6639170-1957_34_07.jpg
Digital In Arbeit

Wie frei ist die freie Welt?

Werbung
Werbung
Werbung

Einen konsolidierten Macht- und Diktatstaat aus den Angeln zu heben erfordert lang anhaltende, außerordentliche Kraftentfaltung. Eine lang anhaltende, außerordentliche Kraftentfaltung ist aber auch nötig, ein einmal etabliertes freiheitliches System zu bewahren und weiterzuentwickeln.

In diesem Sinn ist es ein wenig bedenklich, gewohnheitsmäßig von der „freien Welt” zu sprechen, entsteht doch so der Eindruck, daß hier die Freiheit jenseits unserer Wachsamkeit ein für allemal gesichert und lizensiert sei, während sie in Wirklichkeit immer wieder freigekämpft werden muß. Diesen Kampf in seiner Gesamtheit darzustellen oder seinen Verlauf in einzelnen Ländergruppen nachzuzeichnen, wäre ein gewaltiges Unterfangen. Hier soll nur versucht werden, einige Notizen zu diesem Thema festzuhalten.

England gilt vielen Kontinentaleuropäern als das Land der bürgerlichen Freiheiten par excellence. Es hat daher Befremden ausgelöst, als man erfuhr, daß just in diesem įand das Telephon von der Polizei überwacht werden kann, ja daß diese eine gewaltige Sammlung so entstandener Tonbänder besitzt. Dasselbe Befremden hat die Tatsache übrigens in England selbst ausgelöst, wo das breite Publikum keine Ahnung hatte, daß solches möglich sei. Weniger Befremden hat es allerdings in Regierungskreisen ausgelöst, wo man offenbar von dieser Praxis seit langem wußte. So war die allgemeine Tendenz beider großer Lager — auch bei der Labour Party als früherer Regierungspartei —, eher zu sordinieren als zu erregen. Nur ganz am Rande kam es zu Scharmützeln zwischen Konservativen und Sozialisten und unbedachten und daher aufschlußreichen Aeußerungen. Aus ihnen konnte man beispielsweise schließen, daß pikanterweise gerade die Labour-Regierung bei der Bekämpfung von Streiks ausgiebig von der Möglichkeit der Telephonüberwachung Gebrauch gemacht hat.

Bei der stillschweigenden Einigkeit der bei-, den englischen Großparteien, dieses Regierungsrecht nicht grundsätzlich preiszugeben, konnte eipe radikale Aender.ung nicht? werden. Trotzdem hatten -, Debatten heilsamen Einfluß. Erstens, weil allein die Tatsache, daß nun das Regierungsprivileg, Leitungen abzuhören, weithin bekannt ist und daher etwas an Perfidie eingebüßt hat, zweitens, weil die Regeln, nach denen abgehorcht werden darf, nun publik würden, und drittens, weil ein weiterer Mißbrauch der eingelagerten Tonbänder nun sehr unwahrscheinlich geworden ist.

Welche Regeln gibt es da? Nun, bei jeder einzelnen Ueberwachung einer Leitung muß die Zustimmung des Innenministers eingeholt werden, der dabei keinesfalls willkürlich verfahren und sie nur dann erteilen kann, wenn es sich um die Aufdeckung eines Verbrechens oder die Sicherheit des Staates (ein allerdings sehr vager Begriff I) handelt. Ist also die primäre Entscheidung wenigstens einem Mann anvertraut, dem ein gewisser Weitblick Zugetraut werden muß, so haben offensichtlich über die Verwendung der Tonbänder untergeordnete Beamte entschieden. Gerade dieser Umstand hat übrigens das System auffliegen lassen, als die Polizei den Fehler beging, einer der Rechtsinnungen (sie üben Funktionen aus, die bei uns der Rechtsanwaltskammer zufallen, ohne ansonsten viel Aehnlichkeit mit ihr zu haben) Tonbandmaterial über einen ihrer „Barrister” zur Verfügung zu stellen.

