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Keine Stunde der Wahrheit

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Der Verfasser dieses Artikels, unser ständiger Mitarbeiter Herbert Eisenreich, hat im Herbst 1970, als die von Bundeskanzler Kreisky geplante Demontage des österreichischen Bundesheeres konkret sich abzuzeichnen begann, m dieser Zeitung eine Artikelserie geschrieben, in der er behauptet hat, was jetzt, in den jüngsten Nummern von „profil“, von dem 1968 aus der CSSR geflüchteten Polit-General Sejna bestätigt worden ist: daß ein nicht oder nur mangelhaft abwehrbereites Österreich von den Strategen des Warschauer Paktes behandelt wird, wie wenn es zum unumstrittenen Einflußbereich des Kreml gehörte. Die sei-

nerzeitigen Analysen Eisenreichs — nachzulesen insbesondere in den Nummern 44 und 47 der FURCHE vom Jahr 1970 — decken sich sogar in den Details mit den jetzt von General Sejna enthüllten Planungen des Warschauer Paktes: daß der Weg von Rußland nach Jugoslawien auch über Graz führt, daß zugleich aber auch der Raum Linz mit seinen zahlreichen Donau- und Enns-Brücken ernsthaft bedroht ist, und daß gerade auch infolge der geostrategischen Verstrickung Österreichs in den zu erwartenden russisch-jugoslawischen Konflikt die Gefahr einer neuerlichen — und dann wohl endgültigen — Teilung besteht.

Wer Freiheiten aufgibt, um Sicherheiten zu gewinnen, verdient weder Freiheit noch Sicherheit.

Benjamin Franklin

Das österreichische Nachrichtenmagazin „profil“ hat mit General Jan Sejna gesprochen, dem bis zu seiner Flucht in den Westen im Februar

1968 politisch führenden Mann im Verteidiigungsministerium der CSSR. Und seit dem 14. Februar dieses Jahres publiziert „profll“ in einer Serie, was Sejna ihm über „Moskaus Aufmarschpläne gegen Österreich“ erzählt — oder wenn man will: enthüllt — hat. Eine politische Bombe also?

Mitnichten! Denn bei allem Interesse, das dieser Bericht — mitsamt seinen für die österreichische Wehrpublizistik so charakteristischen Schlampereien — beanspruchen darf, hat er einen gravierenden Schönheitsfehler: er bringt nichts wesentlich Neues. Was Sejna in der Nummer 5 von „profll“ über mögliche Ostblock-Interventionen in Österreich sagt, stand vor ziemlich genau zwei Jahren in der „Frankfurter Allgemeinen“. Die Erzählungen Sejnas in der Nummer 6 über die Besetzung österreichischer Flugplätze hat Alexander Vodopivec in seinem 1973 erschienenen Buch „Die Quadratur des Kreisky“ vorweggenommen. Und wer wissen wollte, wie die NATO die Lage seit der von Kreisky befohlenen Selbstenitwaffnung Österreichs beurteilt, hätte zum Beispiel im August-September-Heft 1973 von „NATÖs Fifteen Nations“ die Seite 26 aufschlagen können: da hält Ad-miral Colbert, der Oberbefehlshaber von NATO-Süd, einen Marsch von Ostblocktruppen durch Österreich im Krisenfall für selbstverständlich, da dieser Staat ja weder willens noch fähig sei, militärischen Widerstand zu leisten.

Wer's ganz genau hätte wissen wollen, der hätte den früheren Verteidigungsminister Prader — den besten, den die Zweite Republik je hatte — befragen können, warum wohl der Marschall Tito im Frühjahr 1969 eine volle Stunde lang auf ihn und führende Bundesheergene-räle eingeredet hat. Wer aber den Marschall Tito, einen der wenigen wirklichen Sieger des Zweiten Weltkriegs, für nicht kompetent hält, der hätte ja ohne besondere Mühe die Warschauer-Pakt-Manöver der letzten Jahre, insbesondere die vom Herbst 1972, analysieren können, die teils den „Sichelschnitt“ aus dem Raum Budweis über den Raum Linz in den Raum München, teils den klassischen Angriff auf Wien aus dem Raum westlich des Plattensees, und teils den Stoß über Graz (und eventuell Klagenfurt) an die nördliche Adria als eigentlichen Übungszweck hatten. Mit etwas mehr Mühe hätte man in der internationalen Fachpresse die Meldungen verfolgen können, aus denen unter anderem folgendes hervorging: Erstens eine schier hektische Umrüstung der Pakt-Truppen auf modernste Angriffswaffen vor allem im ungarischen und tschechoslowakischen Raum. Zweitens eine quantitative Verstärkung der Truppen in diesen Räumen. Drittens logistische Maßnahmen, vom Straßenbau bis zur Treibstofflagerung (dies vor allem in Südungarn). Man hätte weiter die verstärkte Luftaufklärung über Österreich registrieren, und man hätte sich auch daran erinnern können, daß zwar im Jahr 1955 die Sowjet-Armee aus Österreich abgezogen, der zu ihrer Versorgung nötige logistische Apparat zwischen Budapest, und der ungarischen Westgrenze aber nie abgebaut worden ist.

Mit einem Wort: Wer wissen wollte, wie die sowjetische Militärstrategie die Neutralität — und das heißt konkret: die militärische Verteidigungsbereitschaft — Österreichs einschätzt, der hätte sich nicht erst von General Sejna darüber informieren lassen müssen, daß zum „Fall Jugoslawien“ organisch .< der „Fall Ostösterreich“ gehört. Der General nennt, übrigens, völlig plausible Gründe dafür: Das logistische Problem; um die jugoslawische Abwehrfront in der Flanke zu fassen; und um jedwede Kommunikation mit Österreich zu sperren. In Sejnas Liste fehlt seltsamerweise ein ganz entscheidendes Argument: Die Warschauer-Pakt-Truppen müssen auch deshalb über den Raum Graz marschieren, um möglichst rasch die Görzer Pforte schließen zu können, denn Titos Armee ist seit dem Kominform-Konflikt zu einem beträchtlichen Teil mit amerikanischen Waffen ausgestattet.

Die Äußerungen Sejnas enthalten in der Form, wie sie von „profil“ wiedergegeben werden, auch sonst noch einige Ungereimtheiten. Und horrender Blödsinn ist die — von „profil“ allerdings nicht wörtlich zitierte — Behauptung des Generals, daß in einem Globalkonflikt der Atomwaffeneinsatz vermeidbar sei, wenn die Pakt-Truppen einen Blitzkrieg führen und damit dem Einfliegen amerikanischer Verstärkung zuvorkommen. In Wahrheit verhält es sich natürlich so, daß ein Atomkrieg am sichersten durch das Gleichgewicht der konventionellen Streitkräfte vermieden wird. Doch trotz all diesen Vorbehalten hat die „profil“-Publikation einen Sinn, oder besser gesagt: sie könnte einen Sinn haben. Sie könnte nämlich zeigen, daß die Spekulationen und Kombinationen derer, die gegen die Entmili'tarisie-rung Österreichs durch Kreisky opponiert haben, auf einer realistischen Lagebeurteilung basierten. Die an sich unsensationelle „profiT'-Pu-blikation könnte endlich auch dartun, daß Österreichs derzeit amtierender Bundeskanzler ein nicht mehr tragbares Sicherheitsrisiko für die Republik darstellt. Aber — siehe Ungarn, siehe Tschechoslowakei, siehe Ostdeutschland! — die Sozialdemokraten kapieren immer erst dann, wer ihr wahrer Feind ist, wenn die Erlkenntnis zu spät kommt...

Wirklich klug geäußert hat sich in diesem Zusammenhang nur der parteifreie Verteidigungsminister Lütgendorf. Von ^profil“ befragt, ob es „zum Beispiel tatsächlich so (sei), daß tschechoslowakische und ungarische Truppen Ost- und Südösterreich innerhalb von 24 Stunden besetzen könnten“, gab er die wahrheitsgemäße Antwort: „Wenn sie mit der nötigen Entschiedenheit und mit der nötigen Breite angreifen, ist das absolut möglich.“ Der Minister erklärte damit zum erstenmal öffentlich, daß das von den Kreisky-Sozialisten dem Bundesheer aufgezwungene Milizsystem für Österreich in seiner fatalen geostrategischen Lage total verfehlt ist. Selbst wenn die Mobilisierung der Landwehr nur zwei bis drei Tage dauerte — was bei dem primitiven österreichischen Mobilisierungsmechanismus allerdings völlig unglaubwürdig ist —, wären die einmarschierenden Ostblocktruppen sehr viel schneller. Was Österreich zu seiner Verteidigung braucht — das kann man bei einigem Sachverstand aus der Antwort des Ministers ableiten —, ist eine Kombination von stehendem Heer, hochmobiler Einsatztruppe und personell starker Miliz.

Der Minister fügte der zitierten Antwort allerdings noch einen zweiten Satz hinzu: „Wir alle kennen hinlänglich die für die Verteidigung ungünstige Topographie Ostösterreichs.“ Und in diesem Nachsatz kommt leider ein reichlich antiquiertes Denken zum Vorschein; nämlich die Vorstellung, daß Kriege tatsächlich nur 'auf “dem -Sch&thtfeM im engsten Wortsinn — auf weiter Flur, sozusagen — stattfinden. Nach einer russischen Statistik haben aber 40 Prozent aller Gefechtshandlungen im Krieg gegen Deutschland sich in Ortschaften abgespielt. Der scheinbar offene Großraum Wien nun bietet sich dar als ein weithin verbautes Gelände: mit der weitaus größten Stadt Österreichs, mit einer Reihe relativ großer Siedlungen (von Wiener Neustadt über Baden bis Sankt Pölten und Krems) und mit zahlreichen Kleinstädten, Märkten und Dörfern, aber auch industrialisierten Zonen. Zwischen Enns und March, zwischen dem Freiwald und dem Wechsel leben immerhin rund drei von rund siebeneinhalb Millionen Österreichern. In diesem Großraum hat der Verteidiger also die Chance, dem Angreifer ein großes Stalingrad und tausendmal ein winziges Stalingrad zu bereiten. Bei voller Ausschöpfung des Menschenpotentials, wie das selbstverständlich in Israel,aber auch in den neutralen Kleinstaaten Schweiz und Schweden geschieht, müßte man allein im Großraum Wien mindestens 250.000 Mann mobilisieren können. Unter der Annahme, daß 150.000 Mann mit Füh-rungs-, Unterstützungs- und Versorgungsaufgaben betraut sind, bleiben immer noch 100.000 infianteriistische Kämpfer — und das entspricht der Zahl der infanteris'tischen Kämpfer von mehr als 40 (in Worten: vierzig) motorisierten Schützendivisionen des Warschauer Paktes!

Weiter: Infolge der Verbauung des Geländes — auch durch Fabriken und Lagerhallen, durch Hotels, Villen-und Kleingartensiedlungen — gibt es selbst in Nordostösterreich kaum noch Panzerkampfentfernungen über 800 Meter; meistens liegen sie sogar unter 500 Metern. Und das bedeutet, daß eine mit rückstoßfreien Panzerabwehrkanonen (Einsatzschußweite bis 800 Meter) und mit dem schweren Panzerabwehrrohr „Carl Gustav“ (Einsatzschußweite bis 400 Meter) ausgestattete Landwehr — wenn sie nur rasch genug mobilisiert werden kann! — selbst und gerade in diesem, laut Lütgendorf, „ungünstigen“ Gelände einem mechanisierten Feind überlegen ist.

Ein anderes Beispiel: Das Gemeindegebiet von Wien umfaßt 415 Quadratkilometer; der größte Teil davon ist verbaut, ein nicht unbeträchtlicher Teil bewaldet. Wien kann also nur von Infanterie erobert werden, eine sowjetische Infanteriedivision kann aber maximal nur 2400 Mann im infanteristoschen Fußkampf einsetzen. Unter der höflichen Annahme, daß eine angreifende Division pro Quadratkilometer nur zehn Mann verliert, kann gefolgert werden, daß diese Division nicht einmal mit Resten den Ring oder Kai gewinnt, wenn buchstäblich jedes Hauseck, jeder Keiler, jeder Dachboden verteidigt wird.

Kurzum: Die zitierte Antwort des Verteidigungsministers zeigt erstens, daß Österreichs neues Wehrkonzept völlig falsch ist, und zweitens, daß niemand in der Regierung das wahrhaben will. Und aus eben diesen Gründen muß man die von General Sejna mitgeteilten Aufmarschpläne des Warschauer Paktes gegen Österreich auch dann noch für blutigen — unser aller Blut kostenden — Ernst nehmen, wenn die Details sich inzwischen geändert haben sollten.

Der Bundeskanzler freilich hat für den (wahrscheinlich sehr bald eintretenden) Katastrophenfall einen Plan.

Bitte: Was für einen Plan?

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