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Ronald Reagans Traum von der Unverletzlichkeit

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Ronald Reagans Strategische Verteidigungsinitiative (siehe FURCHE Nr. 6/85) beherrscht immer mehr den außen- und sicherheitspolitischen Dialog zwischen den USA und Europa. Grund genug, zum ganzen Konzept einer defensiven Weltraumverteidigung auch einen österreichischen Experten zu Wort kommen zu lassen.

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Ronald Reagans Strategische Verteidigungsinitiative (siehe FURCHE Nr. 6/85) beherrscht immer mehr den außen- und sicherheitspolitischen Dialog zwischen den USA und Europa. Grund genug, zum ganzen Konzept einer defensiven Weltraumverteidigung auch einen österreichischen Experten zu Wort kommen zu lassen.

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Grundlage der Sicherheit der beiden großen Nuklearmächte — damit aber auch der Sicherheit vieler anderer — war in den letzten Jahrzehnten ein auch durch Verträge besiegelter strategischer Konsens. Seine einfache Formel ist schon aus biblischen Zeiten bekannt und beruht auf dem Einvernehmen, als Preis für den Einsatz (Erstschlag) nuklearer Waffen die eigene Vernichtung hinzunehmen. „Aug um Aug, Zahn um Zahn” heißt übersetzt in die Sprache des 20. Jahrhunderts: New York gegen Moskau, Chicago gegen Leningrad oder Texas gegen die Ukraine.

Um dieses Einverständnis — das „Gleichgewicht des Schreckens” — glaubwürdig zu machen, haben sich USA und Sowjetunion gegenseitig ein hohes Maß an „Verwundbarkeit” zugestanden, das heißt, sich schließlich auch vertraglich zugesichert, auf jede systematische „Verteidigung” gegen Atomraketen des anderen zu verzichten, also diesem den Zweitschlag zu ermöglichen.

Tatsächlich sieht daher der 1972 zwischen US-Präsident Richard Nixon und KPdSU-Chef Leonid Breschnew ausgehandelte ABM-Vertrag einen gegenseitigen Verzicht auf Raketenabwehrwaffen vor, wobei jeder Seite allerdings ein ABM-System zugestanden wird. Haben die USA auf den Bau eines solchen nicht nur kostspieligen, sondern auch technisch sehr anspruchsvollen Systems völlig verzichtet, hat die UdSSR die entsprechenden Vertragsbestimmungen genutzt und rund um Moskau ein Raketenabwehrsystem errichtet.

Dieser sowjetisch-amerikanische Konsens wurde auch in den letzten Jahren mit ihrem aufge-hitzten Rüstungsklima nicht wirklich in Frage gestellt. Wuchs zwar mit jeder neuen SS-20-Ra-kete und jeder Pershing-2 das Potential an „overkill”, konnten sich auf einzelnen Sektoren Gleichgewichtsverhältnisse zugunsten dieser oder jener Seite bewegen — die Grundvoraussetzungen, die in den letzten Jahrzehnten die direkte Konfrontation zwischen den Supermächten immer undenkbarer gemacht haben, blieben bestehen.

Trotz dieses unbestrittenen Erfolges in der Realpolitik wurde diese Grunddoktrin heutiger weltpolitischer Sicherheit immer wieder in Frage gestellt:

Zu einer Auseinandersetzung fordert vor allem die unhaltbare moralische Basis einer Sicherheitsdoktrin heraus, die Gewalt nur unter Androhung der Vernichtung fast der gesamten Menschheit verhindern kann. Nicht geringere Angriffspunkte bietet aber eine Doktrin auch dann, wenn sie praktisch keinerlei Gegenkräfte gegen das ständige Weiterdrehen der Rüstungsspirale entwickelt, ja sich gerade in dieser Hinsicht im besten Fall als neutral, im schlimmsten Fall als stimulierend erweist.

An Versuchen, einem scheinbar unentrinnbaren moralischen, aber auch strategischen Dilemma zu entkommen, hat es daher besonders in den letzten Jahren nicht gefehlt. Sie reichen von den Vorschlägen der Palme-Kommission, einen ganz neuen Sicherheitsbegriff zu schaffen bis zu allerlei mehr oder minder geglückten Manipulationen mit der etablierten Sicherheitsdoktrin, bei denen auch Gedankenspiele über den „begrenzten” Atomkrieg nicht fehlten.

Die bisher spektakulärste Abwendung von der bisherigen Sicherheitspolitik war aber ohne Zweifel in der Rede enthalten, mit der niemand anderer als der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika vor nunmehr zwei Jahren Freund und Feind eine gewaltige Überraschung bereitete.

Nicht mehr und nicht weniger nämlich versprach Ronald Reagan am 23. März 1983, als Atomwaffen „machtlos und obsolet” zu machen.

Verheißen wird eine revolutionäre neue Strategie der Sicherheit, fern der unmoralischen Bedrohung menschlichen Lebens durch gegenseitige Vernichtung. Näher gerückt erschien so für einen magischen Augenblick der tiefe Wunsch der Menschen nach einer Welt ohne Atomwaffen.

Nicht die Abkehr von Atomwaffen allerdings ist es, die in den beiden letzten Jahren eine so leidenschaftliche Diskussion um einen Vorschlag ausgelöst hat, der seither weder die westliche Öffentlichkeit noch den Dialog zwi-

,,Nicht nur auf das strategische Verhältnis der beiden Supermächte wirft die SDI ihren Schatten” sehen den Supermächten zur Ruhe kommen ließ: Immer mehr verschwimmen nämlich die Konturen des Weges, der in die verheißene Welt ohne Atomwaffen führen soll.

War alles bisherige strategische Denken über die Abschaffbarkeit von Atomwaffen nämlich von Überlegungen geleitet, durch welche Anreize Zahl, Zerstörungskraft und Treffsicherheit von Raketen vermindert werden können, geht der Plan Präsident Reagans von einem anderen Denkansatz aus: auf welche Weise ein möglichst undurchdringlicher Schutzschild gegen atomare Raketen geschaffen werden könnte.

Dieser Traum von der Unverletzlichkeit — in den USA dank ihrer geographischen Lage noch bis zum Zweiten Weltkrieg Wirklichkeit — stellt allerdings die bisher radikalste Antithese zur existierenden Sicherheitskonzeption dar und zerschneidet mit einem Schlag das prekäre Band gemeinsamen Interesses, das bisher USA und Sowjetunion in Bann hielt. An seine Stelle soll „Sicherheit in einem Land” treten.

Die bisherige Diskussion hat darüber hinaus gezeigt, daß selbst wer bereit wäre, einen so hohen Preis für die Abschaffung von Atomwaffen zu bezahlen, noch vieles andere in seine Überlegungen einbeziehen müßte.

So erscheint nach wie vor keineswegs die technische Greifbarkeit eines Systems gesichert, das nicht nach einem, sondern gleich mehreren elementaren technologischen Durchbrüchen verlangt: Auch der Vergleich mit dem „Manhattan-Projekt” — dem die Erfindung der Atombombe gegen Ende des Zweiten Weltkriegs zu verdanken ist - reicht nicht aus, um die Natur dieser neuen technologischen Revolutionen zu beschreiben. Selbst ein Erfolg würde allerdings nach Aussage fast aller amerikanischer Wissenschafter einen 100 Prozent sicheren Abwehrschirm nicht produzieren können.

Nicht geringere Bedenken lösen die Kosten einer technischen Entwicklung aus, neben der selbst die Aufwendungen für die amerikanischen Mondfahrtprogramme der sechziger und siebziger Jahre verblassen: Aufgesaugt würde nicht nur jeder Dollar, der für militärische, sondern auch viele Dollars, die für zivile Forschung dienen könnten.

Dazu kommt schließlich, daß sich praktisch jedes erfolgversprechende System einer Dimension bedienen müßte, die einst einer ausschließlich friedlichen Nutzung, „zum Wohle der gesamten Menschheit”—wie es in einem von den beiden Supermächten 1967 ausgehandelten Vertrag heißt -, vorbehalten schien: des Weltraums und der erdnahen Atmosphäre.

Schien die Drohung einer Militarisierung des Weltraums bisher vor allem von der Entwicklung von Anti-Satellitenwaffen auszugehen, erhält sie durch Ronald Reagans „Strategische Verteidigungsinitiative” (SDI) eine völlig neue Qualität.

In diesem Teil der Bilanz fehlt aber noch immer die entscheiden-ste Komponente: die Reaktion der anderen Supermacht. Die Natur dieser Reaktion wird davon abhängen, ob es sich bei den neuen amerikanischen Plänen lediglich um eine vorgeschobene Verhandlungsposition handelt, die im Zuge sowjetisch-amerikanischer Einverständnisse wieder zurückgenommen werden kann oder tatsächlich, wie Sprecher vom rechten Flügel der Reagan-Administration immer wieder behaupten, um einen zentralen Bestandteil einer neuen amerikanischen Strategie.

Bliebe es bei einem Produkt der Verhandlungstaktik, dem Versuch, der Sowjetunion die Nachteile eines technologischen Wettbewerbs mit unsicherem Ausgang vor Auge zu führen, wäre vielleicht ein Teil der amerikanischen Taktik bereits aufgegangen. Viele meinen nämlich, daß die Rückkehr der Sowjetunion zu den Genfer Verhandlungen einiges mit der Konsequenz zu tun haben, mit der Präsident Reagan seine „Strategische Verteidigungs-Initiative” verfolgt.

Weniger willkommen könnten allerdings Reaktionen der Sowjetunion auf Schritte zur tatsächlichen Realisierung der „Initiative” sein: Nicht nur würde sich die Sowjetunion legitimiert fühlen, ihren eigenen Raketenschirm zu bauen, auch der Versuch, durch die Entwicklung besserer Offensivwaffen den amerikanischen Schirm wirkungsvoll zu durchlöchern, würde den Grundstein eines neuen gigantischen Wettrüstens legen.

Aber nicht nur auf das strategische Verhältnis der beiden Supermächte wirft die „Initiative” ihren Schatten. Verunsichert reagieren auch die westlichen Verbündeten, die wenig Gewißheit darüber haben, ob das, was der britische Außenminister Sir Ge-offrey Howe als „Maginot-Linie” im Weltraum bezeichnet, auch dazu tauglich sein wird, vorgeschobene Positionen in Europa mit gleicher Verläßlichkeit zu schützen wie der bisherige atomare Schirm.

Solche Zweifel und Bedenken will die amerikanische Administration offenbar mit dem in diesen Wochen an Europa gerichteten Anbot entgegenkommen, an den für die nächsten fünf Jahre beabsichtigten Forschungsarbeiten, für die nicht weniger als 30 Milliarden Dollar aufgewendet werden sollen, teilzunehmen.

Für die demokratischen Industriestaaten Westeuropas, ob sie nun dem Atlantischen Bündnis angehören oder wie Österreich neutral sind, ist die Diskussion um eine „Strategische Verteidigungs-Initiative” daher weit mehr — wie in diesen Tagen in manch einer westlichen Hauptstadt verharmlosend gesagt wird - als eine „technologische Heroine noch größere Herausforderung ist die Frage nach den Mitteln zur Friedenserhaltung” ausforderung”. Herausgefordert sind nicht nur Industrie und Forschung Westeuropas gegenüber einem gigantischen Versuch der Mobüisierung zur Entwicklung neuer und vielleicht wirklich revolutionärer Kriegstechniken.

Eine noch größere Herausforderung ist die Frage, mit welchen Mitteln der Friede in unserer Zeit erhalten werden kann: durch den Griff nach immer neueren und perfekteren Technologien der Zerstörung oder durch die Rückkehr zu einer anderen, menschlicheren Logik — nämlich dem Versuch, Konflikte und Gegensätze vor allem mit den Mitteln einer Politik der Vernunft zu lösen.

In diese Richtung weisen auch Initiativen des französischen Präsidenten Mitterrand, der die Europäer in diesen Tagen aufruft, an einer Mobilisierung anderer Art für den Weltraum teilzunehmen.

Entstehung und Inhalt des geplanten Verteidigungssystems im Weltraum weisen es eindeutig als Projekt einer Zeit aus, in der das Gespräch zwischen Ost und West — zum Erliegen gekommen ist.

Der Wiederbeginn dieses Dialogs erlaubt daher die Hoffnung, daß mit dem Plan zur „Sicherheit in einem Land” auch seine psychologischen und politischen Grundlagen in Frage gestellt werden könnten: tiefsitzendes Mißtrauen zwischen Moskau und Washington, das in den Jahren von Afghanistan bis Grenada, von der Aufstellung der SS-20-Rake-ten bis zum „Star Wars”-Konzept so vieles an den Grundlagen zerstört hat, auf denen durch viele Jahrzehnte die Beziehungen zwischen Ost und West beruht haben.

Eine ungewöhnlich schwere Verantwortung lastet daher heute auf den Unterhändlern von Genf. Nicht die geringste ist die Zukunft des Weltraums, dem noch vor gar nicht allzu langer Zeit „ausschließlich friedliche Nutzung” bestimmt erschien.

Der Autor dieses Beitrags, Abg. z. NR Peter Jankowitsch, ist seit 1972 Vorsitzender des UN-Komitees für die friedliche Nutzung des Weltraums.

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