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Zwischen Helsinki und Belgrad

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Eine Anzahl Intellektueller beruft sich in der ČSSR auf die „Beschlüsse von Helsinki” und verlangt von der Regierung die Achtung grundlegender Menschenrechte. Die Folge ist politischer Druck, Staatspolizei, öffentliche Hetze, wirtschaftliche Erpressung und schließlich die Aufforderung, das Land zu verlassen.

Die Unterdrückung ganz bestimmter Menschenrechte gehört zum Selbstschutz „volksdemokratischer” Zwangsherrschaften. Wie könnte eine solche bei ungemessener Freiheit der Meinungsäußerung, Vereinsfreiheit, Versammlungsfreiheit überleben? Wie könnte sich eine solche Zwangsherrschaft behaupten, wenn sich die Bürger frei informieren, frei ausdrük- ken könnten und die Grenzen offen wären?

Woher kommt dann der Sturm der Entrüstung? Daß Kommunismus mit einem freiheitlichen Grundrechtsverständnis unvereinbar ist, wissen doch wohl die meisten. Die Antwort liegt in der Berufung auf die Beschlüsse von Helsinki, die Schlußakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), die am 1. August 1975 von 35 Staats- und Regierungschefs aus beiden Teüen Europas, von Kanada und den USA unterzeichnet worden war. In diesem Dokument geben diese Staaten, unter diesen auch die Tschechoslowakei, feierlich ihre Absicht bekannt, die Menschenrechte zu schützen und den Austausch von Informationen, Meinungen, Ideen und Menschen über die Blockgrenzen hinweg zu erleichtern.

Das umfangreiche Paket von Absichtserklärungen war in jahrelangen, außerordentlich mühsamen und harten Verhandlungen geschnürt und schließlich einstimmig als Konsens zwischen Ost und West verkündet worden: es wurde in allen amtlichen Zeitungen, auch im Osten, wörtlich abgedruckt, trotz seiner Länge, selbst im „Neuen Deutschland” der DDR. Die „Beschlüsse von Helsinki” wurden als epochemachender Schritt in der Entspannung bezeichnet, gelobt, betont.

Sieht man nun die Reaktion der tschechoslowakischen Regierung auf die Charta 77, so scheint es, es hätte Helsinki nie gegeben. Was hat sich gegen früher geändert, was hat das Bekenntnis auch der ČSSR zu den Men schenrechten genützt? Die Prager Regierung scheint haarscharf jene zu bestätigen, die meinen, die ganze Konferenz zwischen Ost und West sei sinnlos gewesen, die vielgcühmte Entspannung in Europa gehe einseitig auf Kosten des Westens, und erleichtere dem Osten nur noch, was er offen anstrebt: die Vorherrschaft in Europa und in der Welt, mit allen Mitteln, Krieg ausgenommen. Die tschechische Reaktion auf eine Bürgerinitiative, die auf die Einhaltung von Menschenrechten drängt, scheint auch allen jenęn Recht zu geben, die da meinen, die nächste große Konferenz zwischen Ost und West, im Juni 1977 in Belgrad, sei sinnlos. Man müsse die Gelegenheit nützen, um ein für allemal klarzustellen, daß Helsinki ein Fehlschlag gewesen sei, und der Osten sich keinen Deut um die Verwirklichung der dort gefaßten Beschlüsse kümmere.

Die KSZE war ursprünglich vom Warschauer Pakt angeregt worden, und sollte der Sowjetunion und den Ländern jenseits des Eisernen Vorhangs dazu dienen, vom Westen die feierliche Anerkennung der Grenzverschiebungen zu erreichen, die der Sowjetunion gewaltige Gebietsgewinne nach dem Zweiten Weltkrieg brachten. Der freie Westen war dazu nicht bereit und wehrte sich über ein Jahrzehnt gegen diese Zumutung. Er stimmte dann, nachdem sich die Wiedervereinigung Deutschlands als mit telfristig unerreichbar zeigte, unter vielen Bedingungen zu: Regelung der Berlin-Frage und der innerdeutschen Beziehungen; Zustimmung zu einer Konferenz über wechselseitige Truppenreduzierungen in Mitteleuropa

Die Sowjetunion hatte mit dem Zusammentreten der Konferenz in Helsinki ihr Hauptziel erreicht, die Anerkennung des Status quo in Europa, und wollte die Konferenz dann möglichst schnell beenden. Der Westen leistete erfolgreich Widerstand, und es wurde faktisch drei Jahre lang in Permanenz verhandelt: Anerkennung des gegenwärtigen Zustands in Europa nur dann, wenn der Osten gleichzeitig menschliche Erleichterungen an seine eigenen Bürger gewährt, die hermetischen Grenzen öffnet und Informationen, Meinungen, Ideen und Menschen durchläßt. Darüber wurde lange, sehr lange beraten, wobei es um einige Worte wochenlange Debatten gab. Am Ende der Konferenz, entgegen allen Unkenrufen im Westen, konnte von einem Erfolg der westlichen Demokratien gesprochen werden: die Russen hatten ihr Ziel nur um den Preis von wichtigen Zugeständnissen erreicht.

Dabei gaben sich die Verhandler in Helsinki keinen Illusionen hin: die Verwirklichung dieser Menschenrechte im kommunistischen System würde lange dauern, und war keineswegs gesichert: die Schlußakte von

Helsinki ist ein politisches Dokument, und legt den Staaten keine einklagbaren Verpflichtungen auf. Es handelt sich also nicht um Rechte, die mit rechtlichen Kontrollen überprüft werden können, sondern nur um politische Zusagen.

Darauf baute offensichtlich der Osten, denn es war ihm von vornherein klar, daß er diese menschlichen Erleichterungen zum Großteil nicht verwirklichen konnte, ohne an die politische Wurzel des Bestandes des eigenen Regimes Hand anzulegen. Seine Strategie war klar: die kommunistischen Länder veröffentlichten zwar die schönen Worte, verschärften aber gleichzeitig den ideologischen Kampf im Inneren: statt einer Liberalisierung kam es zu einem Anziehen der Schrauben. Dabei wurde aber die Dynamik der Schlußakte unterschätzt. Die Bürger der Volksdemokratien nahmen sie als bare Münze, die latente Opposition berief sich auf sie.

Hier zeigt sich nun der Wert von Helsinki: es wurden in einigen Bereichen in der Tat Akte gesetzt, die als Fortschritt zu bezeichnen sind. So gab es einzelne Erleichterungen bei der Familienzusammenführung, Ausreiseerleichterungen. Westliche Journalisten erhielten bessere Arbeitsbedingungen, Manöver wurden unter bestimmten Voraussetzungen angemeldet und westliche Beobachter eingeladen. All dies ist vergleichsweise unbedeutend gegenüber dem einen, entscheidenden Umstand: seit Helsinki ist dem Osten die Angreiferposition genommen, wenn es um Menschenrechte und ihre Verwirklichung geht. Er ist überall in der Defensive, im argumentativen Notstand, denn immer wieder wird ihm das (für ihn) leidige Papier vorgehalten, wo alle die schönen Worte stehen, die er nicht ernstgenommen hatte, und die nun wie der Besen des Zauberlehrlings nicht mehr beherrschbar erscheinen.

So leicht wie früher geht es eben nicht mehr: man ist zu einer seriösen Großmacht geworden, die sich nicht offensichtlich in Widerspruch zu einem unterschriebenen Dokument set- . zen möchte, wenn es nicht allzuviel politisches Terrain bedeutet; daher kann man nicht mehr einfach einsperren, verurteilen, erschießen, wie früher: man muß subtilere Wege finden, ist also in der Hinterhand.

Daher ist der Weg nach Belgrad sinnvoll: dort soll kein Scherbengericht stattfinden, das dem Osten den Exodus wegen unzumutbarer westlicher Forderungen ermöglicht, sondern zäh der eingeschlagenen Weg weitergegangen werde: die Schlußakte ist ein an sich gutes Dokument, auf dessen immer weitere Einhaltung alle freien Staaten Europas dringen müssen.

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