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Gesucht: Globale Friedensstrategie

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In Genf wird weiter an zwei herkömmlichen Abrüstungsfronten gepokert, und schon darüber muß man froh sein. Aber immer lauter ertönt der Ruf nach einem neuen Konzept.

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In Genf wird weiter an zwei herkömmlichen Abrüstungsfronten gepokert, und schon darüber muß man froh sein. Aber immer lauter ertönt der Ruf nach einem neuen Konzept.

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Die Verhandlungen über Mittelstreckenatomraketen (INF) sind in die Schlußrunde eingebogen, jene über strategische Langstreckensysteme (START) noch kaum über die Startrampe gekommen. Aber immer häufiger taucht die Frage auf, ob solche Verhandlungen nicht eigentlich überholt sind: von der immer rasanter sich ändernden Technik, die es immer sinnloser erscheinen läßt, getrennt über Sprengköpfe,

Nutzlasten, Reichweiten und Treffsicherheiten zu reden, statt eine völlig neue „planetare Friedensstrategie” ins Visier zu nehmen.

Die heutigen Sicherheitssysteme der Supermächte entstammen ihrem Wesen nach einer Zeit, in der Staaten einander näherkommen, sich aber auch wieder voneinander lösen und dementsprechend zwischen Konfrontation, Kooperation oder Isolation wählen konnten.

Bei den Waffen von heute, mit denen das Zerstörungspotential des gesamten Zweiten Weltkrieges in einer einzigen Sekunde entfesselt und zwei volle Wochen lang durchgehalten werden könnte, bietet ein solches Sicherheitssystem auf Dauer keine Sicherheit mehr. Im „Raumschiff” Erde gilt es, Anarchie und wechselseitiges Ab schlachten zu verhinder…icht nur darüber zu diskutieren, wie viele Taschenmesser und Revolver jeder „Fahrgast” besitzen darf.

Der neue geopolitische Faktor, den es zu berücksichtigen gilt, ist der Weltraum, durch den die Raketen in Minutenschnelle über Länder und Kontinente ziehen. Sollte eine Weltmacht das All militärisch „okkupieren”, käme das einer unaufhaltsamen Erdbeherrschung gleich. Das Monopol der All-Macht wäre eine nahezu unwiderstehliche Versuchung zu gigantischer politischer Erpressung.

Die erste Schlußfolgerung, die daraus zu ziehen ist, müßte eigentlich logischerweise eine Absage an jedes von nur nationalen Interessen ausgehende Sicherheitssystem sein. Sicherheit ist weltweit unteilbar geworden.

Zur makabren Dialektik der heutigen Situation gehört die Tatsache, daß die neuen Technologien (vor allem im Kommunikationsbereich) uns gleichzeitig Segen und Fluch beschert haben: Sie erlauben ein unfaßbares Maß an Durchschauen des Gegners (man spricht von einer „Transparenzrevolution”), und sie spornen gleichzeitig den Rüstungswettlauf zu immer irrsinnigeren Rekorden an.

Die „Transparenzrevolution”: Der US-Geheimdienst hat jedes je aufgezeichnete elektronische Signal aus der Sowjetunion gespeichert. Schon während des Vietnam-Krieges suchte President Johnson morgens auf einer Detailkarte die „Bombenziele des Tages” persönlich aus und inspizierte am Abend die Ergebnisfotos von Aufklärungsflugzeugen.

Heute führen die US-Aufklä- rungssysteme vom Typ AWACS Radaranlagen an Bord, die hunderte Flugzeuge innerhalb von 320 km Radius gleichzeitig orten. Das nordamerikanische Luftraumverteidigungszentrum verfolgt auf Bildschirmen 4500 künstliche Objekte im Weltal…ogar der verlorene Handschuh eines Astronauten entging ihm nicht.

Auch die feste Erde ist transparent geworden: In gewissen Steinschichten kann das Bohren nach Erdöl Hunderte Kilometer weit mitgehört werden. Genauestens ist jeder unterirdische Atomwaffenversuch abzuhören (und von Erdbeben zu unterscheiden).

Schwieriger ist die Lokalisierung noch in den Tiefen der Ozeane, weil elektromagnetische Strahlen Wasser nur schwer durchdringen und die Schallwellenmethode besonders in seichten oder turbulenten Gewässern ihre Mängel hat.

Aber ein technologischer Durchbruch wird auch hier erwarte…nd dann sind auch die US-Atomunterseeboote, die den sowjetischen technisch erheblich überlegen sind und derzeit rund drei Viertel der amerikanischen strategischen Sprengköpfe tragen, plötzlich verwundbar geworden.

Unterwasserabhöranlagen erstrecken sich in dichter Kette um die Ein- und Ausgänge des Mittelmeers, von Grönland über Island bis Schottland und in vielen anderen sensiblen Regionen.

Von MAD bis DEAD

Die alt… aus Hitlerdeutschlands letzten Kriegsmonaten ist, mit tausendfach verbesserter Zielgenauigkeit, als Langstrek- kenrakete zurückgekehrt, di… von einst als Marschflugkörper (cruise missile) zur begehrten modernen Waffe geworden, die auf Radarschirmen nur ein Zweihundertstel der Größe eines bemannten Bombers ausmacht.

Die neuen Kommunikationstechnologien sind selber keine Waffen, aber sie haben die Waffenwirkung vertausendfacht. „Der Erzherzog Ferdinand des Dritten Weltkrieges könnte leicht eine wichtige Luftaufklärungsplattform sein, die in einer kritischen Situation während einer Krise zwischen den Supermächten abgeschossen wird”, schrieb Daniel Deudney vom Worldwatch Institute in Washington in Heft 55 der Worldwatch-Paper-Serie („Whole Earth Security…eopolitics of Peace”).

Der Autor erinnert auch daran, daß die bisherigen Atomstrategien mit MAD (Mutually Assured Destruction) und neuerdings mit NUTS (Nuclear Utilization Theories) abgekürzt wurden: beides heißt auf Deutsch „verrückt”. Die nächste Entwicklungsstufe könnte DEAD („tot”) sein: destruction-entrusted automatic devices, „mit Zerstörung beauftragte automatische Geräte”.

Konkret: Bisher war in den USA geplant, einen allfälligen sowjetischen Raketenangriff aufzunehmen und dann mit einem Gegenschlag zu antworten. Jetzt wird mit dem Gedanken gespielt, schon die angreifenden Raketen mit einem Gegenschlag abzufangen oder die Vergeltungsraketen auf Sowjetziele schon vor Eintreffen der Sowjetraketen abzufeuern. Dafür stünde so wenig Zeit zur Verfügung, daß unter Umständen nicht mehr der Präsident, sondern Militärkommandanten den Einsatzbefehl geben müßte…der ein Automat!

Riskanter Wahnwitz

Daniel Deudney (dessen Worldwatch Institute übrigens eine konservative und nicht vielleicht eine „linke” Institution ist) meint, solch riskanter Wahnwitz reiche wohl für die Forderung nach einer neuen planetaren Friedensstrategie. Da ist er wohl nicht allein. Was könnten ers’te Elemente eines solchen neuen Sicherheitssystems sein?

A AlsersterSchrittmehrwissen- schaftliche Zusammenarbeit der Supermächte, wie sie Edward Teller seit langem fordert. Geheimniskrämerei bringt nur kurzfristig Vorteile, macht den Gegner aber noch mißtrauischer und spornt ihn zum Weiterdrehen an der Rüstungsschraube an (wie die vermeintliche Raketenüberlegenheit der Russen nach dem Sputnik-Schock von 1957 die Amerikaner zu hektischem Raketenrüsten antrieb, ehe moderne Spionagemethoden die Fehleinschätzung entlarvten, worauf sich Präsident Kennedy bei der Kuba- Raketenkrise 1962 Stärke leisten konnte).

Konkret könnten die USA und die UdSSR Raumfahrtexperimente nur noch gemeinsam betreibe…nd jeder wüßte, was der andere kann.

• Beschränkungen in der Entwicklung neuer Waffen: Ein umfassendes Testverbot wäre noch wichtiger als Abkommen über schon postierte Waffen. An das Verbot, im All, in der Atmosphäre und in Meeren Atomversuche zu unternehmen hielten USA, UdSSR und Großbritannien sich seit Vertragsabschluß 1963; aber 800 (weiterhin erlaubte) unterirdische Atomwaffenversuche fanden seither statt.

• Ozeanabkommen über Regionen, in denen amerikanische, sowjetische oder britische Atom-U- Boote stationiert sein dürfen, und andere Meeresteile, wo sie unter keinen Umständen sich aufhalten dürfen, wären sinnvoller als die hektische Suche nach besseren Aufspürmethoden, die sogar eine entscheidende Gleichgewichtsstörung herbeiführen könnten.

• Atomwaffenfreie Zonen auf dem Festland könnten trotz ihrer Problematik, die vor allem in der Geographie liegt, als vertrauensbildende Maßnahmen einen Sinn haben. Neben Lateinamerika kämen die Küsten und Inseln des Indischen Ozeans…kandinavien (aber unter Einschluß der sowjetischen Halbinsel Kola!) und nach Deudneys Vorschlag auch Mitteleuropa in Frage.

• Japan könnte ein Beispiel für strategisches Umdenken geben. Derzeit steht es unter starkem Druck der USA, erheblich aufzurüsten. Das würde zu internen Konflikten, möglicherweise zu einer von der UdSSR ausgelösten Krise in Fernost und zu wachsender Sorge der Nachbarn führen. Außerdem würde ein auch militärisch wiedererstarktes Japan sich von den USA bald absetzen und stärker Eigeninteressen folgen.

Könnte nicht gerade Japan sich mit dem Bau von Uberwachungs- systemen für U-Boot-freie Zonen und Krisenmanagement sowie mit Entwicklungshilfe an einer neuen Weltstrategie für globalen Frieden beteiligen?

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