Die Ueberwachung der Telephonleitungen ist natürlich nicht der einzige Fall, in dem der Begriff „Staatssicherheit” und die Mittel, mit der ihr gedient werden soll und darf, zur Debatte stehen. Während es theoretisch nicht allzu schwer ist, hier das Kriterium herauszuarbeiten — die Mittel müssen die Demokratie nach außen abschirmen, ohne sie gleichzeitig von innen her zu zerstören —, sind die Ueber- gänge in Wirklichkeit auch für Männer guten Willens schwer zu erkennen und das noch Zulässige von dem bereits Verderblichen nicht immer zu unterscheiden. Die Fälle May Nunn, Klaus Fuchs und Pontecorvo haben in der englischen wie amerikanischen Oeffentlich- keit tiefen Eindruck gemacht und jedermann die Wichtigkeit eines effektiven Sicherheitsdienstes vor Augen geführt. Vielleicht hat sich der englische Sicherheitsdienst, MI 5 genannt (sein Budget wird vom Parlament nicht kontrolliert und er ist einzig und allein dem Premier gegenüber zur Auskunft verpflichtet), vor dieser Epoche etwas zuwenig um den wissenschaftlichen Aspekt der nationalen Sicherheit gekümmert. Man scheint nun diesen Fehler wettmachen zu wollen und sich dabei zu sagen: „Wenn die Sicherheit der Nation eines Tages von einer Gruppe hochqualifizierter Fachleute abhängt, so ist es nur vernünftig, diese Fachleute bereits im Entwicklungs- und Trainingsstadium zu beobachten.” Was könnte also besser sein, als auf den Universitäten und Colleges Informanten zu besitzen, um so über die politischen Neigungen und Charakterschwächen derer auf dem laufenden zu sein, die eines Tages die Verantwortung tragen werden, eine Verantwortung, der sich ein Klaus Fuchs, ein Burgess oder ein Pontecorvo so unwürdig erwiesen haben? Hier aber ist zweifelsohne die Grenzlinie überschritten, und man kann dem linksgerichteten „New Statesman” nur beipflichten, wenn er vermerkt: „Gelänge es dem Geheimdienst, in den Universitäten Agenten anzuwerben, dann würde der freie und offene Austausch zwischen Professoren und Studenten rasch zerstört werden. Die Aufgabe der Lehrenden an einer Universität ist ja nicht, die Studenten mit Wissehsmaterial vollzupropfen, sondern sie zur intellektuellen und moralischen Reife heranzuziehen. Wie kann diese Aufgabe erfüllt werden, ohne mitfühlendes Verständnis für Interessen, Neigungen, ja sogar Charakterschwächen …, und wie kann die Integrität eines Lehrers erhalten bleiben, wenn irgendwelche Behörden imstande wären, ihn als Spitzel zu entlarven?”

Obwohl es gerade auf diesem Sektor schwer ist, präzise Beobachtungen zu machen, gewinnt man doch den Eindruck, daß frühe Proteste und rasche Abwehr der betroffenen Kreise die englischen Universitäten, nicht zu Unrecht der Stolz des Landes, vor dieser Gefahr bewahrt haben.

Die meisten der Männer, die den nie endenden Kampf führen, der nötig ist, um den inneren Einbruch der Totalität ins demokratische Gefüge zu verhindern, verfügen über genug Weitblick, um zu erkennen, daß - hier ein übernationales Phänomen vorliegt und daß die einzelnen Schauplätze auf vielfältige und geheimnisvolle Weise Zusammenhängen.

So haben die jüngsten Entscheidungen des Oberste ., -Amęfikaniscben, Gerichtshofes -fsd stellen gefährdete Bürgerrechte =wieder?het’ und werden wohl gewissen Verfahren der „House committees” ein Ende bereiten) sicher eine weit über die USA hinausgehende Bedeutung. Die alte Art der Verhöre hat noch zwei Todesopfer gefordert: zuerst hat der kanadische Botschafter in Kairo, Mr. Norman, Selbstmord begangen, dann ist ihm, im Juni dieses Jahres, ein Arzt und Krebsforscher namens Sherwood auf dem düsteren Pfade gefolgt. Sherwoods Fall ist deshalb erwähnenswert, weil er auf recht eindringliche Weise den Zusammenhang zwischen Freiheit und Würde wie die Bedrohung beider durch technisch-psychologische Mittel illustriert. An sich der fast typische Fall: die von einer Strafandrohung begleitete Einladung, vor einem Kongreßausschuß zu erscheinen, uni über Beziehungen zu Kommunisten auszusägen. Was dabei den jungen Wissenschaftler der Stanford University in den Selbstmord getrieben hat, war nicht allein und nicht sosehr die Furcht vor dem Verhör, als das Entsetzen ob des Umstandes, daß das Verfahren im Fernsehen auf genommen werden sollte. Offenbar konnte der sensible Mann das gewaltsame Eindringen einer riesigen Oeffentlichkeit, dieses Aufbrechen seiner Persönlichkeit in Not und Pein zwecks Belustigung von Millionen und aber Millionen einfach nicht ertragen. „Mein Leben und mein Beruf…”, so’ schrieb er in seinem Abschiedsbrief, „werden nun durch das House committee bedroht… in. zwei Tagen werde ich durch Zurschaustellung umgebracht.”

Elemente dieses Doppelangriffes gegen Freiheit und Würde lassen sich im übrigen auch in einer Sphäre entdecken, in der man im allgemeinen keinerlei Gefahren dieser Art vermuten würde. Gemeint sind die psychologischen Tests, die immer häufiger von amerikanischen Betrieben angewandt werden, ehe man Angestellten Beförderung und größere Verantwortung zubilligt. Aus Fragen, wie: „Lieben Sie Ihre Eltern?” „Mehr den Vater oder mehr die Mutter?” „Neigen Sie zu Tagträumen?” „Bedeutet Ihnen Schönheit viel?” und anderen mehr, wird auf Grund einer Vulgärpsychoanalyse eine Einschätzung aufgebaut, die für immer mehr Schicksale maßgeblich ist. Der einzelne kann sich diesem Aufstemmen seines Innenlebens nicht widersetzen (was eine Einschränkung seiner Freiheit ist). Er kann sich der Drohung dieses Tests nur entziehen, indem er die Aufschlüsselung und Auswertung der Beantwortung studiert — und lügt (was eine Beeinträchtigung seiner Würde darstellt).

Alle diese Tatsachen, so begrenzt ihre Wirkung ..im einzelnen auch sein mag, stellen int ganzen eine ernste Bedrohung der Freiheit dar — gerade in den klassischen Ländern der „freien Welt”.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung