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Demokratie braucht Autorität

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„Der Westen drängt: Kein Staat darf Terroristen helfen!“ Diese und ähnliche kategorische Erklärungen kann man in diesen Tagen in der Weltpresse, soweit sie westlichen Ursprungs ist, lesen. Eine Zeit, zu deren Merkmalen auch das Verbrechen zählt, das man Terrorismus nennt, ist angebrochen. Fragt man sich, wie es dazu kommen konnte, muß man zunächst eine sehr nüchterne Antwort geben: Der „Fortschritt“ der Technik bewirkt, daß sich heute Organisationen, Gruppen und Einzelpersonen in den Besitz modernster Waffen und Sprengstoffe setzen können, mit Hilfe derer Terroraktionen erst möglich werden. Als Vorgänger dieser schrecklichen Entwicklung könnte man sowohl die jahrhundertealte sizilianische Mafia als auch das Bandenunwesen in den USA der dreißiger Jahre bezeichnen. In ihrer Organisationsform hat der moderne Terrorismus ähnliche Grundlagen wie die beiden genannten Erscheinungen, allerdings mit dem wesentlichen Unterschied, daß es heute eine Gruppe von Staaten gibt, die ganz offen den sogenannten „politischen“ Terror als eine legitime Kampfmaßnahme zur Durchsetzung politischer Ziele ansehen. Sehen wir von „privaten“ Terrormaßnahmen ab, deren Ziel allein auf die Erlangung materieller Vorteile abgestellt ist, so müssen wir den Terrorismus unserer Tage als ein Erscheinungsform krimineller Politik werten, mit der die Welt von heute fertig werden muß, wenn nicht am Ende das Chaos stehen soll.

Es bedarf keiner weiteren Begründung für die Notwendigkeit und Berechtigung zur Ergreifung von Abwehrmaßnahmen. Die Moral- und Sittenbegriffe aller zivilisierten Staaten lehnen Terrorismus als politische Waffe ab. Aber wie wird die zivilisierte Welt mit dieser Erscheinung fertig werden? Wenn in den letzten Tagen im Bereich der Europäischen Gemeinschaften und im Zusammenwirken vor allem mit den Vereinigten Staaten von Amerika erste gemeinsame Schritte beraten werden, so ist dies jedenfalls ein guter Anfang, und es kann sicherlich angenommen werden, daß schon in Kürze Beschlüsse gefaßt und Maßnahmen gesetzt werden. Freilich werden deren Umfang und Wirksamkeit weitgehend davon abhängen, für weichen territorialen Bereich sie gesetzt werden können, denn es ist klar, daß schon die Anerkennung des Terrorismus als politische Waffe auch nur durch wenige Staaten die Gegenmaßnahmen stark einschränken wird. Solange es Länder gibt, in denen Flugzeugentführern ein sicheres Asyl gewährt, manchmal sogar ein enthusiastischer Empfang bereitet wird, solange ist nicht zu erwarten, daß die Abwehrmaßnahmen der zivilisierten Welt einen hundertprozentigen Erfolg garantieren. Um gar nicht erst von jenen Staaten zu reden, die Terrororganisationen finanzieren! Daß jene Länder, die sich den Auffassungen der zivilisierten Staaten nicht anschließen, fast ausnahmslos sogenannte Entwicklungsländer sind, die seit dem Zweiten Weltkrieg zu einem wesentlichen Teil von der Entwicklungshilfe zivilisierter Länder leben, ist nicht nur eine Groteske, sondern gibt auch zu der Überlegung Anlaß, ob es in Zukunft noch vertretbar sein wird, die Entwicklungspolitik in der bisherigen Weise fortzusetzen. Eine — man könnte sagen gesunde — Reaktion kann in diesem Zusammenhang bereits festgestellt werden: die Gebe- und

Spendenfreudigkeit der Menschen zur Aufbringung der notwendigen Mittel für die Entwicklungshilfe, hat, wie man allenthalben hört, bedeutend nachgelassen. Der einfache Bürger eines zivilisierten Landes fragt sich nämlich, wie weit es mit der an sich unbestrittenen moralischen Verpflichtung zur Entwicklungshilfe bestellt ist, wenn er mit seinem Spenden- und Steueraufkommen auch die Wirtschaft solcher Staaten mitfinanzieren soll, die dem internationalen Terrorismus Vorschub und Hilfe leisten.

Aktueller ist im Augenblick die Frage der Möglichkeit wirksamer Gegenmaßnahmen. Hier gelangen wir bereits in den Bereich der inneren Ordnung der Demokratien. Es hat sich nämlich schon herausgestellt, daß sich die Länder mit demokratischer Ordnung in der Abwehr des Terrorismus infolge ihrer humanen Rechtsordnung wesentlich schwerer tun als nichtdemokratische Staaten, deren Rechtsordnung es erlaubt, bei der Bekämpfung von Terroraktionen mit den Terroristen nicht viel Federlesens zu machen. Es braucht daher nicht zu verwundern, daß es in Staaten mit diktatorischer oder auch hur autoritärer Rechtsordnung bisher fast keine Terroraktionen gegeben hat. Jedenfalls ist das innere Sicherheitssystem in vielen Demokratien vis ä vis dem Terrorismus, bisher wenigstens, völlig unzureichend. Sei es, daß man dem Sicherheitsproblem überhaupt zu wenig Bedeutung beimißt, was zur Folge hat, daß die staatlichen Exekutiven personell und finanziell weit unterdotiert sind, sei es, daß man sich immer von humanen Erwägungen leiten läßt, die ja zum Grundprinzip jeder Demokratie gehören, deren Anwendung aber gegenüber den Terroristen versagen muß. Einer der Grundsätze der Demokratie räumt auch dem Gesetzesübertreter volles Recht auf Inanspruchnahme aller gesetzlichen Bestimmungen ein. Hier entsteht nun die sehr bedeutsame Frage, ob diese Übung weiterhin aufrechterhalten werden kann, oder ob nicht die Gesetzgebungen in den Demokratien — um auch hier die demokratische Legalität zu wahren — gegenüber Terroraktionen eine Rechtsordnung schaffen müssen, die man allgemein unter den Begriff des Ausnahmezustandes subsumieren könnte. Immer mehr zeigt sich die Notwendigkeit eines solchen Vorgehens, denn derjenige, der jede Rechtsordnung negiert — und das ist ja ein integrales Merkmal des Terrorismus! — hat wohl auch keinen moralischen Anspruch auf die Vorteile einer solchen Ordnung. Ein spezielles Problem ist in diesem Zusammenhang etwa die Anwendung der Todesstrafe, die ja heute in fast allen Demokratien abgeschafft ist. Wenn sich Moral- und Sittenbegriffe im zivilisierten Teil der Welt so entwickelt haben, daß man der Staatsgewalt nicht mehr das Recht zuspricht, einem Gesetzesbrecher — und sei seine Tat noch so schwer — das Leben zu nehmen, so ist dies eben ein Zeichen der Humanität und, wie schon ausgeführt, ein Merkmal der Demokratie. Aber wie jede demokratische Rechtsordnung den Begriff der Notwehr des einzelnen kennt, so wird es wohl in Zukunft auch unerläßlich sein, einer demokratischen Staatsgewalt das Recht der Notwehr gegenüber Terroristen einzuräumen, wenn andere Mittel der Bekämpfung nicht mehr zielführend sind. Man hört ja auch, daß da und dort — nicht nur in Israel — unter bestimmten erschwerenden Umständen die Wiedereinführung der Todesstrafe gefordert wird. Eine solche Vorgangsweise wäre sowohl nach Moral-, wie nach Rechtsbegriffen ein geradezu typischer Fall der Notwehr. Immer wieder werden Terroraktionen zur „Befreiung“ von Personen durchgeführt, die sich wegen verübter Terrortaten in Haft befinden. Würde man über diese Terroristen die Todesstrafe verhängen, so wäre damit auch den Zielen und Absichten künftiger Terroraktionen der Boden entzogen, wäre damit das Leben Unschuldiger geschützt.

Es kommt aber noch etwas dazu: Wenn vorhin davon die Rede war, daß jeder Gesetzesbrecher in einem zivilisierten Staat Anspruch auf bestimmte Privilegien hat, die ihm die Rechtsordnung im Prozeßverfahren einräumt, so ist festzustellen, daß gerade die Inanspruchnahme solcher Rechtsprivilegien durch die Terroristen und ihre Anwälte allein schon das strafrechtliche Verfahren zu einer Farce machen. Typisches Beispiel hiefür der sogenannte Baader-Meinhof-Prozeß in der Bundesrepublik. Nach der dort geltenden Rechtsordnung können die Anwälte dieser Terroristen mit ihren Klienten ohne Kontrolle sprechen. Es bedarf keiner weiteren Erörterung darüber, welche Konsequenzen dies unter Umständen haben kann. Aber nicht nur geltende Rechts- und Prozeßordnungen erwei-

sen sich gegenüber dem Terrorismus oft als hilflos, auch der Strafvollzug läßt mitunter mehr als zu wünschen übrig. Das Berliner Ausbruchsbeispiel dürfte zwar ein Extremfall sein, aber es hat aifth schon andere erfolgreiche Ausbruchsunternehmungen weniger spektakulären Charakters gegeben.

Regierungen und Parlamente werden sich also — und man kann nur sagen: hoffentlich bald! — mit diesem Problem befassen müssen. Darüber hinaus aber muß man bedauerlicherweise auch feststellen, daß da und dort gegenüber dem Terrorismus nicht einmal jene Vorsorge getroffen wurde, die auf Grund der gegebenen Rechtslage absolut möglich wäre. Dazu die zwei österreichischen Beispiele: Die Geiselnahme an der österreichischen Grenzstation Marchegg wäre wahrscheinlich zu verhindern gewesen, wenn die Exekutive ausreichende Befehle gehabt hätte. Man mag zur Entschuldigung der Affäre von Marchegg anführen, daß es die erste derartige Aktion in Österreich war und somit auf diesem Gebiet bis dahin noch keine diesbezüglichen Erfahrungen bei uns gemacht worden waren. Hat man aber die nachträgliche Berichterstattung im Fernsehen genau verfolgt, so ergibt sich folgendes: Einer der Mitreisenden konnte mit seiner privaten Filmkamera, hinter einem Eisenbahnwaggon versteckt, einen Teil dieser Aktion filmen. Wenn dies einem unbewaffneten Zivilisten möglich war, fragt man sich, wieso es

der bewaffneten Exekutive nicht möglich gewesen sein sollte, ohne Gefährdung eines Menschenlebens die Terroristen zu überwältigen. Aber hiezu mangelte, wie gesagt, nicht nur die Erfahrung, sondern auch der entsprechende Befehl, der nun einmal für solche Situationen vorliegen muß. Viel beschämender war die zweite Aktion in Österreich mit der Gefangennahme von nicht weniger als elf Ministern aus den, OPEC-Ländern, die ohne Zweifel zu verhindern gewesen wäre, wenn das Gebäude, in dem die Konferenz stattfand, damals bereits jenen Schutz durch die österreichische Exekutive gehabt hätte, den es seit dem Tag des Überfalls genießt. Die amtliche Feststellung, daß die seinerzeit getroffenen Schutzmaßnahmen mit dem Sekretariat der OPEC-Konferenz abgesprochen und von diesem als ausreichend bezeichnet worden seien, kann jedenfalls nicht als Entschuldigung gewertet werden.

Die Überschrift dieser Überlegungen lautet „law and order“; Recht und Ordnung, Gesetzgebung und -Vollziehung. Es wäre eine unvollständige Behandlung dieses Themas, wollte man nicht auch ganz offen sagen, daß Recht und Ordnung in den Demokratien unserer Zeit einer ständigen Abnützung, aber auch Abwertung unterworfen sind. Gesetze werden dazu gemacht, um befolgt zu werden. Jedes Gesetz besteht aus der Statuierung einer Rechtsnorm und dem Befehl, sie einzuhalten, ein Befehl, der sich nicht nur an den Bürger, sondern auch an die Exekutive eines Staates richtet. Aber immer wieder erleben wir, daß die staatliche Exekutive da und dort gar nicht imstande ist, der Befolgung des

Gesetzes zum Durchbruch zu verhelfen oder daß die Weisungen an die Exekutivorgane das Gesetz selbst wieder aushöhlen. Wir brauchen gar nicht erst das Gebiet des Terrorismus zu betrachten, wir erleben es immer wieder in viel harmloseren Fällen. Man nehme etwa die Straßenverkehrsordnung mit ihren vielen, an sich zwingenden Vorschriften, die heute nicht nur von den Verkehrsteilnehmern ignoriert werden, sondern zu deren Durchsetzung die Exekutive zur „milden Hand“ verpflichtet wird. In Wien, wie in allen anderen Großstädten, gibt es unzählige Halte- und Parkverbote für Autos. Sicherlich viel zu viele! Aber wer kümmert sich noch darum, wenn das Strafmandat nur einen Bruchteil der Kosten ausmacht, die die Inanspruchnahme einer Garage verursachen würde? Ganz abgesehen davon, daß der personelle Stand der Polizei es gar nicht gestattet, dem Gesetz entsprechend vorzugehen. Das finanziell unangenehme Risiko, daß ein Pkw abgeschleppt wird, fällt kaum ins Gewicht, wenn man weiß, daß von tausenden regelwidrig geparkten Autos gelegentlich fünf oder zehn abgeschleppt werden.

Es gibt auch noch andere Elemente, die zu einer Abwertung von „law and order“ führen. Die geradezu abstruse Attacke gegen die Fernsehsendung „XY“ ist hiefür ein Beispiel. Es muß doch jedem vernünftigen Menschen als richtig und zweckmäßig erscheinen, wenn das Medium Fernsehen in den Dienst der Verfolgung von Verbrechern gestellt wird, selbst dann, wenn es dabei einmal zu einem Mißgriff kommen sollte. Es ist ja nichts Neues, daß es bei der Verbrecherverfolgung Mißgriffe gibt. Jede mensch-

liche Ordnung ist menschlichen Mißgriffen ausgesetzt. Das ist aber kein Grund, deshalb auf ein immerhin recht wirksames Mittel der Verbrechensverfolgung zu verzichten. Es ist erfreulich, daß sich die öffentliche Meinung hier in der Ablehnung dieses Vorschlags so rasch und, wie zu hoffen ist, auch wirkungsvoll eingeschaltet hat.

Man wird sich also in den Demokratien sehr genau überlegen müssen, wie dieser Abwertung von „law and order“ rasch entgegengetreten werden kann. Ubertragen wir diese Gedanken auf eine höhere Sphäre, so müssen wir uns ernstlich mit der Frage beschäftigen, ob nicht geradezu das ideale Gedankengut der Demokratie immer mehr zerstört wird und sich damit die Demokratie selbst gefährdet, wenn ihr Ordnungsbegriff immer schwächer wird. Der Gegensatz von Demokratie und Diktatur, ist gleich: Freiheit und Unfreiheit, bedeutet nicht, §aß Freiheit Freisein von Ordnung heißt. Wenn die Demokratie an Autorität verliert, gibt sie sich selbst auf. Gerade weil es das Volk in den Demokratien ist, das an Stelle des Souveräns früherer Zeiten und des Diktators der Gegenwart getreten ist, muß dem Postulat der Ordnung in der Demokratie erhöhtes Augenmerk zugewendet werden. Demokratie und Ordnung sind keine gegensätzlichen Begriffe, ja wir müssen geradezu sagen, daß es ohne Ordnung keine Demokratie und ohne Demokratie keine Ordnung in unserem Sinne geben kann. „Law and order“ ist nicht mehr ein Begriff vergangener gesellschaftspolitischer Systeme, sondern ein Kampfruf für die Demokratie von heute!

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