7111556-1995_51_10.jpg
Digital In Arbeit

Läßt der Codex Freiräume?

19451960198020002020

Auch in der Kirche muß es gestattet sein, seine Rechte zu reklamieren. Für in dieser Hinsicht unzufriedene Gläubige kann Austritt nicht die einzige Alternative sein.

19451960198020002020

Auch in der Kirche muß es gestattet sein, seine Rechte zu reklamieren. Für in dieser Hinsicht unzufriedene Gläubige kann Austritt nicht die einzige Alternative sein.

Werbung
Werbung
Werbung

Die kirchenrechtliche wie die theologische Diskussion über Grundfragen und Menschenrechte in der Kirche knüpft an das Selbstverständnis der Kirche an, wie es einerseits von der Theologie dargetellt wird, und wie es sich andererseits im positiven Kirchenrecht niederschlägt. In beiden Bereichen kommt das letzte Wort der kirchlichen Autorität zu, die in bestimmten Schnittpunkten der kirchlichen Struktur das Lehramt sowie Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung vereinigt.

Dem gegenüber ist traditionelles Streitobjekt Art und Umfang der legitimen Freiräume. Nach einer verbreiteten Auffassung sind derartige Freiräume derzeit nicht ausreichend eingeräumt. Dies ist auch der juristische Ort der innerkirchlichen Menschenrechtsdiskussion: Freiräume als Anspruch aus und für die Ausübung von Grundfreiheiten und Menschenrechten.

Eine schlechthin negative Sicht der im profanrechtlichen Bereich erarbeiteten Grundfreiheiten und Menschenrechte, wie sie in den verschiedenen innerstaatlichen Grundrechtskatalogen, international insbesondere in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), verankert sind, wird heute fast nur noch in traditionalistischen Kreisen vertreten, die sich auf die Haltung der Kirche vor dem Zweiten Vati-kanum berufen und schon das Konzil selbst als eine häretische Abweichung betrachten.

Nur ausnahmsweise vertreten auch ernstzunehmende Autoren die Auffassung, daß der Grundrechtsgrundsatz in der Kirche bereits mehr als ausreichend sei. Alle Forderungen nach mehr Freiheit und die durch solche Forderungen ausgelösten Experimente führten zur Zerstörung der kirchlichen Disziplin und „zum Minimalismus, zum Libertinismus, ja zur Häresie".

Am nächsten kommt dieser Auffassung jene, wonach es gegenüber dem göttlichen, auf der Offenbarung beruhenden Becht von vornherein keine Grundfreiheiten und Menschenrechte geben könne; gegenüber dem (bloß) kirchlichen Recht aber auch nur in dem Maße, wie sie von der kirchlichen Autorität zugestanden würden; denn diese kirchliche Autorität beruhe selbst auf göttlichem Recht. („Wer euch hört, hört mich!"), daher könne sie nicht durch die Berufung auf Grundfreiheiten und Menschenrechte unterlaufen werden. Dieser Einwand steht und fällt mit der Annahme, daß die kirchliche Autorität jederzeit das göttliche Recht fehlerfrei auslegt und anwendet und auch im Bereich des (bloßen) Kirchenrechts immer fehlerfrei agiert; insgesamt also in Gesetzgebung, Verwaltung und Recht-sprechung immer dem von der Würde des Menschen geforderten Standard entspricht.

Diese Annahme steht aber mit der Tradition der Kirche in einem dogmatischen wie faktischen Widerspruch. In einem dogmatischen, weil die Kirche selbst der kirchlichen Autorität nur für endgültige dogmatische Entscheidungen, nicht aber für andere Äußerungen des obersten Lehr-, und niemals für solche des Hirtenamtes - und hierher fällt das gesamte (bloß) kirchliche Recht - eine Infallibilität zugestanden hat. Und in einem faktischen Widerspruch, weil nicht bestritten werden kann, daß das Vorgehen der kirchlichen Autorität im Laufe der Geschichte immer wieder auch Akte eingeschlossen hat, durch die Würde des Menschen verletzt wurde.

