6860898-1977_36_06.jpg
Digital In Arbeit

Schmälerung der Gnmdfreiheiten in der neuen Verfassung

Werbung
Werbung
Werbung

In jüngster Zeit haben mehrere sogenannte Dissidenten erklärt, sie wollten, wenn der Entwurf der Sowjetverfassung Gesetz würde, auf ihre sowjetische Staatsbürgerschaft verzichten, da sich dieser Verfassungsentwurf mit den Menschenrechten und Grundfreiheiten nicht in Einklang bringen lasse. Die Frage ist sicherlich ernster Natur.

Die geltende Verfassung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, die in der amtlichen deutschen Ausgabe (Verlagsgenossenschaft ausländischer Arbeiter in der UdSSR) von 1936 auch als „Grundgesetz“ bezeichnet wird, wurde auf dem Außerordentlichen VIII. Sowjetkongreß der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken am 5. Dezember 1936 beschlossen und vom Kongreßpräsidium bestätigt. Diese Verfassung gilt mit einigen wenigen Ausnahmen (besonders hinsichtlich der Bezeichnung einzelner Sowjetrepubliken und zufolge Wegfalls verschiedener Teilrepubliken und autonomer Gebiete, wie der Wolgadeutschen Republik) auch heute noch, doch wird seit sehr langer Zeit immer wieder seitens der KPdSU erklärt, die Verfassung sei weitgehend überholt. Das güt vor allem von dem Fehlen programmatischer Thesen über den Staats- und Gesellschaftsaufbau. Die bisherige Verfassung hat keine Präambel und, wenn man von den ersten drei Artikeln absieht, auch kaum Grundsatzthesen. Artikel 1 sagt nur, daß die UdSSR ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern sei, in Artikel 2 wird vom Sturz der Macht der Gutsherren und Kapitalisten und von der Diktatur des Proletariats gesprochen. In Artikel 3 heißt es, daß alle Macht in der UdSSR den Werktätigen in Stadt und Land gehört.

Der nunmehr vorliegende und vermutlich wohl bald auch zu Rechtskraft gelangende’ßntwurf einer neuen Sb- wjetverfassüng, die übrigens im Untertitel wiederum „Grundgesetz“ heißen soll, ergeht sich zunächst in einer langen Präambel mit Bezugnahmen auf den großen vaterländischen Krieg, auf die rechtliche und faktische Gleichberechtigung aller Nationen und ethnischen Gemeinschaften, auf den wissenschaftlichen Kommunismus (also nicht mehr: Marxismus-Leninismus, wenn auch Lenin als Realisator der Großen Oktoberrevolution zitiert wird) und auf die Kontinuität mit den bisherigen Verfassungen von 1918, 1924 und 1936.

Diese Kontinuität ist in Wirklichkeit aber gar nicht gegeben. So wird jetzt (Artikel 3 des Entwurfes) der Grundsatz des demokratischen Zentralismus zum obersten Staatsprinzip erhoben, demzufolge (Artikel 6) nur die Kommunistische Partei zentral das ganze politische System lenken dürfe. Hier allerdings taucht das Wort „marxistisch-leninistisch“ ausnahmsweise auf, als Nachweis dafür, daß die Kommunistische Partei sich an Marxismus-Leninismus inspiriert. Ansonsten fehlt ein solcher Hinweis.

Mit Besorgnis werden die Sowjetvölker die Bestimmungen über die neue nationale Struktur des sowjetischen Bundesstaates zur Kenntnis nehmen (Artikel 69 ff.). Zwar steht wie in der ersten Sowjetverfassung, daß jede Unionsrepublik das Recht hat, in Freiheit die UdSSR zu verlassen (nach dem Entwurf gibt es 15 Unionsrepubliken), auch wird darin das Selbstbestimmungsrecht aller Völker der UdSSR verankert. Für kleinere Gebiete gibt es, wie bisher, die autonomen sozialistischen Sowjetrepubliken, dazu noch, wie bisher, die autonomen Regionen und autonomen Bezirke. Aber da die Zentralgewalt der KPdSU alles durchdringt, werden diese Unionsrepubliken und anderen autonomen Gebietskörperschaften nicht mehr, sondern weniger Rechte haben als bisher. Von einem Recht auf Loslösung einer Unionsrepublik aus dem Gesamtstaat war schon bisher nie wirklich die Rede, derartige Regungen wurden, wie man weiß, mit Deportationen beantwortet, da es ja schon begrifflich unmöglich ist, daß ein Volk oder eine Nationalität sich in der So wjetunion nicht wohl fühlen könnte und sie zu verlassen wünschte.

Was sehr beunruhigend wirkt, ist - Abschnitt VII -, daß es auch weiterhin wohl Gerichte (mit Volksrichtern und Volksbeisitzern) gibt, aber keine Ver- fassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit. Das heißt, daß niemand sich wegen Verletzung der Grundrechte und Grundfreiheiten - außer in einer Art von Appellation oder Petition, auf welche die Behörde nicht zu antworten braucht - an ein Verfassungsgericht wenden kann. Das war schon bisher so, man hatte aber erwartet, daß sich diese Rechtslage zugunsten der Bürger bessern werde. Die Grundrechte, Grundfreiheiten und Grund- pflichten der Sowjetbürger sind im System der geplanten Verfassung weiter nach vorne gerückt (von bisher Artikel 118 auf nunmehr Artikel 39 ff.), aber gegenüber der bisherigen Verfassung sind die Grundrechte und Grundfreiheiten erheblich eingeschränkt, was nicht besagt, daß die bisherigen Rechte tatsächlich auch immer gewährt worden wären. Die Grundrechte gehen durchwegs in Richtung sozialer Rechte (Recht auf Arbeit, auf Wohnung, auf Altersversorgung, auf Schulausbüdung), die Grundfreiheiten werden dagegen eher bagatellisiert. Die in Staaten freiheitlicher Demokratie maßgebenden Menschenrechte, Grund- und Freiheitsrechte, die in der bisherigen Verfassung von 1936 eher stark betont waren, wenngleich sie weithin keine Anwendung fanden, sind im neuen Verfassungsentwurf ungemein reduziert. Zwar ist die Familie unter den Schutz des Staates gestellt (Artikel 53), wird der Schutz der Persönlichkeit vor ungerechtfertiger Verhaftung ausgesprochen (Artikel 54), gibtes einBrief-, Telefon- und Telegrammgeheimnis, (letzteres gibt es nicht einmal im Westen und besteht ein Schutz des Hausrechtes.) Jeder Bürger hat „im Rahmen der diesbezüglichen Gesetze“ Anspruch auf Entschädigung, wenn eine Behörde ihm rechtswidrig Schaden zugefügt hat (analog unserem Amtshaftungsgesetz). Aber alle diese und noch weitere Rechte, wie Vereinsund Versammlungsfreiheit, oder das Recht auf private freie Meinungsäußerung, sind an die Erfüllung der Grundpflichten durch den Bürger geknüpft. Nur wer „würdig den edlen Titel eines Sowjetbürgers“ trägt, hat Anspruch auf Wahrung seiner Grund- und Freiheitsrechte (Artikel 59), wie auch jeder Bürger verpflichtet ist, die Macht und das Ansehen des Sowjetstaates zu verstärken und das sozialistische Vaterland zu verteidigen. Die Grundrechte stehen weiters nur dem zu, der die’ Regeln des Lebens in der sozialistischen Gesellschaft respektiert.

Daß der Sowjetbürger sich in der Rechtsphäre anwaltlich vertreten und verteidigen lassen kann, steht in Artikel 160. Er kann sich seinen Anwalt aber nicht selbst aussuchen, vielmehr muß er sich an das Anwaltskollegium wenden (analog dem Anwaltskollektiv in der CSSR), das ihn kostenlos vertritt. In politischen Prozessen ist das kein wirksamer Rechtsbeistand, zumal laut Verfassung Delikte gegen den Staat (Hochverrat, Verletzung des sozialistischen Eigentums) schwerer wiegen als Angriffe auf das Leben.

Die Rechte der Nationalitäten und deren Sprachen werden, wie bisher, ausdrücklich anerkannt, wie die UdSSR überhaupt ein dem Wortlaut nach vorbildliches Nationalitätenrecht hat. Da aber die nichtrussischen Völkerschaften heute bereits mehr als 50 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen (1970 waren es noch 48 Prozent) und das großrussische Element eifrig an der Russifizierung der Unionsvölker und Volksgruppen arbeitet, fragt es sich, ob die Völker (rund 100 an Zahl) wirklich den Schutz des Staates auf die Dauer genießen werden. Die nicht wieder rückgängig gemachte Deportation der Wolgadeutschen und der Krimtataren, aber auch die Verfolgung der Juden, läßt daran zweifeln.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung