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Die Rechtspflege des Staates

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Wenn wir, die verflossenen sieben Jahre zurückblickend, uns fragen, was uns eigentlich von allem Ungemach, das wir zu erdulden hatten, am meisten drückte, so war es ebenso der Niedergang fast aller uns wesentlich erscheinenden kulturellen Werte, der Verlust der Freiheit wie der Verlust jeglicher Rechtssicherheit.

Man ist leicht geneigt, heute in der Abschaffung der Konzentrationslager im alten Sinne, in dem Wegfall der Einrichtung der Gestapo, auch schon den Wiederaufbau und die Wiederkehr des alten Rechtszustandes zu sehen, ohne sich dabei so recht ins klare darüber zu kommen, worin eigentlich das Wesentliche liegt, das den Begriff des wahren Rechtsstaates ausmacht.

Es scheint nicht unangebracht, heute, an der Wende zweier so diametral im Gegensatze zueinander stehender Weltanschauungen und Staatsauffassungen, sich deutlich vor Augen zu halten, welche Grundsätze im Rechtsleben eines Staates zur Anwendung kommen müssen, soll man von einem Rechtsstaate sprechen können; dies ist vielleicht um so mehr aktuell, als erfahrungsgemäß und in der Kulturgeschichte aller Völker immer wiederkehrend die naturgegebene Reaktion auf einen als unerträglich sich erweisenden Rechtszustand leicht und oft zu Übertreibungen neigt und zu Methoden führt, die im wesentlichen nicht unähnlich und gar nicht so verschieden von den Einrichtungen sind, die bis dahin bestanden haben. Nur sind sie in einem anderen, nämlich dem entgegengesetzten Sinne angewandt und bringen erst nach einem mehr oder weniger langen Zeitraum der Entwicklung normale und gesunde Verhältnisse. Wir können diese scheinbar irgendwie in der menschlichen Natur begründete Tatsache in der Geschichte und Entwicklung fast aller Revolutionen feststellen.

Verhältnismäßig früh hat man erkannt, daß eine ordentliche und befriedigende Rechtssprechung nur möglich ist, wenn Justiz und Verwaltung vollkommen von einander getrennt werden, das heißt, der Richter muß vollkommen unabhängig sein, es hat ihm keine Regierungsstelle Weisungen zu erteilen, er hat lediglich nach den Vorschriften der bestehenden Gesetze zu urteilen, und dort, wo der Gesetzeswortlaut die Erledigung des betreffenden Rechtsfalles von vornherein nicht klar erkennen läßt, das Gesetz nach bestem Wissen und Gewissen auszulegen. Wegen seines Urteils darf dem Richter kein wie immer gearteter materieller oder persönlicher Nachteil erwachsen. Er muß verfassungsrechtlich dagegen geschützt sein, daß er des Inhaltes eines Urteilsspruches wegen etwa seines Postens enthoben, abgesetzt oder anderswohin versetzt wird. Unabsetzbarkeit und Unversetzbarkeit müssen ihm sohin unbedingt gewahrt bleiben. Diese verfassungsmäßig in allen Kulturländern dem Richter gegebene Unabhängigkeit hebt ihn aus der Gruppe sämtlicher Beamten und Beauftragten des Staates heraus. Allerdings hat das Gesetz aber auch darauf zu sehen, daß diese besondere, weitreichende und überragende Stellung des Richters nicht zu Willkür führen kann. Die Gesetzesvorschriften haben daher genügend Bindungen und Begrenzungen für Anwendung und Auslegung enthalten, um Willkürentscheidungen der Gerichte vorzubeugen.

Vor allem kommt es hier wieder, wie bei allen in das Leben des Staatsbürgers einschneidenden Einrichtungten, auf die Art der vom Volke zu wählenden und den Willen des Volkes repräsentierenden gesetzgebenden Körperschaft an.

Die Richterschaft eines Staates ist nur dann in der Lage, für eine befriedigende, der Rechtsidee wahrhaft dienende Rechtssprechung zu sorgen, wenn ihr auch durch eine ordentlich funktionierende, den modernen demokratischen Grundsätzen voll und ganz entsprechende Gesetzgebung das Rüstzeug hiezu an die Hand gegeben wird.

Wenn wir uns kurz ins klare kommen wollen, welche Prinzipien vor allem beachtet werden müssen, so ist vorerst der alte, römischrechtliche Satz heute noch wie eh und je gültig: nullum crimen sine lege. (Frei deutsch übersetzt: Strafrechtlicher Tatbestand ist nur das, was das Gesetz vorschreibt.) Dieser Grundsatz ist bisher in allen Kulturländern unbestritten geblieben und auch heute noch unbedingt maßgebend. Lediglich das Dritte Reich hat die Richtigkeit 'ücses Satzes in Zweifel gezogen und seinen Richtern vorgeschrieben, auch dort, wo sich eine Gesetzesvorschrift für den einzelnen Fall nicht finden sollte, ein verurteilendes Erkenntnis zu sprechen, wenn dies nach dem allgemeinen „gesunden Volksempfinden“ für notwendig und angemessen erachtet werden kann. Als das Dritte Reich diese „Rechts“-Anschauung vor einigen Jahren dem Richterstand aufgezwungen hatte, horchte die ganze Welt nicht nur in Erstaunen, sondern in wahrem Entsetzen auf, denn das bedeutete unweigerlich die Beseitigung des letzten geringfügigen Restes von Recht in dem betroffenen Staate und das Aufhören jeglicher Rechtssicherheit. Und was damals von maßgebendster Regierungsstelle als letzte und modernste Errungenschaft propagandistisch gepriesen wurde, war in Wirklichkeit der völlige Niederbruch des-Rechtsstaates.

Gesetze dürfen auch nicht zurückwirken, das heißt, die Wirkung eines neu erlassenen Gesetzes kann frühestens mit dem Tage seiner Kundmachung beginnen. Denn der einzelne Bürger muß das Gesetz kennen und erst das Vorhandensein des Gesetzes kann ihn verantwortlich machen. Hat er eine Tat begangen, die am

Tage der Begehung vom Gesetze nicht verboten, sohin straflos gelassen war, kann gewiß einige Tage später ein Gesetz geschaffen werden, das eine solche Tathandlung nunmehr verbietet und strafbar erklärt, aber die v o r Kundmachung dieses neuen Gesetzes begangene Tathandlung muß trotzdem straflos bleiben; erst von nun an wird eine neuerliche Tatbegehung eine Ahndung durch das Gesetz erfahren können.

Alle Gesetzgebung muß und darf nur vom Volke ausgehen. Gewiß kann es auch in einem demokratischen Staate dazu kommen, daß in besonders kritischen Perioden, so zur Kriegszeit, die gesetzgebende Körperschaft ihre legislativen Rechte ganz oder meist nur zum Teil auf einen mehr oder weniger begrenzten Zeitraum der Regierung überträgt, damit nicht bei unmittelbar drohenden Gefahren das Parlament mit seinen Beschlüssen zu spät käme.

Im Rahmen der demokratisdien Staatsauffassung wird das wesentlichste und wichtigste Rechtsgut des einzelnen Bürgers die Frei-, h e i t sein. Irgendwelche Einschränkungen der Person können nur aus ganz bestimmten, vom Gesetze genau vorgeschriebenen Gründen geschehen. Der Hüter aller Freiheit muß stets der .unabhängige Richter sein. Wohl ist der Verwaltungsbehörde, der Polizei das Recht übertragen worden, Festnahmen von^ Personen vorzunehmen, die als offenbare Rechtsbrecher erkannt oder zumindest eines Verbrechens dringlich verdächtig sind und bei denen Flucht, Verabredungs- oder Wiederholungsgefahr besteht. Der Festgenommene hat aber nach dem Gesetze binnen 24 Stunden vor den ordentlichen Richter gestellt zu werden und muß von diesem vernommen werden zur Überprüfung, ob ein gesetzlicher Grund zur Freiheitsbeschränkung, zur Verhaftung gegeben ist. Ohne richterlichen Ausspruch gibt es keine Freiheitsbeschränkung. Stellt der Richter den Beschuldigten auf freien Fuß und würde dieser im Nachhinein dennoch durch welche Behörde immer angehalten, so wäre dies ein Rechtsbruch und eine schwere Verfehlung an dem Geiste des demokratischen Staates. Auch die Unterbringung von Personen in Arbeitslagern, ohne daß die Zulässigkeit einer solchen Anhaltung durch das Gericht ausdrücklich ausgesprochen worden ist, widerspricht dem Begriffe des modernen Staates.

Wenn das Dritte Reich zu einem Staate ohne Recht wurde, so war es, weil die Richter des Dritten Reiches von ihrer vorgesetzten Stelle, letzten Endes vom Justizministerium,-abhängig waren, von dem sie ganz allgemein und auch wiederholt für einzelne Rechtsfälle bindende Weisungen empfingen. Die Richter waren auch nicht unversetzbar und unabsetzbar. Die Abhängigkeit des Richterstandes ging so weit, daß in wichtigen Prozessen, in politischen Strafprozessen der Sondergerichte und des Volksgerichtshofes die jeweiligen Verhandlungsakten vorerst dem Justizministerium vorgelegt werden mußten, das nach deren Prüfung den Staatsanwälten, beziehungsweise den Richtern praktisch vorschrieb, welches Urteil sie zu fällen hatten. Wenn dann die Verhandlung durchgeführt, wurde, der Angeklagte verzweifelt hinsichtlich der ihm angelasteten Delikte seine Unschuld beteuerte, der Verteidiger ein noch so wohlbegründetes, vielleicht juristisch vollendetes Plädoyer hielt, so war dies nicht mehr als cm Scheingericht. Denn das Urteil über den Angeklagten war schon lange vor Beginn der Verhandlung vom Justizminister, beziehungsweise seinen von ihm beauftragten Ministerialbeamten festgelegt worden. Richter waren nur mehr Vollstreckungsbeamte, die die Weisungen ihres vorgesetzten Ministers, zu befolgen hatten, wollten sie nicht die entspredienden peinlichen Konsequenzen tragen.

Den letzten Rest von Unabhängigkeit verlor der Richterstand des Dritten Reidies sofort nach der Einsetzung des letzten Justizministers Thierack im August 1942. Bezeichnend war schon die Art seiner Ernennung zum Minister. Es wurde ihm ausdrücklich durch einen eigenen Erlaß Hitlers zugesagt, daß er bei der ihm anvertrauten Neuordnung der Justiz „an das bestehende^ Recht nicht gebunden“ sei. Eine Groteske, die1 ihresgleichen in der Kulturgeschichte der modernen Staaten nicht hat. Thierack entschloß sich bald nach seiner Einsetzung, die berüchtigten, sogenannten „Richterbriefe“ herauszugeben, deren erster am 1. Oktober 1942 erschien, als „streng vertraulich“ erklärt wurde, und nichts anderes enthielt, als Mitteilungen von Urteilssprüchen deutscher Geridite, denen er in einer eigenen „Stellungnahme des Reichsministers der Justiz“ jeweils hinzufügte, ob nach seiner Meinung das einzelne Urteil richtig oder unrichtig sei. Es ergab sich also die sehr bemerkenswerte Situation, daß in Rechtsfällen, in denen Weisungen an die Staatsanwälte und Riditer nicht gegeben oder die Weisungen nicht genau befolgt worden waren, das erkennende Gericht, beziehungsweise die einzelnen Richter, wegen der Verschiedenheit ihrer Meinung von der des Ministers deswegen öffentlich, allerdings ohne Nennung ihres Namens, aber doch für jedem aus dem Rechtsfall erkennbar, angeprangert wurden. Die Einrichtung dieser „Richterbriefe“ zeigt schon, daß man für das Wesen einer ordentlichen, objektiven Rechtsfindung und Justizpflege kein Gefühl hatte, denn der Justizminister eines Staates ist zwar für den Verwaltungsapparat der Justiz verantwortlich, ist aber niemals der oberste Richter im Staate und eine soldie Bevormundung der Richter in ihrer Rechtssprechung durch das Ministerium in dieser Form war nicht einmal in den absolut regierten Staaten der verflossenen Jahrhunderte üblich.

Je mehr ein Staat um die verfassungsmäßig gewährleisteten Grundrechte seiner Bürger besorgt ist, je strenger er darauf bedacht ist, die Freiheit des einzelnen in jeder Hinsicht zu schützen, desto größer wird die Autorität und das Vertrauen zu seiner Reditspflege sein. Selbstverständlich wird der Auswahl' der einzelnen Vertreter des Richterstandes unter solchen Umständen eine besondere Sorgfalt zugewendet werden müssen. Es darf nicht sein, daß der Richter etwa nach politischen Gesichtspunkten ernannt wird, entscheidend muß sein vor allem seine Integrität, seine geistige Fähigkeit zu diesem gewiß nicht leichten Berufe, er muß selbst moralisch und charakterlich einwandfrei sein.

Für uns wird eines der wichtigsten Dinge beim Wiederaufbau unseres Staates sein, daß wir den berühmten Satz, der über dem Wiener Burgtore steht, mit neuem Leben und längstbewährter Wahrheit erfüllen.

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