An seriösen Einwendungen sind vor allem die folgenden zu nennen. Den Grundfreiheiten und Menschenrechten liegt die Vorstellung von vorstaatlichen

■ „Rechten des Menschen als Menschen" zugrunde; diese sind in einem sogenannten staatsfreien Raum angesiedelt. Da der Mensch aber erst durch seinen Eintritt, das heißt durch seinen die Mitgliedschaft der Kirche begründeten Akt (die Taufe) Kirchenmitglied wird, kann es keine vorkirchlichen Rechte des Menschen als Kirchenmitglied geben; und diese können daher nicht ein einem „kirchenfreien Raum" (in Analogie zum staatsfreien Raum) angesiedelt sein. Das Konzept der Grundfreiheiten und Menschenrechte läßt sich daher nicht vom Staat auf die Kirche übertragen.

Diesem Einwand liegt ein Mißverständnis zugrunde. Der zum „staatsfreien Raum" parallel zu sehende „kirchenfreie Raum" ist nämlich keineswegs ein Raum für die Ausübung von Rechten, die erst durch die Mitgliedschaft in der Kirche erworben werden. Es handelt sich vielmehr um Rechte , die dem Menschen als Menschen gegenüber jeder Rechtsordnung zustehen und sozusagen latent gegeben sind; sobald der Mensch in die Gewaltunterworfenheit gegenüber dem Staat - oder gegenüber der Kirche - tritt, werden sie automatisch wirksam.

Ein weiterer Einwand ist, daß es Grundfreiheiten und Menschenrechte gäbe, die gerade dem Schutz jenes Bereiches vor dem Staate dienen, für den die Kirche �uständig ist. Der kirchliche Bereich könne aber nicht vor der Kirche geschützt werden, beziehungsweise würde ein solcher Schutz keinen Sinn machen; daher seien die Grundfreiheiten und Menschenrechte der kirchlichen Rechtsordnung nicht adäquat. Dieser Einwand kann in zweifacher Weise widerlegt werden. Selbst wenn sich einzelne Grundfreiheiten und Menschenrechte als Abwehrrechte gegen den Staat darstellen, bedeutet dies nicht von vornherein, daß sie nicht auch in adäquater Weise als Abwehrrechte gegen die Kirche formuliert werden können; die Grundfreiheiten und Menschenrechte schützen ja die Sphäre des einzelnen, und das Individuum kann durch Übergriffe der Kirche so gut bedroht sein wie durch Übergriffe des Staates.

Überdies wird darauf hingewiesen, daß im Codex Iuris Canonici von 1983 ohnedies entsprechende Grundrechte - entweder allgemein oder im besonderen für Laien - verankert wären. Dem ist entgegenzuhalten, daß es im Kirchenrecht überhaupt keinen Grundrechtskatalog in dem Sinn gibt, daß andere Normen und das Agieren der kirchlichen Obrigkeit an ihm gemessen und gegebenenfalls wirksam korrigiert werden könnten. Denn im Kirchenrecht gibt es keinen formellen Stufenbau der Rechtsordnung. Dies ist nicht zuletzt auf den Verzicht auf das ursprünglich in Aussicht genommene kirchliche Grundgesetz zurückzuführen.

Daher fehlt im Rereich des Kirchenrechts auch jede eigentliche Grundrechtsprechung. Der im Codex enthaltene Rechtekatalog ist überdies durch den „Vorbehalt näherer Regelung" zugunsten der kirchlichen Autorität gänzlich entwertet, weil das Kirchenrecht kein Verbot des Eingriffs in den Kernbereich der einzelnen Rechte kennt, wie dies für den staatlichen Bereich im Zusammenhang mit dem sogenannten Gesetzesvorbehalt entwickelt wurde. Schließlich gibt es auch keine ausreichenden Bechtswege; das Kirchenrecht kennt keine „Verfassungsgerichtsbarkeit".

Dem wird entgegengehalten, die Grundfreiheiten und Menschrechte beziehungsweise das hinter ihnen stehende eigentliche Anliegen, der Respekt vor der menschlichen Würde, seien auch ohne vollständig ausgebildeten Grundrechtsschutz im Kirchenrecht besser gewährleistet als in jeder staatlichen Rechtsordnung, weil das Kirchenrecht ja seinem Wesen nach der Natur des Menschen entspräche. Dies entspricht jenem Argument, das totalitäre Staaten anwenden, nämlich, daß die Rechtsordnung für das Wohl des einzelnen so ausgezeichnet sorge, daß darüber hinausgehende Grundfreiheiten und Menschenrechte nicht nötig wären. Eine Parallele zum totalitären Sozialismus und Faschismus findet sich hier auch dergestalt, daß hier wie dort das Streben nach durchsetzbaren Grundrechten als Ausdruck eines gesellschaftsfeindlichen überholten Individualismus und Egoismus denunziert beziehungsweise abqualifiziert wird.

Eine andere Argumentationsvariante geht dahin, Grundfreiheiten und Menschenrechte wie im Staat könne es in der Kirche nicht geben, denn wer sich in die kirchliche Ordnung eingliedere, der könne sich nicht gleichzeitig derselben gegenüberstellen; daher haben die Getauften gegenüber der Kirche auf den im Staat in Form der Grundfreiheiten und Menschrechte existierenden Freiraum von vornherein verzichtet. Überdies könne, wer der Kirche angehöre und sich über einen mangelnden Schutz von Grundfreiheiten und Menschenrechten beklage, doch von seinem Recht Gebrauch machen, aus der Kirche auszutreten.

Dem ist entgegenzuhalten, daß es nicht relevant ist, ob und inwieweit sich die kirchliche Ordnung von jener des Staates unterscheidet, es kommt vielmehr darauf an, ob die in den Grundfreiheiten und Menschenrechten zum Ausdruck kommenden Freiheiten des einzelnen für seine Selbstverwirklichung notwendig sind oder nicht. Sind sie es, dann sind sie es gegenüber jener Ordnung, nicht nur gegenüber der staatlichen. Überdies muß es auch in der Kirche erlaubt sein, seine Rechte zu reklamieren. Für einen Gläubigen, der mit dem Grundfreiheiten- und Menschenrechtsschutz in der Kirche unzufrieden ist, kann daher der Austritt nicht die einzige Alternative sein.

Von den in der EMRK verankerten Grundrechten könnten jedenfalls die folgenden auch für den innerkirchlichen Bereich von Bedeutung sein: das Recht auf ein faires Verfahren, die Grundsätze nullum crimen (kein Verbrechen) und nulla poena sine lege (keine Strafe ohne Gesetz), die Achtung des Privat- und Familienlebens, die Gewissens- und Religionsfreiheit der Meinungsäußerung, die Versammlungs- und Vereinsfreiheit, das Recht auf Ehe und Familie (zum Beispiel im Verhältnis zum Pflichtzölibat, aber auch bei irreparabel zerbrochenen Ehen), das Becht auf Bildung und das sogenannte Diskriminierungsverbot (hier wäre insbesondere auf die in der Kirche bestehende Diskriminierung der Frau bei der Zulassung zu bestimmten Ämtern zu verweisen).

Abschließend kann auch für eine Übernahme „profanrechtlicher" Menschenrechte in der Kirche ein Wort von Jose Setien aufgegriffen werden, der schon 1969 geschrieben hat, daß die Kirche die Spannungen, die mit jedem Reformprozeß zweifellos verbunden seien, ertragen lernen müsse; sie enthielten zwar „die Gefahr der Desorientierung, ideologische und disziplinare Krisen in sich; wären sie aber nicht vorhanden, käme es zur Inadaption, zur gesellschaftlichen Sklerose und mit der Zeit zum Effizienzverlust der Kirche."

Der Autor ist

Ordinarius für Völkerrecht und derzeit Dekan der Rechts-wissenschafltichen Fakultät an der Johannes-Kepler- Universität Linz.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung