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Die westliche Welt und das Atom

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Zu den Bestsellern in Großbritannien und den USA gehören seit jüngstem Bücher über die Astronomie oder, wie man jetzt sagt, „Kosmologie“. Bücher mit Titeln wie „The Earth, Man and the Cos-mos' von Sir Richard Gregory, einem Mitglied der Royal Society, haben einen von vornherein gesicherten Absatz. Der englische Gelehrte Fred Hoyle hinterließ mit seinen Radiovorträgen einen so tiefen Eindruck, daß sie nicht nur mehrmals Ober verschiedene Wellenbänder wiederholt wurden, sondern jetzt auch in Buchform erschienen sind („The Nature of the Universe“, Blackwell). Die Erklärung dieses Phänomens ist eine recht naheliegende. Durch die Entfesseluhg der Atomkraft wurde man mit Gewalten vertraut, die auch im Universum bestimmend wirken, mit der Arbeit an der H-Bombe aber rückt zum erstenmal die Möglichkeit einer globalen Katastrophe in den Bereich theoretischer Spekulation. Fred Hoyle hat in seinen Rundfunkvorträgen die Möglichkeit eines terrestrischen Unterganges nicht völlig ausgeschlossen, sie nur für sehr, sehr unwahrscheinlich erklärt. Er und seine amerikanischen Kollegen sehen die Gefahr vor allem in einer Explosion der H-Bombe in der Tiefe des Ozeans, die eine Massenumwandlung des Wasserstoffs in Helium auslösen würde, falls in dem entscheidendsten Bruchteil einer Sekunde die dazu notwendigen unvorstellbaren Temperaturen erreicht werden könnten. Demnach könnte nun die Türe wirklich mit einem Knall zugeworfen werden, demgegenüber Hitlers Abgang bloß wie das Davontrollen eines schmollenden Kindes wirken würde. Im übrigen haben die Wissenschaftler selbstverständlich nur die theoretischen Möglichkeiten behandelt, es erübrigt sich ja auch darauf hinzuweisen, daß die Anwendung einer so „überdimensionierten“ Waffe keinerlei irdischen Zielsetzung mehr dienen könnte. Leider muß die Möglichkeit kleinerer Untergänge nach dem Hiroshima-Nagasaki-Modell schon ernstlicher in Erwägung gezogen werden, so daß sowohl die Regierung der Vereinigten Staaten wie auch die englische nun „Handbücher für den Atomkrieg“ herausgegeben haben und an den Ausbau der bestehenden „Civil Defence Force“ geschritten sind.

Der Zweck dieser Publikationen ist ein zweifacher. Zunächst soll die Bevölkerung in allgemeinverständlicher Weise mit den Erfahrungen und Erkenntnissen vertraut gemacht werden, die man bei den bisherigen Atomexplosionen sammeln konnte, Sodann soll das fassungslose Grauen durch eine Einstellung ersetzt werden, aus der heraus noch vernünftige, eindämmende Maßnahmen getroffen werden können. Es zeigt sich dabei, daß die englische öfentlichkeit viel ruhiger, gelassener reagiert hat als die amerikanische, die auch den zweiten Weltkrieg in relativer Sicherheit und Ruhe hatte verbringen können. Plötzliche Panikausbrüche, wie die auf einer amerikanischen Untergrundstation, wo zur selben Zeit das Licht erlosch und ein Zug mit donnerähnlichem Geräusch einfuhr, so daß die Masse annahm, der Atomkrieg hätte schon begonnen, wären auf den britischen Inseln kaum vorstellbar. Auch die Flucht auf das amerikanische Land, von dem die Grundstückmakler in Connecticut zu berichten wußten, die nach der Herausgabe des Handbuches über den Atomkrieg mit Aufträgen aus New York, Boston und anderen Großstädten überschüttet wurden, läßt sich in England nicht beobachten. Die Annoncen der bekannten Zeitschrift „Country Life haben ihr traditionelles Gepräge behalten, vergeblich sucht man nach den da und dort in den USA aufscheinenden Annoncen wie „Landgrundstück für das heutige Atomzeitalter“ oder „Geschützter Landsitz zu verkaufen“ oder einfach „Sicheres Leben auf dem Lande“.

Als Gegenmittel solcher Psychose hat man versucht, die Atombombe dem Publikum als eine Waffe „wie andere Waffen auch“ zu schildern, einen Versuch, den bereits Vannevar Bush, der Vorsitzende des „Wartime Defence Committee“, in seinem bekannten Buch „Waffentechnik und freie Menschheit“ unternommen hat. Auch beim ersten Uberlesen des englischen Handbuches „Manual for Basic Training“ gewinnt man den Eindruck, klarer zu sehen und die Gefahr, deren Größe ja niemand unterschätzt, immerhin ruhiger beurteilen zu können. Doch bei genauerem Studium beginnt sich dieser wohltuende Eindruck wieder etwas zu verflüchtigen. Durch die so vernünftigen, so englischen Sätze, durch die vorsichtige Stilisierung Whltehalls reiten „Wenn“ und „Aber“ wie apokalyptische Reiter. Es ist nichts ganz bestimmt, nichts wirklich verläßlich.

Da heißt es etwa: „Die Gefahr einer vorübergehenden

Sterilität kann als gegeben angenommen , werden. Man muß sich jedoch darüber im klaren sein, daß genaue Untersuchungen in

Hiroshima und Nagasaki ergeben haben, daß es sich hier um eine rein vorübergehende Phase handelt.“

Wie vorübergehend? Wir wissen es nicht. Oder:

„Die Wahrscheinlichkeit, daß sich bei einer Explosion über der Erdoberfläche (radioaktive) Partikelchen in gefährlicher Menge über dem Zielgebiet ablagern, ist gering.“

Wie gering?

Und an einer anderen Stelle:

.Die Mauern eines normalen Wohnbaues oder eines oberirdischen Bunkers ... würden sicherlich Schutz gewähren, wenn auch nur begrenzten Schutz, der von der Distanz zum Explosionszentrum abhängig ist.“

Wie begrenzt, welche Distanz? Dies scheint die Kriegsführung der Konjunktive zu sein, in der es nur Gewißheiten negativer Art gibt. Auch dafür ein Beispiel:

.Es gibt im Augenblick — von natürlichem Abbau abgesehen — keinen für die .Civil Defence Force“ gangbaren Weg, der Radioaktivität Herr zu werden.“

Das Fatale an dieser Aussage ist natürlich, daß die Radioaktivität vorübergehend sein kann (wie die Periode der Sterilität), aber auch einige tausend Jahre anhalten mag, ein Zeitraum, währenddessen ganze Landstriche unbewohnbar blieben. Indes hat sich die Phantasie am meisten durch jene Seiten des Handbuches angeregt gefühlt, die fehlen! Es folgt nämlich auf Seite 34 die Seite 39, und wenn auch einleitend gesagt wurde, daß vielleicht später neue Informationen beigeheftet werden sollen, so ist doch die Annahme weitverbreitet, daß die Regierung im letzten Augenblick davor zurückgeschreckt sei, die Erkenntnisse jener vier

Seiten publik zu machen. Die bekannte Wochenzeitschrift „New Statesman and Nation hat ihren Beitrag über das Handbuch unter dem unheilverkündenden Titel „Die fehlenden Seiten“ veröffentlicht. Dabei wurde der Versuch gemacht, aus dem allgemeinen Zusammenhang auf den Inhalt der Seiten 34 bis 39 zu schließen, und die Behauptung aufgestellt, daß hier von dem unheimlichsten Aspekt radioaktiver Wirkung, der Veränderung der Chromosome, der Gen-Schäden kommender Generationen, die Rede war.

Von jener „biologischen Zeitbombe“ also, die in den kalifornischen Alpträumen des Dichters Huxley eine solche Rolle spielte und in dem utopischen Roman „Ape and Essence“ ihren Niederschlag fand. Blättert man, mit solch düsteren Möglichkeiten beschäftigt, durch das englische Handbuch, um wie von ungefähr an die einleitenden Sätze Attlees zu geraten („Wir wollen die Hoffnung nicht fahren lassen, daß die Vereinten Nationen schließlich doch eine wirkungsvolle internationale Kontrolle annehmen...“), so ist es einem, als wäre man mit einem Schlag wieder in eine andere Welt versetzt. In die Welt des Glaubens an die Vernunft, der Einsicht und der Kraft logischer Argumente. Kurz in die Welt der Aufklärung, deren letzte Impulse sich in England noch am reinsten erhalten haben. Die Aufklärung ist allerdings inzwischen längst in Mißkredit geraten, ihr Konzept war zu eng, zu beschränkt, zu diesseitig und ihre Begrenzung trat sehr klar zutage, als der Kos-mologe Fred Hoyle den Versuch machte, die Stellung des Menschen im Universum zu definieren. Da war alles eindimensional, verbraucht und 18. Jahrhundert, man war erstaunt, daß ein bedeutender Gelehrter sich zu keiner tieferen Schau hatte aufraffen können. In dem „Manual for Basic Training“ aber ist ein wundersamer, heroischer Rest all dessen zu finden, was an der Aufklärung gut und kräftig war. Ein heroischer Rest, der in dem Willen, sich am Rande des Furchtbaren noch einmal zu vernünftigen, disziplinierten Handlungen zu sammeln, das Unvorstellbare rationell einzuschätzen, auskristallisierte.

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