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Bis Stalingrad...

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„Was Jubel und Jammer war, toll nun zur Erkenntnis werden!“ Dieses tief« Wort Jakob Burckhardfs möge über unserer ernsten Erinnerung an die Wende des zweiten Weltkrieges stehen. Am 30. Jänner 1933 übernahm Hitler die Macht, damals für Millionen Anlak zum Jubel; genau zehn Jahre später kam mit der Tragödie von Sfalingrad der grohe Jammer. Die folgenden Zeilen sollen zur Erkenntnis beilragen, wie die Menschheit eine dritte Tragödie in diesem Jahrhundert noch verhindern könnte... Eine politische und militärische Katastrophe bricht ja selten unvermutet und plötzlich herein; meist ist sie das Endergebnis vieler irriger Anschauungen und vermessener Handlungen der führenden Schichte eines Volkes, letzte Konsequenz einer grundsätzlich falschen Einstellung zum natürlichen Sittengeselz — das jeder in seinem Gewissen erkennt — und äufjeres Zeichen für das Versagen einer Weltanschauung, deren schwere Irrtümer vielen erst durch eine solche Kalasfrophe bewufct werden.

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„Was Jubel und Jammer war, toll nun zur Erkenntnis werden!“ Dieses tief« Wort Jakob Burckhardfs möge über unserer ernsten Erinnerung an die Wende des zweiten Weltkrieges stehen. Am 30. Jänner 1933 übernahm Hitler die Macht, damals für Millionen Anlak zum Jubel; genau zehn Jahre später kam mit der Tragödie von Sfalingrad der grohe Jammer. Die folgenden Zeilen sollen zur Erkenntnis beilragen, wie die Menschheit eine dritte Tragödie in diesem Jahrhundert noch verhindern könnte... Eine politische und militärische Katastrophe bricht ja selten unvermutet und plötzlich herein; meist ist sie das Endergebnis vieler irriger Anschauungen und vermessener Handlungen der führenden Schichte eines Volkes, letzte Konsequenz einer grundsätzlich falschen Einstellung zum natürlichen Sittengeselz — das jeder in seinem Gewissen erkennt — und äufjeres Zeichen für das Versagen einer Weltanschauung, deren schwere Irrtümer vielen erst durch eine solche Kalasfrophe bewufct werden.

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Die 297. Infanteriedivision, deren katholischer Feldgeistlicher ich fünf Jahre hindurch war, lag Mitte November 1942 südlich von Stalingrad an der Tscherwlenaja. In ständigen schweren Kämpfen waren wir vom Donez aus der Gegend südlich von Charkow über den Tschir und Don bis zur Wolga gekommen, dem Ziel der deutschen Offensive. Doch konnten wir uns nur langsam und unter erheblichen Verlusten von Aksai über Abganerowo an der Eisenbahnlinie in Richtung Stalingrad herankämpfen. Unsere Division war 1940 in der Gegend von Trautmannsdorf-Bruck a. d. Leitha-Parn-dorf-Neusiedl am See aufgestellt worden und bestand etwa zu 60 Prozent aus Österreichern.

Von den ursprünglich 160 Soldaten Je Kompanie waren aber nun, vor Stalingrad, nur noch je 30 bis 40 da — ein kleines Häuflein, wie es unser Bild in einer Balka (= vom Regenwasser ausgewaschene Schlucht) zeigt (Abb. 1). Im Winter 1941/42 hatten wir mit Mühe einen oft umkämpften Donezbrückenkopf östlich von Tschugujew halten können, während zu beiden Seiten wiederholt russische Verbände durchbrachen. Und nun sollten jene abgekämpften deutschen Divisionen, die ein Jahr zuvor eine 800 Kilometer lange Front kaum halten konnten, mit den inzwischen eher schwächer gewordenen Kräften einen Abschnitt von mehr als 4000 Kilometer verteidigen beziehungsweise zum Teil noch erkämpfen.

Dabei war die ganze Sommeroffensive unter einem ungünstigen Stern gestanden: denn knapp vor ihrem Beginn war es den Russen gelungen, einen „Fieseier Storch“ abzuschießen, der sich ins Niemandsland verflogen hatte; in der Aktentasche eines dabei gefallenen Majors befanden sich die deutschen Aufmarschpläne, die den Russen in die Hände fielen; so waren sie in hinhaltendem Widerstand in die Tiefe ihres Raumes ausgewichen; sie vertrauten ihren östlich der Wolga aufgestellten Elitetruppen, sie bauten auf die mit zunehmender Entfernung immer schwieriger werdende Situation des deutschen Nachschubs und — auf ihren „General Winter“, der ihnen schon einmal bei Moskau sehr geholfen hatte.

östlich der 297. ID., in Richtung Begetowka, lag die 20. rumänische Division, die ebenso wie wir einen Abschnitt von etwa 40 Kilometern hatte. Doch was waren unsere 40 Kilometer Steppenfront gegen die 300 Kilometer „Front“ einer motorisierten Infanteriedivision bei Elista, an der Nahtstelle zur Kaukasusarmee! Vom 15. November an schickten die Rumänen immer besorgtere Meldungen an Paulus, daß sich gerade gegenüber ihrer Division ein russischer Schwerpunkt aufbaue; sie hörten den russischen Funkbetrieb ab und wußten daher, daß allein die artilleristische Überlegenheit der Russen vor ihnen das Dreißigfache betrage. Ihre wiederholten, geradezu flehentlichen Bitten um panzerbrechende Waffen blieben bei der 6. Armee unbeachtet; die Russen wurden im Aufbau ihres Stoßkeiles auch kaum gestört, obwohl man dies drei Tage und Nächte lang beobachten konnte.

Die 6. Armee wird eingeschlossen

Am 19. November 1942 begann die Tragödie von Stalingrad mit dem russischen Durchbruch bei den Rumänen, wobei ausdrücklidh festgestellt sei, daß jede deutsche Division durch stundenlanges Trommelfeuer einer im Verhältnis von 1:30 überlegenen Artillerie genauso zermalmt worden wäre wie die armen Rumänen. Auch die in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft liegende 297. ID. wurde in Mitleidenschaft gezogen. Der Kriegsberichterstatter der 6. Armee, Heinz Schröter, berichtet darüber: „Im Süden ist es die 297. ID., die von dem Nordflügel des russischen Durchbruchs südlich Stalingrad gestreift wurde. In Unkenntnis des Umfangs der Katastrophe trat sie zum Gegenangriff an und brachte die Hauptkampflinie und die der 20. rumänischen Division wieder in ihren Besitz. Das ist eine der Divisionen, denen nichts erspart blieb; aber eine Division besonders hervorzuheben, bedeutet ja schon eine Zurücksetzung der anderen1.“

Der Kessel von Stalingrad hatte am 23. November noch einen Durchmesser von mehr als 100 Kilometern, wurde aber bald zwecks besserer Verteidigung auf etwa 50:40 Kilometer verengt. Der Russe hatte eine ganze Armee in eine Falle gelockt. 22 kampferprobte, aber schon stark zusammengeschmolzene Divisionen, dazu zahlreiche Flak-und Luftwaffeneinheiten sowie Sonderverbände, zum Beispiel Sturmgeschützabteilungen, Heeresartillerie und Werferabteilungen, waren eingeschlossen. Dabei war die Bereitstellung jener russischen Eliteverbände östlich der Wolga, die diese Einkesselung nach deutschem Vorbild vollzogen hatten, seit Wochen von deutschen Aufklärungsfliegern gemeldet worden.

Alle hielten einen bald bevorstehenden Ausbruch für ganz selbstverständlich; doch hatte Hitler erst zwei Wochen zuvor einige fanatische Erklärungen abgegeben; mit vermessenen Worten hatte er „vor Gott und der Geschichte“ gelobt, die bereits als vollendete Tatsache hingestellte Eroberung von Stalingrad nie wieder herzugeben: Den Russen sei nun der Transport von 30 Millionen Tonnen Weizen, Manganerz und Erdöl abgeschnitten. Hitler hatte sein Prestige und seinen „Feldherrnruhm“ mit jener Stadt verknüpft, die den Namen seines inzwischen auch etwas abgewerteten Gegenspielers trug.

Eingeschlossen waren 270.000 Soldaten, davon 13.000 Rumänen, 19.000 „Hilfswillige“ d. h. in die deutsche Armee eingegliederte Russen) und

6000 Verwundete. Freilich waren nur noch etwa 25.000 Infanteristen in vorderer Linie einzusetzen.

„Haltet aus! Der Führer haut euch 'raus!“

Mit dieser Parole endete ein Aufruf von P a u 1 u s an die Eingeschlossenen. Entscheidend war die Frage, ob eine Viertelmillion Soldaten längere Zeit aus der Luft versorgt werden könnten, und zwar mit Munition, Benzin, Lebensmitteln, Sanitätsmaterial und so weiter. Inzwischen zugänglich gewordene Dokumente bezeugen, daß G ö-r i n g leichtfertig und großsprecherisch versicherte, er könne für den täglichen

Nachschub von 600 Tonnen garantieren — das war von der 6. Armee als Minimum verlangt worden. Görings Geltungsbedürfnis trug zu Hitlers Befehl an die 6. Armee bei: „Einigeln!“

Tatsächlich kamen aber im Durchschnitt pro Tag nur je 100 Tonnen in den Kessel. Dabei leisteten die Flieger das Menschenmögliche. Sie hatten aber hin und zurück bald 400 Kilometer zu fliegen, und zum Transport von täglich 600 Tonnen hätte man 2000 Flugzeuge benötigt, die aber nicht zur Verfügung standen. Überdies hätten so viele in Pitomnik gar nicht landen können.

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