6583095-1951_29_04.jpg
Digital In Arbeit

Wenn der Rechtsstaat aufhört

Werbung
Werbung
Werbung

Das ungarische Grundgesetz (Gesetzartikel I vom Jahre 1946), das sich statt der Rechtskohtinuität auf das Prinzip der Volkssouveränität-stützte„ die tausendjährige Institution des ungarischen Königstums abschaffte und' “die • Republik errichtete, verkündete in einer Prä-, ambel die grundlegenden Rechte des Staatsbürgers, und zwar nicht nur jene auf Rechtssicherheit und Freiheit, die alle bereits in der alten Verfassung vereinzelt verankert waren. Es hob nicht nur die politischen Rechte stark hervor, sondern verkündete, gleichsam in die Richtung einer neuen, verheißungsvollen Entwicklung weisend, auch die sogenannten sozialen oder Volkswohfahrts-grundrechte — übernommen aus der Atlantik-Charta —, namentlich das Recht zu einem menschlichen Leben ohne Unterdrückung, Furcht und Entbehrungen, sowie das Recht auf Arbeit, auf eine würdige menschliche Existenz, auf freie Bildung. Im weiteren Text des Gesetzes sind diese Rechte durch scharfe Maßnahmen vor allen Eingriffen einer Obrigkeit geschützt.

Das waren die schönen Gedanken zu einer Zeit, da in Ungarn noch in höchstem Maße Rechtsunsicherheit herrschte, die bis heute aus dem Leben der gesetzlich so beispielhaft geschützten Staatsbürger nicht verschwand. Lediglich die Gerichtsbarkeit waT zunächst noch ein verhältnismäßig fester Punkt; man achtete im allgemeinen noch die Unabhän-keit der Richter — eine Durchbrechung bildeten aber bereits die „Volksgerichte“, sie waren von Anfang an stark durchpolitisiert und trugen bereits den Keim der späteren Entwicklung in sich.

Jene, die 1946 in Ungarn zur Macht kamen, erreichten es, daß nach kaum drei Jahren ein bereits gleichgeschaltetes Parlament eine neue Verfassung zu Gesetzeskraft erhob, die in ihrem ersten Kapitel, 2 (2), erklärt: „Alle Macht in der Ungarischen Volksrepublik gehört dem werktätigen Volke.“ Keine Paragraphen sprechen mehr von den Bestimmungen einer Atlantik-Charta, statt deren aber ist von der Allmacht des „Volkes“ und damit gleichsam des Staates die Rede, dem auch alles Eigentum gehört, ferner von „Produktionsgenossenschaft“ der Bauern und von Arbeitswett-.bewerben. Unter Kapitel IL, betitelt „Die

gesellschaftliche Ordnung', wird zum Beispiel angeführt: „Das werktätige Volk verdrängt allmählich die kapitalistischen Elemente.“

In dieser Verfassung werden unter Kapitel VI nunmehr auch jüie neuen Organe der Gerichtsbarkeit festgelegt. Die alte Einteilung der Gerichte in vier Stufen wird, wenn auch unter verändertem Namen, noch beibehalten, m i t ihrer Unabhängigkeit aber wird aufgeräumt. Die Richter werden nur für wenige Jahre gewählt — die oberen vom Parlament, die übrigen von den die Komitate und Gemeinden verwaltenden Volksräten“, mit denen sie übrigens eng zusammenarbeiten müssen. Alle Richter sind jederzeit absetzbar. Ein letzter Paragraph bestimmt: Die Gerichte der Ungarischen Volksrepublik bestrafen die Feinde des werktätigen Volkes ... und erziehen die Werktätigen zur Befolgung der Normen des sozialistischen gesellschaftlichen Zusammenlebens.“

Bei solchen Grundsätzen erstarb der Rechtsstaat. Die staatliche Allgewalt ging zu sehr andere Wege, als daß sie sich vom gesatzten Recht noch hätte umzäu-men lassen. Kaum ein halbes Jahr nach dem feierlichen Inkrafttreten der Verfassung wurde sie dahingehend geändert (Gesetzartikel IV vom Jahre 1950), daß die oberen Gerichte, die nach dem Obersten Gerichtshof die zweithöchsten

Appellationsinstanzen waren, aufgelöst wurden, „was eine erhöhte Geschwindigkeit bei der Urteilsfällung ergeben wird“, wie ein Kommentar der Tagespresse sagte. Der Verwaltungsgerichtshof war schon früher abgeschafft worden. Gleichzeitig wurden 1950 bei allen Strafgerichten Laienrichter, sogenannte Volksbeisitzer, eingesetzt, die neben den alten Richtern fungieren. Das arbeitende Volk will — heißt es in der Verlautbarung — „seine Lebenserfahrungen auch im Justizwesen geltend machen“, nur so wird dieses mit dem „wirklichen Leben“ in ständigem Kontakt bleiben.

Die Aufgabe der Volksbeisitzer ist, festzustellen, „wieweit die Person des Angeklagten eine Gefahr für die Gesellschaft bedeutet“. Bei der Urteilsfällung soll dies der leitende Gesichtspunkt sein, wie eine amtliche Verlautbarung einschärft.

Damit die „alten“ Juristen im Dienst den neuen Anforderungen entsprechen, greift der ungarische Juristenverband helfend ein. Er organisiert — natürlich auf der Basis eines Arbeitswettbewerbes — ständige Fortbildungskurse, in denen den Teilnehmern die Richtlinien aus dem juridischen Teil des Marximus-Leninismus beigebracht werden, vor allem aber „die Schätze der ,an der Spitze schreitenden' (ständiges Beiwort für alles Sowjetische) sowjetischen Rechtswissenschaft“.

Des Ergebnisses ist die Welt Zeuge geworden.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung