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Vom „Ballawatsch“ im Führerstaat

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Der bekannte Publizist und Schriftsteller Herbert Eisenreich zieht aus der Lektüre eines neuen Buches von David Irving ebenso persönliche wie - auf den ersten Blick - überraschende Schlüsse.

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Der bekannte Publizist und Schriftsteller Herbert Eisenreich zieht aus der Lektüre eines neuen Buches von David Irving ebenso persönliche wie - auf den ersten Blick - überraschende Schlüsse.

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Wohl noch kein Krieg ist so genau erforscht worden wie der Zweite Weltkrieg. Infolge der totalen Niederlage des Dritten Reiches sind Tausende und Abertausende von Dokumenten in die Hände der Alliierten gefallen, in den Kriegsverbrecherprozessen haben zahllose Zeugen ausgesagt, und viele Beteiligte haben ihre Memoiren publiziert.

Eine seriöse Aufarbeitung des gigantischen Materials konnte natürlich erst einsetzen, als in den fünfziger Jahren die (durchaus verständlichen) Emotionen zurücktraten hinter die wissenschaftliche Frage, wie denn das alles wirklich gewesen war (um mit Leopold von Ranke zu reden). Überdies standen nun auch die Erinnerungen alliierter Politiker und Heerführer sowie die Forschungsresultate alliierter Historiker in zunehmendem Maße zur Verfügung, und allmählich wurde auch Geheimes teils freigegeben und teils enthüllt.

Und da zeigte sich denn, daß unter dem kritischen Licht der Wissenschaft manche Dinge doch wesentlich anders aussahen, als sie vorher gezeichnet worden sind. So kamen, zum Beispiel, gute Gründe für die deutsche Eroberung Norwegens oder für die Belassung der 6. Armee in Stalingrad zutage. Und was den militärischen Oberbefehl durch Hitler persönlich betrifft, so wird heute kein ernsthaft Denkender mehr bestreiten, daß da neben Borniertheit, Blindheit und Wahn immer wieder auch genialische Intuition und nüchterner Sachverstand gewaltet haben.

Anderseits hat auch erst die neuere Forschung die systemimmanenten Schwächen jenes Führerstaates bloßgelegt. Wir hatten die Vorstellung gehabt von einer klaren, ja geradezu simplen hierarchischen Ordnung: von oben nach unten würden Befehle erteilt, und von unten nach oben würden Meldungen erstattet und Anträge gestellt, streng nach dem militärischen Ritual.

In der Tat aber hat da ein - um in des Führers heimatlichem Idiom zu sprechen - „Ballawatsch“ geherrscht, wie keine Bananenrepublik ihn produzieren könnte. Im Grunde hat kein Inhaber irgend eines Amtes ■ genau gewußt, wofür er selber nun wirklich zuständig war, und wofür sein jeweiliger Vorgesetzter und sein jeweiliger Untergebener, wofür sein Kollege und sein Partner - von dem jeweiligen Gegenspieler ganz zu schweigen.

Diesen Kompetenzenwirrwarr hat - was niemand weiß, weil niemand „Mein Kampf gelesen hat - Hitler selber gestiftet, sehr früh und durchaus bewußt. Die unmittelbar ijefähr-

'liehen Rivalen der Frühzeit (wie Gregor Strasser oder Ernst Röhm) hat er einfach umbringen lassen. Doch um das Nachwachsen von Kronprätendenten oder auch nur von Kronprinzen sozusagen ab ovo zu unterbinden, hat er, nach dem Grundsatz „divide et impera“, einerseits möglichst viele Kompetenzen an sich gezogen und anderseits alle übrigen Kompetenzen geteilt, ja geradezu aufgesplittert.

Mit dieser Taktik hat Hitler in letzter Konsequenz aber seinen eigenen Untergang heraufbeschworen, und zwar gerade auch militärisch. Denn eben dadurch war Hitler ganz allein zuständig für die Gesamtkriegsführung, womit er natürlich weit überlastet war - seine ab etwa 1943 penetrante Flucht ins militärische Detail könnte psychologisch erklärt werden als eine unbewußte Reaktion auf diese Überlastung.

Das den drei Wehrmachtsteilen Heer, Marine und Luftwaffe vorgesetzte Oberkommando der Wehrmacht (OKW) hat nie tatsächlich kommandiert, ja nicht einmal koordiniert: gerade auch infolge der Teilung in OKW- und OKH-Kriegs-schauplätze hat es keine allgemein verbindliche Militärstrategie gegeben. Und noch viel weniger einheitlich war die Gesamtstrategie, das heißt: die Wahrung der Relationen zwischen den politischen Zielen, den militärischen Mitteln und den ökonomischen Voraussetzungen.

Diese drei unabdingbar miteinander verknüpften Potenzen sind im Dritten Reich verabsolutiert worden, sie haben, jede für sich, ihre eigene Dynamik entwickelt, und zwar, so paradox das auch erscheinen mag, eben infolge des Führerprinzips, nämlich infolge des daraus resultierenden Teilungsprinzips.

So sind - um vom Politischen hier und im folgenden völlig abzusehen -die militärische Kriegsführung und die Rüstungswirtschaft nie aufeinander abgestimmt worden, Taktik und Technik blieben einander fremd: Führerhauptquartier und Generalstäbe haben ohne Rücksicht auf die

ökonomischen Kapazitäten geplant und operiert, und die Industrie hat ohne Rücksicht auf die operativen Möglichkeiten und Notwendigkeiten konstruiert und produziert.

In keinem Land der Welt ist damals Kriegskunst, der militärische Erfindergeist auf derselben hohen Stufe gestanden wie in Deutschland. Doch in eben diesem Deutschland sind .Energie und Material an taktische Monstren vergeudet worden (z. B. Kampfpanzer „Maus“ mit einem Gewicht von 188 Tonnen); und in eben diesem Deutschland sind die wahren „Wunderwaffen“ (vom Sturmgewehr bis zum Düsenjäger) praktisch überhaupt nicht oder viel zu spät an die Front gekommen, obwohl die Prototypen seit Jahren da waren.

Schuld daran war nicht, wie gelegentlich von Unbelehrbaren behauptet wird, Sabotage, sondern die aus der Gewaltenkumulierung herrührende, also dem Führerstaat notwendig innewohnende Unzuständigkeit jedes Einzelnen. (Von dieser Seite her wird - nebenbei bemerkt - erstaunlicherweise niemals für das demokratische Prinzip argumentiert.)

Nun: all diese Gedanken drängen sich geradezu auf, wenn man David Irvings Buch „Die Tragödie der Deutschen Luftwaffe - Aus den Akten und Erinnerungen von Feldmarschall Erhard Milch“ liest und womöglich im größeren Zusammenhang sieht. Da wird nämlich nicht bloß behauptet, sondern aus einem scharf umgrenzten Teilbereich, dem der deutschen Luftrüstung, dokumentiert, daß der Zweite Weltkrieg aus deutscher Sicht tatsächlich eine Serie von „verlorenen Siegen“ war (um mit Feldmarschall von Manstein zu reden).

Weit triftiger als durch jede Polemik macht der Autor, jenseits jeder Frage nach der Moral im allgemeinen und der Kriegsschuld im besonderen, hier deutlich, woran das Deutsehe Reich Adolf Hitlers eigentlich gescheitert ist: an sich selber, und weder an „Pannen“ und „Verrat“ noch an der „Überlegenheit“ der Alliierten.

Bildhaft bezeichnend dafür, was Milch, in Gefangenschaft auf seinen Prozeß wartend, einmal geträumt hat: ein kurzes Telefonat mit dem einstmals ehrlich bewunderten Führer, das der Feldmarschall mit den Worten schloß: „Ich war Ihnen länger treu als Sie dem deutschen Volk und mir.“

Allerdings hatte das Divide-et-im-pera-Prinzip, außer der Desorganisation, noch eine zweite Folge: die Angst aller vor dem Imperator selbst, und daher rührend die Angst auch vor Hitlers jeweiligen Vertrauenspersonen, also gerade auch auf höchsten Ebenen die Angst jedes vor jedem. Und so hat denn der „Führer“ tatsächlich nicht alles gewußt, was er hätte wissen müssen. Denn die Meldungen an ihn waren allzuoft zurechtfrisiert: um nicht in Ungnade zu fallen, oder um im Ansehen zu steigen.

Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß Hitler in seinen militärischen Entschlüssen 1939 bis 1941 zumindest bestärkt, ja vielleicht sogar bestimmt worden ist durch die Vorführung von sensationell neuartigem Luftwaffengerät im Juli 1939, womit man ihn für eine Intensivierung der Luftrüstung gewinnen wollte. Der Effekt der Show war aber, daß Hitler sich zusätzliche Illusionen über die eigene militärische Stärke machte, obwohl Milch ihn warnend darauf hinwies, daß der Weg vom Versuchsmuster bis zur Serienreife und damit zum Fronteinsatz mindestens fünf Jahre dauere.

Übrigens gehen auch die Fehlentscheidungen bezüglich des Düsenflugzeugs Me 262 auf ein ganzes Gewebe von Fehlinformationen und Fehlinterpretationen zurück. Und daß in bezug auf die Luftversorgung Stalingrads buchstäblich jeder jeden belogen hat, wird auch in Irvings Buch wieder deutlich.

Also: Dünkirchen; die Luftschieht über England; Stalingrad; Nordafrika; die U-Boot-Schlacht im Atlantik; Kursk; Die Invasion; Atlantikwall und Westwall; die V-Waffen; der Bombenkrieg über Deutschland: das sind also Verlustposten in der deutschen Bilanz nicht infolge von Sabotage, sondern von Intrigen, nicht infolge von Verrat, sondern von Geheimniskrämerei.

