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„Wie war es möglich?“

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„Wie war es möglich, daß rieh der Nazismus des deutschen Staatsapparats in so kurzer Zeit und so völlig bemächtigen konnte, daß er hinfort damit schalten konnte, wie es ihm beliebte?“ Diese Frage hat sich wohl jedermann schon vorgelegt; die vielen Enthüllungswerke, die in den letzten Jahren die Hinter- und Untergründe der nazistischen Bewegung beleudi- tet haben, haben wenig dazu beigetragen, sie zu beantworten, sondern lassen sie eher noch unfaßbarer erscheinen, je mehr darin der geistige und moralische Tiefstand der damals zur Macht gelangten Clique offenkundig wird. Diese Lücke im Verständnis der historischen Entwicklung von 1918 bis 1933 versucht Arnold Brecht mit seiner, 1944 in Amerika erschienenen und nun in deutscher Ausgabe vorliegenden Schrift auszufüllen. Der Verfasser hat während dieser ganzen Zeitspanne als einer der höchsten Beamten im Reichsministerium des Innern, zeitweilig auch ails Staatssekretär und als Vertreter Preußens im Reichsrat in vorderster Linie gestanden, und ist daher als berufener Beurteiler anzusehen. Da seine Stellung eine zwar hohe, aber doch nicht eine solche war, daß letzte Entscheidungen von ihm abgehangen wären, ist eine Arbeit auch frei von dem den meisten Erinnerungswerken anhaftenden Stigma der Rechtfertigungsschrift „pro domo sua“. Brecht steht gesinnungsmäßig der Demokratischen Partei am nächsten, die, verbunden mit den Sozialdemokraten und dem Zentrum, in der deutschen Republik die als „Weimarer Koalition“ bezeichnete „Dritte Kraft“ zwischen den extremen Parteien der Linken und Rechten bildete. Trotz dieser ausgesprochenen Zugehörigkeit zu einer bestimmten politischen Gruppierung, hält sich der Verfasser frei von Voreingenommenheit gegen die dieser Gruppierung fernestehenden Faktoren. Besonders sympathisch berührt seine Würdigung der Persönlichkeit und des Wirkens des zweiten Reichspräsidenten v. Hindenburg bis zu dem Augenblick, wo der zunehmende Verfall der geistigen Kräfte des greisen Feldmarsch alls ihn zum unbewußten Werkzeug dunkler Machenschaften werden ließ, die Hitler den Weg zur Macht öffneten.

Brecht tritt zunächst der besonders im Ausland verbreiteten — und jedenfalls bequemsten — Ansicht entgegen, die das damalige Geschehen aus einer in der Wesensart des deutschen Volkes wurzelnden Neigung zum Faschismus oder Totalitarismus erklären will, wobei sie sidi meist auf die Gleichsetzung grund- und wesensverschiedener Dinge stützt und Hegeil und Nietzsche, preußische Armeedisziplin und ostelbisches Junkertum mit dem Nazismus in einen Topf wirft. Er verweist darauf, daß mit dieser Methode fast allen Nationen aus einzelnen Abschnitten ihrer Geschichte oder aus persönlichen Lehrmeinungen „totalitäre“ oder „faschistische“ Prädispositionen ankonstruiert werden könnten. Brecht unterstreicht, daß in den fünzehn Jahren der deutschen Republik die unzweifelhaft demokratischen Parteien der Mitte im größten Bundesstaat Preußen ununterbrochen die absolute Mehrheit und die Regierung innegehabt haben, daß sie auch im Reichsrat stets knapp an der absoluten Mehrheit waren und daß auch bei der traditionsverbundenen Rethtsopposition — bei aller Gegnerschaft gegen die demokratischen Parteien —, abgesehen von einer kleinen Gruppe von Heißspornen, keine „totalitären“ Aspirationen bestanden haben.

Der Nazismus stand überhaupt bis etwa 1930 unter den’ mannigfachen Sorgen und Nöten der deutschen Regierung an ziemlich untergeordneter Stelle. Die Bewegung wurde kaum ernst genommen, und noch ließ nichts ihr plötzliches lawinenartiges Anwachsen voraussehen. Allerdings übersieht der Verfasser — wie es auch die Staatsmänner jener Zeit getan zu haben scheinen —, daß die Stärke einer Bewegung nicht bloß nach der Zahl der Stimmzettel zu berechnen ist, sondern auch nach der Zahl derjenigen Anhänger, die für sie bis zum Äußersten zu gehen bereit sind. Daß der Nazismus sich vornehmlich aus dieser Kategorie von Anhängern rekrutierte, war seine Stärke gegenüber den Parteien der Mitte, die solche nur in minimalem Ausmaß aufzuweisen hatten. Nur die Kommunisten hatten einen starken Prozentualanteil militanter Kräfte.

Daß sich die lange Zeit wenig beachtete Bewegung plötzlich in eine Sturmflut verwandeln konnte, erklärt Brecht mit dem Zusammentreffen einer ganzen Reihe von Umständen und Zufällen, von Fehlern und Versagern. Daß der Versailler Vertrag den Nährboden für die deutsche Desperadostimmung gebildet hat, wird von Brecht nur mehrfach leicht angetönt; er wollte es offenbar vermeiden, durch besondere Hervorhebung dieser Tatsache seiner — für das amerikanische Publikum bestimmten — Schrift allzusehr den Charakter einer „Mohrenwäsche“ und der Abwälzung der Verantwortung auf die Siegerstaaten von 1918 zu geben. Nur in der Frage der Abänderung der militärischen Klauseln des Versailler Vertrags wird der Zusammenhang zwischen den Fehlern der Siegerstaaten und der Stimmungsentwicklung in Deutschland stärker beleuchtet, und zwar durch ein Zitat aus einem Werk des früheren USA-Präsi- denten Hoover, dem auch kaum etwas hinzuzufügen ist. Eine weitere Ursache für das Aufkommen des Nazismus war die Erfolglosigkeit der Regierungsarbeit auf den verschiedensten Sektoren, die die Verzweiflung immer weiter um sich greifen und das Mißtrauen gegen die parlamentarische Demokratie anschwellen ließ. Hiefür macht Brecht den Partei doktrinarismus verantwortlich, der es verhinderte, mit politischen Gegnern zum Wohle der Allgemeinheit zusammenzuarbeiten und lieber dem Parteigegner einen — wenn auch auf Kosten des Ganzen gehenden — Mißerfolg bereiten wollte. Es wäre zu wünschen gewesen, daß Brecht dies am Beispiel der in so unverantwortlicher Weise bekämpften Stresemannschen Außenpolitik etwas ausführlicher behandelt hätte. Überhaupt kommen die außenpolitischen Aspekte in seinem Buch etwas zu kurz. Viel eingehender befaßt er sich mit den wirtschaftlichen Problemen und den Ursachen, warum sich die Regierung diesen nicht gewachsen zeigte. Beachtenswert scheint sein Hinweis darauf, daß zur damaligen Zeit — wo noch die Erfahrungen aus dem Rooseveltschen „New deal“ und aus der Kriegswirtschaft nicht Vorlagen — die Verantwortlichen vor manchen wirtschaftlichen Maßnahmen zurückschreckten, die heute als durchaus vertretbar erscheinen würden. Als weitere Hemmungen der Widerstandskraft der demokratischen Mitte behandelt Brecht die in der Doppelgleisigkeit zwischen Reich und Bundesstaaten gelegenen Schwierigkeiten, die vielfachen Lücken, Unklarheiten und Widersprüche in der Gesetzgebung und anderes mehr, wobei der Verfasser als alter Beamter vielleicht etwas zu stark im formal-juristischen Denken verhaftet bleibt.

Richtig erscheint hingegen, wenn er die entscheidende Wendung nachstehenden drei Momenten zuschreibt: erstens der furchtbaren Enttäuschung, die sich der Nation bemädrtigte, als — unmittelbar nach den großen Erfolgen Stresemanns in der Frage der Reparationen und der Besetzung — die Weltwirtschaftskrise die ökonomische Lage Deutschlands in ärgere Tiefen abgleiten ließ als selbst in den düstersten Zeiten von 1918 bis 1923. Daß es sich um eine weltweite — nur natürlich im geschwächten deutschen Wirtschaftsorganismus besonders kraß fühlbare — Erscheinung handelte, konnten die Massen nicht verstehen, wohl aber das Schlagwort: „Da seht ihr die Früchte der Erfüllungs- und Versöhnungspolitik!“ Das zweite Moment besteht darin, daß gerade in dem Augenblick, als diese Stimmung die nazistische Bewegung zu bedrohlicher Stärke anschwellen ließ, die bisher festeste Stütze der Verfassungsmäßigkeit und Legalität — auf die sogar die Sozialdemokraten bei der Präsidentenwahl von 1932 noch fest gebaut hatten — ins Wanken geriet. Hindenburg, bei dem das Alter nun doch seinen Tribut forderte, verfiel dem Einfluß unverantwortlicher Elemente, die ihn zur Entlassung Brünings und zu den — verfassungsmäßig zumindest zweifelhaften Experimenten mit Papen und Schleicher bestimmten, von denen übrigens das letztere beinahe auf den richtigen Weg zu wirksamer Abwehr geführt hätte. Aber da trat das dritte Moment in Erscheinung, das in der unwahrscheinlichen Verblendung einiger ehrgeiziger Politiker und profithungriger Industriemagnaten bestand, die glaubten, Hitler als Vorspann für ihre Ziele benutzen und ihn dann beiseiteschieben zu können, was er dann bekanntlich selbst so gründlich mit seinen Förderern getan hat. Das Ergebnis war, daß der Reichspräsident sich durch Papen im Jänner 1933 zu der noch im August und November 19 2 energisch abgelehnten Berufung Hitlers bestimmen ließ, womit die nationalsozialistische Bewegung den Stempel der Legalität erhielt. Wie Hitler in den folgenden achtzehn Monaten bis zu Hindenburgs Tod diesen Nimbus der Legalität zu deren völligen Vernichtung und zur Aufrichtung des totalitären Terrors meisterhaft und skrupellos zu mißbrauchen verstand, wird von Brecht anschaulich und einleuchtend geschildert.

Aus Brechts Arbeit gewinnt man sicherlich mehr Verständnis dafür, „wie es möglich war“. Anders steht es mit der Frage, ob es auch so kommen „mußte“. Der Verfasser scheint — obwohl er es nicht in dürren Worten sagt — darin ein unentrinnbares Verhängnis’ zu erblicken, für das so viele Ursachen zusammengewirkt haben, daß niemandem die Veranwortung angelastet werden kann. Nun ist es ja im allgemeinen müßig, „Geschichte zu schreiben, wie sie hätte sein können, wenn..aber bei so zeitnahen Fragen, deren Wiederholung unter neuen Vorzeichen durchaus im Bereich des Möglichen liegen, sollte man sich mit diesem fatalistischen Standpunkt nicht begnügen. Es ist bedauerlich, daß Brecht keinen Versuch macht, zu untersuchen, wie der Katastrophe hätte vorgebeugt werden können. Sicher ist, daß es in Deutschland an einem Staatsmann großen Formats gefehlt hat, der alle gesunden, auf dem Boden des Rechts und der Moral stehenden Kräfte der Nation von Rechts und Links auf ein konstruktives Programm zusammengefaßt hätte. Ein soldier hätte einerseits die Rechte zur Aufgabe ihrer sturen Negation und zu loyaler Mitarbeit am neuen Staat führen, andererseits die Linke zu größerem Verständnis für die Gefühle der . traditionsgebundenen Kreise bewegen müssen. Bei zielbewußtem Zusammenwirken aller aufbauwilligen Faktoren hätte die nazistische Demagogie kaum durchdringen können, die hauptsächlich dadurch genährt wurde, daß der Staat am Gegensatz „nationaler“ und „sozialer“ Ideologien zugrunde zu gehen schien. Nur so konnte der Sirenengesang der Nationalsozialisten, der wahllos jedermann alles versprach, Gehör finden. Und weil von den Politikern der Weimarer Epoche kein einziger den Weg zu wirklicher Volksverbundenheit fand, wurde es der Rattenfängergestalt Adolf Hitlers möglich, das deutsche Volk zum Klang seiner Lockpfeife in den Abgrund zu führen.

1 Erschienen im Verlag für Geschichte und Politik, Wien 1948 (200 S.) — Englische Originalausgabe „Prelude to silence, — the end of the German Republic“, erschienen bei Oxford University-Press, New York 1944.

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