg von Stalingrad sich den Rang und Titel eines Marschalls der Sowjetunion geben ließ. Gegenüber ihren Verbündeten wie den Neutralen war d)as Ansehen der Sowjetunion gewaltig gestiegen. Ihr war etwas gelungen, was keiner der westlichen Alliierten in diesem Ausmaß bisher vermocht hatte.

Erschüttertes Vertrauen

Dementsprechend war nun auch das Vertrauen der Verbündeten Deutschlands in dessen Unbesiegbarkeit erschüttert. War doch dm Verlauf der Operationen, denen die 6. Armee zum Opfer fiel, nicht nur die 3. und 4. rumänische Armee, sondern auch die 8. italienische und die 2. ungarische mehr oder minder stark angeschlagen worden.

Erschüttert wurde aber auch das Vertrauen und der Glaube an Hitlers Genie in breiten Schichten des Reiches selbst. Goebbels hat dann wohl in seiner bekannten Sportpalastrede am 18. Februar ein Meisterstück seiner demagogischen Fähigkeiten abgelegt und die Mobilisierung neuer Kräfte geschickt propagandistisch vorbereitet. Aber das änderte nichts an der Tatsache, daß das deutsche Selbstvertrauen und Uberlegenheitsgefühl gegenüber dem Ostgegner einen starken Stoß erhalten hatte. Vor allem aber fühlten sich nun im verstärkten Maße jene Männer und Frauen zur Tat gedrängt, die bereits in früheren Jahren den blutgetränkten Weg der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft mit offenen Augen und wachsendem Widerwillen und Entsetzen verfolgt hatten.

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