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Kleine Hoffnung für die Kleinen

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Nach wochenlanger Verhandlung wurde die Wiener Runde der SAL-Gespräche unterbrochen und soll in zwei Monaten, nach dem Peking-Besuch von Präsident Nixon, wieder aufgenommen werden.

Haben die Gespräche in Wien zu einem Ergebnis geführt? Nixon hat vor einigen Tagen seine Zuversicht auf ein positives Resultat ausgesprochen; vermutlich aus wahltaktischen Gründen. Ein europäischer Kommentator kann leider diese Hoffnung nicht teilen, denn bei 115 Gesprächen, die in sechs Abschnitten abgehalten wurden, müßte doch ein positives Resultat sichtbar sein. Leider nein. Sicher, daß beide Partner ihre Ansichten und eventuellen Zugeständnisse in den harten Verhandlungen genügend vorgetragen haben, aber eine Brücke zu einem Vertrag, der von beiden Teilen für notwendig gehalten wird, konnte nicht geschlagen werden.

Die eine Ursache kann in der Erkenntnis der Russen liegen, daß Nixon früher einen Vertrag braucht als sie und zum Schluß doch nachgeben muß, die andere Ursache liegt im Versuch der Amerikaner, ihren Nachholbedarf vornehmlich auf dem Gebiet der Atom- und Raketenforschung aufzuholen. In der Gegenrakete oder Abwehrrakete, die rechtzeitig in großer Höhe und weitab vom Ziel anfliegende Feindraketen zerstören soll, hatten die Russen vor zwei bis drei Jahren einen Vorsprung, der den Plan der Amerikaner, in einer zweiten Abschlagrunde ,,second-strike“-Abschüsse aufzufangen, zunichte machen sollte. Damit hat Moskau den Raketenplan des Pentagon in Frage gestellt. Unter Johnson geriet wegen der Rüstungsausgaben im Vietnamkrieg die Forschung gegenüber den Russen in die Nachhand, die jetzt mit viel Energie wettgemacht wurde.

Dazu kommt, daß Nixon für Peking keinen Vertrag oder Vertragsentwurf brauchen kann. Denn die Chinesen, die bisher von allen Atombegrenzungsverhandlungen ausgeschlossen waren, sind böse; sie behaupten heute mit Recht, auch eine Atommacht zu sein und sind sehr allergisch gegen jede Diskriminierung. Nixon muß auf diese chinesischen Gefühle Rücksicht nehmen und hat daher eine bessere Basis in Peking, wenn er keinen Vertrag mitbringen kann.

Die Situation ist also die gleiche geblieben: beide Weltmächte haben nicht nur nicht abgerüstet, sondern die Zeit der Verhandlungen zu neuen, moderneren „verbesserten“ Rüstungen reichlich und mit Energie ausgenützt.

Eine Entwicklung, die auf jeden Fall nur von der amerikanischen Rüstungslobby und den Zaren der russischen Schwerindustrie begrüßt werden kann. Die Diplomaten tun sich offensichtlich immer schwerer, diese Entwicklung in den Griff zu bekommen. Der Grund liegt im Willen der Beteiligten, von einer Position der Stärke aus zu verhandeln und der Gegenseite mit immer perfekteren Waffensystemen Zugeständnisse abzuringen.

So sprechen zahlreiche Beobachter den Sowjets nun endgültig die Bereitschaft ab, sich mit einem atomaren Patt zufrieden zu geben. Als Beweis führen sie die kontinuierlich steigenden Produktionsziffern russischer Interkontinentalraketen an. Während die Vereinigten Staaten ihr atomares Trägerpotential seit Jahren bei 1054 Offensivraketen eingefroren haben, überraschen westliche Experten die Öffentlichkeit laufend mit neuen Meldungen über das russische Raketenarsenal. Schätzte man an der Jahreswende 1970/71 die Fernraketen Moskaus noch auf knapp 1300 Stück, so liegen die Vermutungen der Experten des Londoner Instituts für strategische Studien bereits bei mehr als 1500 Raketen.

Große Sorge bereitet den westlichen Militärs vor allem die russische SS-11, ein ballistisches Trägersystem mit variabler Reichweite, das sowohl eine Verwendung im Mittelstreckenbereich als auch über interkontinentale Entfernungen erlaubt. Damit verfügen die Sowjets über ein nur schwer taxierbares Potential an Mittelstreckenraketen. Von Seiten des Kreml wird nun dieses Waffenpaket, das mehrheitlich gegen Mittel- und Westeuropa gerichtet ist, zum Tausch gegen das atomare Potential der NATO angeboten.

Der Nordatlantikpakt sieht in seinen Atomwaffen jedoch den Schild für die Strategie der „flexible response“ — der gestuften Antwort auf einen Angriff aus dem Osten. So hat man diesen Waffenbereich auch bisher aus den SAL-Gesprächen ausgeklammert und will ihn den Verhandlungen um einen ausgewogenen Truppenabbau in Europa überlassen. Eine einseitige Verdünnung der atomaren Streitmacht der NATO könnte nämlich zu einer gefährlichen Unstabilität führen. Denn die atomare Abschreckungskraft des Westens schien bisher der einzig mögliche Ausgleich zu der erdrük-kenden konventionellen Stärke des Warschauer Paktes.

Für die Habenichtse keine erfreuliche Lage. Österreich kann nichts dazutun — außer einem Empfang beim Bundespräsidenten, polizeilichen Schutz und freundliche Betreuung. Es bleibt uns nur das Warten übrig.

Warten und Hoffen auf Vernunft? Gibt es sie, vor allem in der großen Politik? Vielleicht sind in den nächsten Verhandlungen besonders bei Nixons Besuch in Moskau Ergebnisse möglich und kleine Fortschritte zu erwarten; Teilbeschränkungen auf qualitativem oder quantitativem Gebiet, wobei immer noch das Kontrollrecht offen bleibt. Ohne dieses Recht sind alle Verhandlungen und Besprechungen, besonders mit dem Osten, sinnlos. Die Sowjets haben zu viele Möglichkeiten der Tarnung, weil Staatsbürger und Massenmedien einer harten Spionagebestrafung ausgesetzt sind, während der Westen schon im vorhinein alles ausplaudert und dem Osten gratis berichtet. Was sie nicht wissen, brauchen sie nur in den Zeitungen zu lesen.

Aber trotz allem — solange verhandelt wird, wird nicht geschossen. Ein kleiner Trost, eine kleine Hoffnung, die den Kleinen bleibt.

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