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Menschenrechte zwischen Ost und West

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Die Menschenrechte sind erneut in den Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzung gerückt. Im Spannungsfeld des Konflikts zwischen Ost und West, zwischen dem freien Westen und dem kommunistischen Osten haben sie tagespolitischen Stellenwert erhalten. Präsident Carter hat sie zu einem Punkt seiner Wahlkampagne gemacht. Seine Aufmerksamkeit für die Dissidenten in der Sowjetunion hat sogar Rückschläge in den Verhandlungen über die Begrenzung der strategischen Rüstung bewirkt, Verhandlungen deren Erfolg für die USA von lebenswichtigem Interesse sind.

Was hat Carter bewogen, sich solchen Risken auszusetzen? Was hat der Westen davon, wenn es im Inneren der Oststaaten zu geistiger Unruhe kommt, die die kommunistischen Zwangsherrschaften nur um so stärker veranlaßt, durchzugreifen, um Ruhe, Ordnung und Sicherheit herzustellen?

In den Verfassungen der Staaten stellen jene Bestimmungen, die Menschenrechte verbürgen, den wesentlichen Teil dar: Hier werden die Beziehungen zwischen Mensch und Staat geregelt, die Stellung des Menschen im Staat, sein Freiheitsraum. Hier wird das Menschenbild, das hinter jeder Verfassung steht, sichtbar. Menschenrechte sind kennzeichnend für die politische Ordnung in einem Lande. An den verbürgten Menschenrechten erkennt man den Staat: Liberale Demokratien, marktwirtschaftliche Systeme, Zentralverwaltungswirtschaften, Autokratien und Zwangsherrschaften. Wo das Recht auf Meinungsfreiheit, auf Vereins- und Versammlungsfreiheit, auf Streik, auf Bildungsfreiheit, auf Eigentum fehlt, dort hat man es in der Regel mit Zwangssystemen zutun, insbesondere dann, wenn das Recht auf richterliche Geltendmachung dieser Grundrechte fehlt.

In den Vereinten Nationen hat man 1945 bis 1948 den Versuch gemacht, eine einheitliche Aussage zu den Menschenrechten zu finden und den Schutz dieser Rechte allen Staaten durch das Völkerrecht aufzuerlegen.

Damit wäre eine weltweite demokratisch-freiheitliche Ordnung sichergestellt gewesen. Daß dieser Versuch scheiterte, ist bekannt. Jeder Hinweis auf die Menschenrechte und deren Achtung in der Sowjetunion wird von ihr in den UN mit dem Hinweis abgeblockt, daß es sich um eine innere Angelegenheit der UdSSR handle. Die UN haben dies, trotz rechtlicher Bedenken, aus politischen Gründen akzeptiert.

Es wäre aber auch nicht möglich, Zentralverwaltungswirtschaften marxistischer Inspiration auf demokratischem Wege, unter Beachtung der Menschenrechte, einzurichten - ein Irrtum, der einer Grundformel des Eurokommunismus, des „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, entspricht. Die klassischen Freiheiten sind mit geschlossenen, dogmatisier- ten Gesellschaftsphilosophien unvereinbar. Freiheit der Meinungsäußerung, Streikrecht, Religions- und Bildungsfreiheit stehen zum Marxismus letztlich in einem Widerspruch, wenn sie dazu dienen, sich seinen gesellschaftspolitischen, von ihm als richtig erkannten Zielsetzungen entgegenzustellen. Es gibt dort keine Freiheit, gegen den Marxismus arbeiten zu können.

Warum also dann die Auseinander-Setzung zwischen Ost und West? Warum die Illusionen? Wer könnte glauben, die Zwangsherrschaften im Osten würden sich selbst abschaffen, würden freiwillig für ihre eigene Ablösung eintreten?

Hier liegt die säkulare Bedeutung der Helsinki-Deklaration. Die marxistischen Staaten haben dort einer Grundsatzerklärung zugestimmt, in der ein Bekenntnis zu den demokratischen Menschenrechten enthalten ist. Unverbindliche Bekenntnisse wurden sogar auch im Rahmen der UN abgegeben, ohne weitreichendere Wirkung zu zeigen. In einer fundamentalen Verkennung der Situation hat sich jedoch die Führung des Ostblocks total mit dieser Konferenz identifiziert.

Der Osten meinte, diese Schlußakte gleich behandeln zu können, wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 die er unter Hinweis auf das Prinzip der Nichteinmischung, schlicht ignorierte. In der Schlußakte von Helsinki findet sich aber nun ausdrücklich eine Bestimmung, die sagt, daß die Achtung der Menschenrechte Gegenstand der zwischenstaatlichen Beziehungen sei. Aus der Kombination dieser Umstände konnte der Osten die Diskussion im eigenen Bereich nicht mehr in dem Maße blockieren wie bis her, denn die Grundsätze von Helsinki waren ausdrücklich intern kundgemacht, und ihre Beachtung besiegelt worden; die internationale Kontrolle war ausdrücklich - zum ersten Mal - anerkannt worden. Damit kamen diese Länder in den Argumentationsnotstand, sie gerieten das erste Mal seit langem in die Defensive.

So erklärt es sich, daß die Bürgerrechtsbewegungen nicht mehr so einfach unterdrückt werden können, so erklärt sich auch das zwischenstaatliche Eintreten für die Menschenrechte, die Haltung Carters. Das Internationale Institut für Strategische Studien in London stellt in einem Überblick für 1976 fest: „Die Bestimmungen über die Menschenrechte in der Schlußakte von Helsinki haben die sowjetische Kontrolle über Osteuropa nicht nur keineswegs betoniert, sondern den Forderungen nach einer weniger einschränkenden Politik neue Legitimation gegeben.“

Diese Beurteilung der Schlußakte von Helsinki stellt natürlich weder die Dissidenten in Osteuropa zufrieden, noch jene, die die Bestimmungen der Akte lesen, und sie mit dem tatsächlichen Zustand in diesen Ländern vergleichen. In der Praxis werden nach wie vor wichtige Bestimmungen nicht eingehalten. Nach wie vor ist die freie Ausreise nicht möglich, ist es unmöglich, sich frei im Osten zu informieren; die Freiheit der Meinungsäußerung ist eine Illusion, der Zugang zu Informationen ist beschränkt.

Der Osten begegnet diesen Hinweisen mit der Bemerkung, daß diese Dinge Zeit brauchen. Dies ist richtig, aber es sind immerhin schon zwei Jahre seit Helsinki vergangen. Oder: Vor Helsinki seien von einer bestimmten westlichen Zeitung nur zwei Exemplare eingekauft worden, jetzt schon fünfzig. Man findet aber weder die fünfzig, noch andere westliche Zeitungen.

Im Juli läuft in Belgrad eine Bilanzkonferenz über die Verwirklichung von Helsinki an, der der Osten mit Unruhe und Unsicherheit entgegensieht. Man versucht, die Bilanz auf die Aktiva zu beschränken: Es wird nur das berichtet, was positiv geschehen ist - Familienzusammenführungen, Zeitungsimport, Kulturaustausch. Unterlassungen sollten nicht gerügt werden, das wäre „destruktive Kritik“. Damit könnte der Osten dem für ihn peinlichen Dissidetenproblem ausweichen und brauchte keine bohrenden Fragen beantworten.

Österreich hat wichtige Verantwortung zu tragen, da es im Bereich der Menschenrechte vermittelnd und koordinierend tätig war. Es steht zu hoffen, daß der Ballhausplatz hier nicht zu diplomatisch ist, nicht zuviel Verständnis für die Wünsche der Russen hat, nicht auf die bloß positive Bilanz einsteigt.

Anderseits könnte ein zu hartes Abrechnen ein Alibi dafür abgeben, die Einmischung hochgehen zu lassen. Damit wäre aber das Hauptresultat von Helsinki zerstört: Die ansatzweise Kontrolle über den Respekt der Menschenrechte durch die Staaten des kommunistischen Ostens, wie sie durch diese Folgekonferenzen ausgeübt wird. Das Ziel sollte sein, eine realistische Bilanz vorzunehmen, aber darüber die Idee nicht zu gefährden, und weitere Konferenzen (die nächste in Wien?) zu erreichen.

Es wäre Illusion zu erwarten, daß dadurch das Zwangssystem im Osten grundsätzlich verändert werden könnte. Aber wenn das Leben der Menschen dort erleichtert und der repressive Charakter etwas verändert würde, wäre dies schon mehr, als ein Realist je erwartet hätte.

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