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Perestrojka am „Alex“

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Bis 2000 atomwaffenfrei: Das Motto Gorbatschows war Thema einer Tagung der Berliner Konferenz Europäischer Katholiken zu Fronleichnam in Ostberlin.

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Bis 2000 atomwaffenfrei: Das Motto Gorbatschows war Thema einer Tagung der Berliner Konferenz Europäischer Katholiken zu Fronleichnam in Ostberlin.

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War es die Frühsommersonne, waren es die blühenden Blumenanlagen, die dem Alexanderplatz in diesen Tagen die von früher gewohnte Alptraumatmosphäre nahmen? Die Betonkästen des sozialistischen Realismus der Nachkriegszeit sind nicht schöner geworden, aber die markigen Propagandasprüche sind verschwunden, nicht nur in Ostberlin. Hat man erkannt, daß die einst überall präsenten Spruchbänder propagandistisch eher kontraproduktiv wirken? Daß die Menschen sie längst nicht mehr zur Kenntnis nehmen?

Auch unter der Kuppel der Kongreßhalle, auf der zehnten Plenartagung der „Berliner Konferenz Europäischer Katholiken“ (BK), sind die Propagandaphrasen fast völlig aus Referaten und Resolutionen verschwunden. Die Perestrojka dringt vor...

25 Jahre ist es her, seit Johannes XXIII. mit seiner Enzyklika „Pa-cem in terris“ aufrief, die Nachkriegsphase des Kalten Krieges zu überwinden. Sie gab 1974 den Anstoß zur Gründung der BK.

Seither bemühte sich eine Handvoll katholischer Funktionäre in der DDR, mit vielen Querverbindungen zur Ost-CDU. gemeinsam mit „Friedensfreunden“ im Westen vorwiegend extrempazifistischer und linkskatholischer Prägung sowie aus ähnlichen Gemeinschaften in Polen, Ungarn und der CSSR, die Friedenspolitik der (finanzierenden) Regierung—und damit Moskaus— zu unterstützen und auch im Westen akzeptabel erscheinen zu lassen. Helsinki war der erste Zielpunkt, die Abwehr der NATO-Nachrüstung der nächste, die Verträge von Genf, Washington und Moskau der dritte.

Aber im Schatten der Propaganda konnte die BK doch auch Anliegen der Christen des Ostens mit einbringen; schüchtern getarnt zunächst, später schon deutlicher kamen Jugendweihe, Wehrersatzdienst, Diskriminierung von Gläubigen zur Sprache. Wenn nicht selbst ausgesprochen, dann doch in den Wortmeldungen der Teilnehmer aus dem Westen. Die Möglichkeit, mit Menschen aus dem Osten, die noch nie in den Westen gekommen waren, ins Gespräch zu kommen, veranlaßte auch manchen Skeptiker, die Einladungen nach Berlin anzunehmen.

Die allzu enge Verbindung zur Regierung, die Zusammenarbeit mit PAX in Warschau, mit „Pa-cem in terris“ in Prag hat bisher eine Anerkennung, eine Unterstützung der BK durch die Bischöfe der DDR verhindert. Lok-kert sich nun der Bann?

Erste informelle, rein persönliche Kontakte wurden jetzt angeknüpft, als Bischof Samuel Dschundrin aus dem bulgarischen Ruse, Teilnehmer der Tagung, neben Kardinal Joachim Meisner den Fronleichnamsgottesdienst konzelebrierte.

Die Atmosphäre hat sich gelok-kert, das war nicht zu übersehen. Gegen wen sollte man auch polemisieren, wenn der Buhmann von einst als geschätzter Gast im Kreml empfangen wird, um sich selbst zu überzeugen, daß das „Reich des Bösen“ doch nicht ganz so böse ist?

So ging es diesmal nicht um den „Kampf gegen Imperialismus und Revanchismus“, der in früheren Phasen als Pflichtübung absolviert werden mußte. Nun ging es um die Schaffung einer Atmosphäre des Vertrauens, die die weitere Abrüstung erleichtern soll. (Daß die von Erich Honecker angeregte, am Donnerstag, 16. Juni, im Palast der Republik begonnene internationale Konferenz der Propagierung einer atomwaffenfreien Zone in Europa dienen soll, bildete diesmal den „Aufhänger“.)

Nun ging es um die Frage, wie das „gemeinsame Haus Europa“ gestaltet werden solle. Nun ging es um Hunger und Not, um die Solidarität mit der Dritten Welt.

Sollte es eine Verbeugung sein, wenn der Bochumer Politologe Heinrich Missalla wiederholt Michail Gorbatschow zitierte — oder wollte er ihn festnageln?

„Die Erweiterung der Offenheit, Kritik und Selbstkritik“, die Klage, daß Menschen wegen Kritik Verfolgung ausgesetzt sind“ (Gorbatschow im ZK der KPdSU) oder die Feststellung der „Prawda“, daß Demokratie nicht möglich sei „ohne Gedanken- und Meinungsfreiheit“ — diese Stichworte wurden dann in den Arbeitskreisen mit Vergnügen aufgegriffen:

Der Hinweis, daß sich die Menschen in der Sowjetunion wieder auf humanistische Werte besinnen und diese mit christlichen übereinstimmten; daß die Christen dort Wert darauf legten zu zeigen, daß es sie gibt; daß die Tausendjahrfeiern der Russischen Orthodoxie Hoffnung auf Besserung im Verhältnis zwischen Regime und den Konfessionen bringen; die immer wieder vorgebrachte Forderung auf Pressefreiheit, auf Freizügigkeit zum besseren Kennenlernen der andern; die Forderung eines DDR-Vertreters, auch im eigenen Haus aufzuräumen; ja sogar der Hinweis des neuen Präsidenten der BK, des Italieners Franco Leonori, auf das Paradoxon, daß in der „Hauptstadt des Friedens“ — wie sich Ostberlin mit dem Segen des UN-Generalsekretärs gerne nennt — eine Mauer die Menschen trenne — man sprach offen und nannte manche Dinge beim Namen. Sicher nicht alle.

Verwirklicht Helsinki! war eine Forderung, die sogar in die Schlußresolution des Arbeitskreises einging — durch breite Kontakte der Menschen untereinander, durch freie Reisemöglichkeiten (ein Thema, das vor allem die DDR-Bürger intensiv bewegt, seit es nicht mehr ganz unmöglich ist, die Reiseerlaubnis zu bekommen. FURCHE 23/1988).

Im „gemeinsamen Haus Europa“ müsse Toleranz herrschen, müsse der Dialog gepflegt werden zwischen den Völkern, mit den Minderheiten, zwischen den Kirchen.

Kontroversen entzündeten sich gerade bei der Frage der Religionsfreiheit, wenn die Sprecher der Ungarn und Tschechen die freie Religionsausübung reklamierten — und ein bosnischer Franziskaner vor Privilegien für die Kirchen warnte, die auch dem in seinem Land fundamentalistischen Islam zugute kommen müßten.

Die Delegation aus der Sowjetunion ist in den vergangenen Jahren von Mal zu Mal gewachsen. Diesmal zählte die Teilnehmerliste ein Dutzend auf, Priester, auch zwei Studenten, aus Litauen und Lettland, den Republiken mit katholischer Bevölkerung.

Sie sprachen untereinander russisch, folgten den Wortmeldungen der andern mit Interesse. Sich selbst zu Wort zu melden, selbst ihre Klagen über die Lage der Katholiken im Baltikum vorzubringen — soweit sind sie noch nicht. Auch das ist eine Frage der Zeit.

Auch die beiden Priester aus Rumänien, einer davon ein Deutscher aus dem Banat, sowie die Bulgaren beschränkten sich aufs Zuhören, auf das - intensive - Gespräch abseits der Sitzungen.

Umdenken ist ein langwieriger Prozeß. Feindbilder überwinden erfordert Zeit, viel Geduld. Man sprach viel von den Zimmern, die das gemeinsame Haus Europa enthalten soll, von den Türen, die leichter aufgehen, von den Fenstern, die geöffnet werden sollten. Auch das braucht Geduld. Aber diesmal fuhr man heim mit dem Eindruck, daß es sich lohnt, die Hoffnung nicht aufzugeben.

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