Von Göring konstatiert der englische Historiker, daß er im Herbst 1940 „das Interesse am Krieg verlor“; aber er ist in all seinen Ämtern verblieben, hat weiterhin Entscheidungen getroffen und Befehle erteilt - im Interesse nun nicht einmal mehr seiner Hausmacht, der Luftwaffe, sondern im Interesse nur mehr der eigenen Machterhaltung, obwohl der vom Morphium doch wohl nur angekränkelte 1 gesunde Hausverstand ihm gesagt haben muß, daß gerade die Macht des Reichsmarschalls steht und fällt mit der Macht des Reichs, und daß jeder Schaden, den er dem Reich durch den Vorrang der eigenen Machterhaltung zufügt, eben dieser Machterhaltung schadet und ihn selber letztlich nicht nur um Amt und Würden, sondern auch noch um Kopf und Kragen bringt.

Doch nun war ja Göring kein Einzelfall, kein monströses Wunder der Natur, sondern geradezu der Prototyp des Amtsträgers im Führerstaat. Von rational verstandener Selbsterhaltung - zuerst einmal gemeinsam überleben, und dann erst die internen Differenzen (so oder so) austragen -

keine Spur, im Gegenteil: Jedem galt seine Funktion als ein Selbstzweck und nicht als ein Mittel zu einem Zweck, und zwar auch nicht zum Zweck des eigenen Überlebens, der eigenen Machterhaltung.

Man fabuliert noch immer von Hitlers Kriegsmaschine, rühmt oder verdammt sie als ein Präzisionsinstrument. Aber Ehrgeiz, Ruhmsucht, Eitelkeit, Eifersucht, Neid (mit, daraus folgend, Kompetenzhader und Postengerangel, mit leeren Versprechungen und gezielten Verleumdungen, mit Schönfärberei und Schwarzmalerei, mit Heldenpose und Kriechertum, mit abwechselnd formalistischen und terroristischen Exzessen, mit geheuchelter Konsequenz und fanatischer Inkonsequenz, mit Meineid und Treueschwur, und nicht zuletzt mit jenem „Übermut der Ämter“, wo Allmacht nur die kaschierte Ohnmacht ist):

All diese primären und sekundären Ausflüsse des Machtbetriebes, die in ihrer wechselseitigen Potenzierung zur chronischen Vertauschung von Wünschbarem und Tatsächlichem führten, indem sie die einzelnen Täuschungsmanöver in einer „Weltanschauung der Selbsttäuschung“ quasi legitimierten: all diese Ausflüsse des Machttriebs haben von deutscher Seite her den Kriegsverlauf sehr viel entscheidender bestimmt, als die militärischen Entschlüsse und Befehle sowie die militärischen Aktionen selbst das getan haben.

Militärische Führungskunst und militärische Tapferkeit haben nur lange den Sachverhalt verdunkelt, daß hinter allen Erfolgen nicht ein (von Hitler zu gemeinsamer Aktion geraffter) planender Wille stand, sondern ein (von Hitler epidemisch sich ausbreitender) dämonischer Trieb, also eine - ganz wörtlich genommen -Verücktheit, eine Verrücktheit der Werte im Geist, eine Perversion der Hierarchie, kurz: eine Verfassung, die zwar umwegig, aber vom Ursprung her den eigenen Untergang meint, vom Ursprung her den Selbstmord als unausweichliches Ende in sich trägt; oder um Jacob Burckhardts unvergeßliche Definition des Dämonischen zu zitieren: „Unfreiheit des Entschlusses, verbunden mit Anwendung der äußersten Mittel, und Gleichgültigkeit gegen den Erfolg als solchen“.

Einen Beleg dafür, daß diese Definition des Dämonischen gerade auch auf Adolf Hitler und dessen Reich zutrifft, haben wir in diesem Buch mit seinem nur scheinbar recht speziellen Thema, eben der deutschen Luftrüstung und Erhard Milchs Anteil daran in Frieden und Krieg.

Denn gerade, weil es nicht interpretiert, sondern dokumentiert, macht es uns deutlich, wie das Dämonische im Detail aussieht und im Konkreten sich auswirkt. Und erteilt damit eine gerade in dieser Epoche selbstgerechten „antifaschistischen“ Geschwätzes (hoffentlich) heilsame Lehre, nämlich: nicht bloß bezüglich des längst vermoderten Hitler selbst, sondern.wichtiger, auch bezüglich des leider unsterblichen „Hitler in uns“.

DIE TRAGÖDIE DER DEUTSCHEN LUFTWAFFE. Aus den Akten und Erinnerungen von Feldmarschall Erhard Milch. Von David Irving. Verlag Ullstein. 487 Seiten, mit 54 zum Teil unbekannten Bild- und Textdokumenten. Frankfurt am Main - Berlin 1979. ÖS 132.70.

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