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Die Erinnerungen des Presidenten

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Harry S. Truman — Memoiren. Band I: Das Jahr der Entscheidung (1945). Alfred-Scherz-Verlag, Bern. 612 Seiten

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Harry S. Truman — Memoiren. Band I: Das Jahr der Entscheidung (1945). Alfred-Scherz-Verlag, Bern. 612 Seiten

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In der amerikanischen Verfassung ist weitestgehend Vorsorge dafür getroffen, daß die oberste Führung der Staatsgeschäfte keine Unterbrechung erleide, so der Präsident vor Ablauf seiner Amtsperiode sterben sollte oder aus anderen Gründen nicht mehr in der Lage wäre, seine Obliegenheiten zu erfüllen; sie legt genau die Reihenfolge von nicht weniger als elf Funktionären fest, angefangen vom Vizepräsidenten bis herab zum rangjüngsten Kabinettsmitglied, dem jeweiligen Arbeitsminister, die gegebenenfalls den vak*nt gewordenen Posten an der Spitze der Exekutive zu übernehmen hätten. Merkwürdigerweise aber hat gerade der erste in dieser Reihe, der Vizepräsident, eine geringere Möglichkeit als alle anderen, sich im Rahmen seiner verfassungsmäßigen Aufgaben Blit dem vielfältigen Wirkungskreis des Präsidenten der Vereinigten Staaten vertraut zu machen, geschweige denn Einblick in die in vertrautem Kreise gefaßten Beschlüsse oder getroffenen Abmachungen des Mannes zu gewinnen, dessen höchst verantwortungsvolles Amt als Staatsoberhaupt und zugleich Regierungschef ihm über Nacht zufallen könnte. Die Anomalie, daß jeder Minister, auch wenn er im Hinblick auf sein Ressort oder aus persönlichen Ursachen nicht zum engeren Rat des Präsidenten gehörte, eher in der Lage war, sich von dessen Zielen und Absichten und weltpolitischen Gedanken ein Bild zu machen als der an erster Stelle zur Ausfüllung einer präsidentiellen Vakanz Berufene, konnte niemandem klarer und bedrückender zu Bewußtsein kommen, als dem Vizepräsidenten Harry S. Truman, der am 12. April 1945, binnen weniger als zwei Stunden nachdem ihm das Ableben Roosevelts gemeldet worden war, dem Obersten Bundesrichter gegenüberstand, um den in der Verfassung vorgeschriebenen Eid als Ex-offo-Nachfolger des Verltorbenen abzulegen. Seine Kenntnis des parteipolitischen Getriebes und die Erfahrungen, die er im Senat und als dessen Vorsitzender gesammelt hatte, waren sicherlich nicht ohne Wert; sie konnten ihm •eine künftige Zusammenarbeit mit den gesetzgebenden Körperschaften und die Lösung verschiedener innenpolitischer Probleme, die sich mit zunehmender Kriegsdauer immer dringlicher gestaltet hatten, erleichtern. Aber für die Bewältigung der weitaus wichtigeren Aufgaben, die vor ihm lagen, jetzt, da er nicht allein die Außenpolitik der mächtigsten am Kriege teilnehmenden Nation zu bestimmen, sondern auch in letzter Instanz über Einsatz und Verwendung der gewaltigsten Kriegsmaschinerie, die die Welt je gesehen, zu entscheiden hatte, dafür war er mit nichts anderem ausgerüstet als mit det ehrlichen Absicht, seine Pflicht, so gut es eben ging, zu erfüllen, und mit der Erkenntnis, daß er im wesentlichen darauf angewiesen ein würde, sich auf das ihm fehlende Fachwissen und das Urteil seiner Ratgeber zu verlassen. Ob diese zu solchen Diensten wirklich befähigt und seines vollen Vertrauens würdig waren und welchen Wert ihre Meinungen und Ratschläge besaßen, das konnte er blpß gefühlsmäßig abschätzen; eine Erklärung für manche Seiten der jüngsten Geschichte, die sonst schlechthin unerklärlich wären.

Schon am Tag nach seiner Amtsübernahme empfing Truman die militärischen Führer, um sich über die Kriegslage in Europa und im Fernen Osten orientieren zu lassen: General Marshall, Stabschef des Heeres, Admiral King, Stabschef der Flotte, für die Luftwaffe Generalleutnant Giles, dann Admiral Leahy als persönlicher Stabschef und Militärexperte des Präsidenten, und mit ihnen Kriegsminister Samson und Marineminister Forrestal. „Ich kannte alle diese Männer“, so schreibt er in seinen Memoiren, „und hegte die größte Hochachtung für sie, und die Gewißheit, von so fähigen und glänzend ausgewiesenen (sollte wohl heißen „bewährten“. Der Referent) Männern beraten zu werden, beruhigte mich sehr. Ihr Bericht war kurz und sachlich. Die Niederwerfung Deutschlands würde noch mindestens sechs Monate beanspruchen. Bis zum Sieg über Japan würden weitere eineinhalb Jahre vergehen ...“ Dieses Gutachten der führenden militärischen Fachleute wurde, wie gesagt, am 13. April erstellt, zu einem Zeitpunkt also, wo es auch dem jüngsten Nachrichtenoffizier bei den alliierten Streitkräften in Europa bereits vollkommen klar war, daß der Zusammenbruch des letzten Widerstandes, den die Deutschen an einigen Stellen noch zu leisten versuchten, nur noch eine Frage weniger Tage sein konnte. Trotzdem fand Truman auch nachträglich nicht ein Wort der Kritik für eine so erstaunliche Fehlrechnung seiner militärischen Chefexperten. Gründe des Takts mögen da wohl mitgespielt haben, das Entscheidende — und politisch Verhängnisvolle — aber war, daß sein ■ Vertrauen in die Richtigkeit der Ansichten hoher Militärs, trotz aller Irrtümer, die ihnen unterlaufen waren, unerschüttert geblieben ist.

Vor Uebernahme der Präsidentschaft und selbst als Vorsitzender des Ausschusses zur Ueberwachung des nationalen Verteidigungsprogramms hatte Truman keinerlei Kenntnis von den in Gang befindlichen Arbeiten zur Auswertung der nuklearen Energie; er wußte nur, daß ein Projekt in Ausführung begriffen ei, um eine neue Waffe größter Zerstörungskraft zu entwickeln. Erst als er Präsident geworden war, machte ihm der Kriegsminister, Stimson, andeutungsweise eine Mitteilung über den Gegenstand dieses Projekts; daß es sich um die Herstellung einer Atombombe handelte und welche Wirkung von einer nuklearen Explosion zu erwarten sei, erfuhr er eine Weile später von Vannevar Bush, dem Chef der Abteilung für wissenschaftliche Forschung, der ihn im Weißen Haus besuchte. Als Bush seinen Vortrag beendet hatte, erklärte Admiral Leahy, der als der persönliche Militärsachverständige des Präsidenten zugegen war: „Das ist das blödeste Abenteuer, auf das wir uns je eingelassen haben. Die Bombe wird niemals krepieren — und ich spreche als Sachverständiger in Explosivstoffen.“ (!)

Auch die „experte“ Prognose verzeichnet Truman in seinen Erinnerungen ohne jeglichen Kommentar. Offenbar akzeptierte er selbst blindlings die Meinung des Admirals; wohl die einzige Entschuldigung für sein Drängen auf eine Teilnahme Moskaus am Krieg gegen Japan selbst dann noch, als zwischen dem japanischen Mutterland und den von Insel zu Insel vorwärtsstürmenden Truppen General MacArthurs nichts mehr lag als ein schmaler Streifen Meeres, den die amerikanischen See- und Luftflotten souverän beherrschten, und die am 16. Juli, am Tage vor Eröffnung der Potsdamer Konferenz eingelangte Meldung von der ersten Atombombenexplosion auf dem Experimentierfeld von Alamogordo, Neu-Mexiko, den letzten Zweifel darüber hätte beseitigen müssen, daß die Kapitulation Japans unmittelbar bevorstand. Hielt der Präsident, noch immer unter dem Einfluß Leahys, jenen gelungenen Explosions-versuch für einen „Zufallstreffer“, der sich nicht wiederholen würde, oder war er, ebenso wie seine sämtlichen militärischen Berater, einfach nicht imstande, eine halbwegs richtige Vorstellung von der verheerenden Gewalt ei'ier nuklearen Detonation zu gewinnen? Jedenfalls atmete er erleichtert auf, als ihm am 8. August die Meldung des US-Botschafters in Moskau überbracht wurde, daß sich die Sowjetunion mit Wirkung ab 9. August als im Kriegszustand mit Japan befindlich betrachte. Der 9. August, das war der vierte Tag nach dem Atombombenangriff auf Hiroschima und der Tag, an dem Nagasaki dasselbe furchtbare Schicksal erlitt, weniger als 24 Stunden, bevor die Radiowellen das Kapitulationsangebot der kaiserlich japanischen Regierung in die Welt hinaustrugen ... Der Krieg war zu Ende; und die russische Intervention hatte den amerikanischen Streitkräften im Fernen Osten nicht einen Schuß und nicht einen einzigen Mann erspart. Aber fünf Jahre später mußte das amerikanische Volk mit dem Blut von hunderttausend seiner Söhne im koreanischen Krieg für die „Hilfe“ bezahlen, die seine Staatsführung mit der Ueberlassung der Mandschurei und Nordkoreäs an die Herren in Moskau erkauft zu haben glaubte. Ob Präsident Truman wohl daran dachte, als er in seinen Erinnerungen schrieb: „Wie der Leser weiß, hatte mir Stalin diese Zusage (der sowjetischen Intervention gegen Japan. Der Referent) schon in den allerersten Konferenztagen gegeben, womit der vornehmlichste Zweck meiner Reise nach Potsdam erfüllt war“?

Uebrigens war es nicht so, als ob “der Präsident keine Warnungen hinsichtlich der Ziele der sowjetischen Politik empfangen hätte. Schon an seinem ersten Tage im Amt wurde ihm von Staatssekretär Stettinius ein Bericht des Staatsdepartments überreicht, der deutlich genug auf die Schwierigkeiten hinwies, die Moskau der Durchführung der Jalta-Beschlüsse, namentlich in bezug auf die Herstellung eines freien, demokratischen Regimes in Polen, Rumänien und Bulgarien, mit zäher Konsequenz entgegensetzte. Noch deutlicher war die Sprache der amerikanischen Diplomaten, so der Botschafter Harriman, Hopkins, Kennan, die im Laufe ihrer Missionen in Moskau genug gelernt hatten, um sich über die Absichten der sowjetischen Machthaber kein X für ein U vormachen zu lassen; Europa, so erklärte Harriman dem Präsidenten, stehe vor einer Invasion der Barbaren. Um erträgliche Vereinbarungen mit den Russen zu erreichen, sei es notwendig, sich von der Illusion zu befreien, daß die Sowjetregierung in nächster Zeit geneigt sein könne, sich bei der Behandlung internationaler Angelegenheiten an die von der übrigen Welt anerkannten Grundsätze zu halten. Aber gerade diese Illusion war es, die Truman nicht aufgeben wollte, obzwar das Verhalten der Sowjefregierung nach Einstellung der Kampfhandlungen in Europa ihn selbst zunehmend beunruhigte. So gab er in der Idee, durch absolut „korrektes“ Vorgehen die sowjetischen Machthaber zu gewissenhafter Einhaltung getroffener Vereinbarungen bewegen zu können, leichthin Trümpfe aus der Hand, die für eine vernunftige und gerechte Lösung schwerwiegender europäischer Probleme, und namentlich der Deutschlandfrage, von höchster Bedeutung gewesen wären. In den letzten Tagen des Krieges waren die Armeen des Generals Eisenhower ostwärts weit über die Demarkationslinie hinaus vorgedrungen, die auf d;r Konferenz von Quebec für die Okkupationstruppen der Westmächte in Deutschland — für Oesterreich und die Tschechoslowakei gab es diesbezüglich überhaupt keine Vereinbarung auf Regierungsebene — vorgezeichnet worden war. Die Notwendigkeit, das so gewonnene Faustpfand festzuhalten, solange keine Sicherheit bestand, daß die Russen ihre in Jalta übernommenen Verpflichtungen honorieren und im besonderen die Einheit Deutschlands respektieren würden, wurde von Winston Churchill sofort erkannt. Am 4. Juni 1945 richtete er nochmals eine Depesche an den Präsidenten, um ihn vor einer übereilten Preisgabe der alliierten Positionen abzuhalten: „Ich sehe dem im Mittelabschnitt unserer Front beabsichtigten Rückzug der amerikanischen Armee auf unsere Zonengrenze mit größtem Unbehagen entgegen, ist doch damit der Vormarsch der Sowjetmacht ins Herz Westeuropas und die Senkung eines Eisernen Vorhangs zwischen uns und dem ganzen Osten verbunden. Ich hatte gehofft, dieser Rückzug würde, falls er überhaupt erfolgen muß, von der Regelung vieler wesentlicher Dinge begleitet sein, die allein eine echte Grundlage des Weltfriedens darstellen könnten. Noch ist nicht von Bedeutung geregelt, und auf uns beiden lastet eine große Verantwortung für die Zukunft .. .“ Aber auch diese eindringliche Warnung des britischen Premiers fruchtete nichts; nicht zuletzt wohl deshalb, weil der alliierte Oberstkommandierende, General Eisenhower, „es nicht für klug zu halten schien, unsere Truppen in der russischen Zone zu belassen“. Und so kam es zum Räumungsbefehl des amerikanischen Präsidenten: mit genau den Folgen, die Churchill vorausgesehen hatte ...

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