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Chruschtschew in Polen

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Auf einem Warschauer Flugfeld landet eine sowjetische Maschine. Ihr entsteigt zorngeröteten Antlitzes der Erste Sekretär der Kommunistischen Partei der UdSSR Chruschtschew. Polnische Genossen erwarten ihn, darunter auch Gomulka. Der eben angekommene Moskauer Potentat zeigt mit dem Finger auf den heranschreitenden polnischen Kommunistenführer und fragt, zum Sowjetbotschafter gewandt: „Wer ist denn der da?“ Keine Angst, diese Episode gehört einer jüngsten Vergangenheit an, über die im gesamten Osten Europas Nachrichtensperre verhängt ist. Das war ein „Un-Ereignis“ (um die „Unperson“ aus „1984“ zu variieren). Heute sieht derlei anders aus.

Vor vier Monaten angekündigt, in den letzten Wochen aber von einem Schleier umhüllt, der die Einzelheiten des polnischen Programms der sowjetischen Partei- und Regierungsdelegation umgab, ist Nikita Sergejewitsch Chruschtschew pünktlich-unpünktlich, mit nur 52 Minuten Verspätung, auf dem Warschauer Flughafen Babice eingetroffen. Alles, was in der polnischen Hauptstadt Rang und Namen hat, war zur Begrüßung des Gastes versammelt. Gomulka eilte auf ihn zu; die beiden umarmten und küßten einander. Mit strahlender Miene sagten die zwei Machthaber, der große und der nicht so kleine, ihre Sprüche auf, in denen sich Reste ehrwürdiger diplomatisch-staatsmännischer Banalität mit den starren Phrasen des kommunistischen Jargons mengten. Dann ging es, nicht ohne das Abschreiten der Front der wirklich famos aussehenden Ehrenkompanie und nach Vorstellung der wichtigsten Dignitare, darunter auch der Botschafter der Westmächte, durch den im korrekten Cut erschienenen Protokollchef, zum offenen ZIS, in dem Chruschtschew und Gomulka Platz nahmen.

Auf dem Flugfeld waren 15.000 Personen zu sehen. Längs der Fahrt, die zur Warschauer Residenz des hohen Gastes, ins Belvedere-Schloß, führte, etwa 15 Kiloüiefef Weges, Ständen 400.000 Menschen Spalier. Sehr viele waren aus Neugierde gekommen, die meisten aber in geschlossenen Formationen aus den Betrieben. Dort hatte man ihnen Blumen in die Hand gedrückt, mit der Weisung, sie Chruschtschew und dessen Gefolge zuzuwerfen. Was denn auch im allgemeinen geschah. Unter Rufen, die im Verhältnis zur gewaltigen Zahl der Zuschauer schütter klangen — das polnische „niech žyje“ (Er lebe!) wechselte mit dem russischen „Hurra“ —, doch ohne jeden Zwischenfall und bei, was hervorzuheben ist, zurückhaltenen, unauffälligen Sicherheitsmaßnahmen bewegte sich die drei Dutzend Wagen lange Autokolonne durch Warschau. Chruschtschew freundlichst lächelnd, zur Seite des gebräunt und gesund aussehenden Gomulka, stand aufrecht und schien höchst befriedigt. Die Menge bezeigte weder Enthusiasmus noch Feindseligkeit. Eine kleine Episode sei immerhin berichtet. Die zur Spalierbildung kommandierte Belegschaft eines Betriebes ging mit ihrem gesamten Blumenschmuck zu einer der vielen Gedenktafeln, die in Warschau an die Hinrichtung von Widerstandskämpfern durch die Deutschen erinnern, und legte dort die Chruschtschew zugedachten Blüten nieder. Man konnte, in Warschaus relativ freier Luft, sogar auf der Straße nicht sehr orthodoxe Aeußerungen über die UdSSR und über deren Gebieter hören. Trotzdem steht eines fest: die große Mehrheit der Bevölkerung hat, obzwar sie unschwer dazu die Möglichkeit gehabt hätte, keine passive feindliche Demonstration veranstaltet, noch den Verlauf der Festlichkeiten auch nur gestört.

Am nächsten Tag wurden die Einwohner einzelner Bezirke durch eine Detonation aufgeschreckt, die zu den wirrsten Gerüchten Anlaß bot, doch bald eine verhältnismäßig harmlose Aufklärung fand. Ein furchtbarer Krach erschütterte die Luft, Scheiben klirrten. Es handelte sich aber weder um eine explodierende Teufelsmaschine noch um irgendein Attentat, sondern um ein Flugzeug, das sich zusammen mit anderen seiner Art für die Truppenparade vom 22. Juli, dem Nationalfeiertag — bei der Chruschtschew zugegen sein sollte —, einübte und das in zu geringer Höhe die Geschwindigkeit über die Schallgrenze erstreckte. Inzwischen waren Chruschtschew und Gomulka mit sehr großem Gefolge im Sonderzug nach Katowice abgereist, auf ihrer vierstündigen Eisenbahnfahrt an mehreren Stationen begrüßt. Doch der richtige Triumph begann erst in der ober schlesischen Hauptstadt. Wiederum im offenen ZIS-Auto ging es fünf Stunden lang durch das Kohlengebiet.

Chruschtschew, der ungemein geschickt direkten Kontakt mit den Arbeitern und deren Familien fand, indem er sie bald durch polnische Sätze, bald durch farbige Anekdoten erfreute, hat sehr wohl erspürt, wie er hier reden mußte. Er sprach zwar viel vom Wert des Kommunismus und der Sowjetallianz, griff — ziemlich zahm — die Angelsachsen, sehr heftig Bonn, gar nicht Frankreich an, wo viele der Bergleute gearbeitet und sich wohlgefühlt hatten; doch er rühmte vor allem die Leistung der oberschlesischen Werktätigen und er berührte, in seiner merkwürdigen Manier, wiederholt religiöse Themen. Einmal meinte er, er wolle die christlichen Empfindungen der Zuhörer — huldigende Arbeiter, bitte! — nicht verletzen, wenn er feststelle, daß ihnen von der Geistlichkeit ewige Seligkeit im Jenseits verheißen werde, der Kommunismus aber sich um das Glück der Proletarier auf Erden bekümmere. Ein anderes Mal berief er sich auf die Bibel, Christus habe die Händler aus dem Tempel verjagt. Gott müßte die Kapitalisten züchtigen, den Kapitalismus ausrotten. Schließlich warf er gelegentlich hin, er habe als Kind im Religionsunterricht stets ausgezeichnete Noten gehabt. (Der Wortlaut dieser Sätze ist dem offiziellen Atheismus angepaßt worden; sie übten dennoch Wirkung.) Wiederum mit außerordentlicher Gewandtheit hat Chruschtschew in Stettin seine Rolle gespielt, und er ist dort wirklich bejubelt worden. Denn die Polen, Parteikreise und Parteilose, Kommunisten und Katholiken lasen aus der großen Rede des Sowjet-Staatslenkers den wesentlichen Kern heraus, das unzweideutige und energische Bekenntnis zur Oder-Neiße-Grenze. Ein zweiter Mittelpunkt dieser für die internationale Politik so wichtigen Stellungnahme Chruschtschews wurde nicht sofort in der ganzen Bedeutung erfaßt .und ejie.r mißverstanden: die Verstimmung über das Verhalten der skandinavischen Oeffent- lichkeit am Vorabend des angekündigten Besuchs des Kreml-Gewaltigen in den nordischen Ländern. Die polnischen Zuhörer, denen vor nichts so sehr graut wie vor einer Verschlimmerung der Friedensaussichten, waren im Gegenteil ejitzückt über die vermeintlichen Aussichten auf eine atomfreie Zwischenzone, die vom Nordkap bis ans Mittelmeer und zur Aegäis reichen würde.

Uebrigens war das Reiseklima der Sowjetdelegation schon am folgenden Tag, dem 18. Juli, erheblich kühler. Man suchte ja eine Provinz auf, wo der Kommunismus nie wirklich Fuß gefaßt hat und wo sogar dessen Anhänger nicht leięht zu behandeln waren. Es war . sicher nicht unbeabsichtigt, daß Chruschtschew nicht persönlich in den Posner Cegielski-Werken erschien, die vor drei Jahren bei der Erhebung vom 28. Juni 1956 den Herd der in den Oktoberumbruch mündenden Erhebung gebildet hatten, sondern daß er es einem drittrangigen Mitglied der Delegation überließ, dort an die Arbeiter und Angestellten einen sehr durchschnittlichen Diskurs mit Aufzählung der sowjetischen Leistungen und mit Komplimenten für die Belegschaft der Cegielski-Werke zu richten. Der Große Mann beehrte dagegen höchstpersönlich einen der wenigen prosperierenden Kolchosen der Posner Gegend, und da wandte er sich nicht so sehr an die 44 Mitglieder dieses Gemeinschaftsbetriebes als an die Bauern ganz Polens und… an Gomulkas stalinistische Kritiker, die den Agrarkurs des Landes zu mild, ja unmarxistisch finden. Er rühmte die Kolchosen als die beste Form der landwirtschaftlichen Arbeit. „Doch man darf niemand zwingen, ihnen beizutreten. Die Leute müssen von selbst die Richtigkeit dieses Weges einsehen." Auch Gomulka sprach im gleichen Sinne, wies aber darauf hin, daß, wie auch Chruschtschew nachdrücklich hervorhob, nur der Großbetrieb — im sozialistischen Staat also die Genossenschaft oder das Staatsgut — die unabdingbare Mechanisierung durchführen und dadurch befriedigende Ergebnisse des Ackerbaues und der Viehzucht erzielen kann. Chruschtschew ritt ferner sein bekanntes Steckenpferd, indem er den Bauern intensiven Anbau von Kukuruz (Mais) anempfahl. Er verweilte hernach auf einem Staatsgestüt, wo er einen prächtigen Hengst zum Geschenk bekam, unterhielt sich in ęinem Dorf mit Einzelbauern und entschwand endlich am Abend im Flugzeug aus Posen an einen geheimgehaltenen Erholungsort.

Während Nikita Sergejewitsch seine unheilige Sonntagsruhe in Gesellschaft Gomulkas an einem einst sehr feudalen Ort genoß und vermutlich den Eindruck seiner für Montag, den 20. Juli, vorgesehenen Absage der Skandinavienfahrt abwartete, trachtete man in Warschauer nichtkommunistischen Sphären die Begleitumstände und den Zweck der Reise des Sowjetdiktators zu enträtseln. Man befaßte sich zunächst mit der Zusammensetzung der Delegation. In ihr war neben dem überragenden Leiter kein einziger Mann von bedeutendem Format und starkem Einfluß. Offenbar wollte Chru- schtschew markieren, daß er allein für die Beziehungen zu Polen die Verantwortung trage und das letzte Wort zu sprechen habe. Interessant ist es dennoch, aus der Schar seiner Begleiter d i e Männer herauszuheben, die entweder ob ihrer Funktionen oder aus persönlichen Ursachen mitgekommen sind. Zunächst soll die Anwesenheit der Ministerpräsidenten der Sowjetbundesrepubliken Litauen und Weißrußland, Schumauskas und Kisieliow, dann des angesehenen ukrainischen Parteiführers Gajewoj, betonen, daß zwischen Litauern, Weißrussen und Ukrainern einerseits, Polen anderseits nichts vom früheren gegenseitigen Nationalhaß übriggeblieben ist. Die Anwesenheit der Sowjetdiplomaten Fijubin — des Gatten von Chruschtschews Egeria und Mitglied des Parteipräsidiums der KPSS, Furzewa — und Andropow, die beide ausgezeichnet die polnischen Verhältnisse kennen, wird viel bemerkt. Es ist endlich als besondere Aufmerksamkeit für die polnischen Genossen ausersonnen, daß sich Jan Dzieržyriski, der Sohn des aus altem polnischen Adelshause stammenden Begründers der Tscheka, Feliks Dzieržynski, im Gefolge Chruschtschews befindet. (Nebenbei notiert, Feliks’ Bruder und Jans Oheim wie Taufpate Jans ist vor einigen Monaten in Polen fromm katholisch gestorben und kirchlich beerdigt worden.)

Der breiteren polnischen Oeffentlichkeit sind die eben erwähnten sowjetischen Artigkeiten recht gleichgültig, und sie kümmert sich nicht um die parteipolitischen oder ostdiplomatischen Finessen. Dagegen wird sehr nachdrücklich beachtet, daß Chruschtschew alles tut, um Gomulkas Position als Führer der PZPR zu stützen und ihm gegen die Warschauer Stalinisten kräftigen Rückhalt zu gewähren. Dahin zielen die Aeußerungen des Sowjetgewaltigen zugunsten einer , gemäßigten Agrarpolitik wie die unab- ablässigenu Freundschaftsheteuerungen . .an Genossen Wieslaw (Parteipseudonym Gomulkas).

Noch wichtiger dünkt die polnische Oeffentlichkeit der in die schärfsten und unmißverständlichen Worte gefaßte Beistand, den Chruschtschew namens der Sowjetunion und des gesamten „sozialistischen Lagers" Polen in der Frage seiner Westgrenzen gelobt worden ist. Nicht ohne Absicht hat man für diese feierlichen Versprechen zunächst die Städte Kattowitz und Stettin gewählt.

Drittens. Er hat mit nicht kleinerer Energie die DDR, den „friedliebenden Nachbarn Polens“, den „ersten deutschen Staat der Arbeiter und Bauern", versichert, daß auch deren Westgrenzen gegen jedermann geschützt würden als „heilige“ Trennungslinie zwischen der kapitalistischen und der sozialistischen Welt. Er hat zugleich und beinahe in jeder Rede Adenauer persönlich und die Bundesrepublik als die Hauptfriedensfeinde angegriffen und mit seinen wuchtig eingehämmerten Programmsätzen zum deutschen Problem die Genfer Beratungen wie den Gesamtverlauf der aktuellen Weltpolitik zu beeindrucken gesucht. Daß er dies in Polen und nahe der Grenze zur DDR tat, war sorgsam berechnet.

Viertens, erst im Lichte des Memorandums über den Verzicht Chruschtschews auf seine Skandinavienreise wird die Kritik verständlich, die er von Stettin aus, im Angesicht ’ der Ostsee, an der „unverständlichen“ Haltung der skandinavischen Kreise übte, die den sowjetischen Vorschlag einer Ausdehnung der atomfreien Zone auf den europäischen Norden nicht begriffen und diese Zone auch auf die europäischen Gebiete der UdSSR erstrecken wollen.

Garantie für die polnischen Westgrenzen, Rückhalt für die DDR, Propaganda für die atomfreie Zone, Angriff auf Bonn, Drohung nach Skandinavien, endlich für die polnische Innenpolitik Beistand an Gomulka gegen die heimischen Stalinisten: so etwa lassen sich die bisher sichtbaren Zwecke des Chruschtschew-Besuchs zusammenfassen. Dazu tritt, selbstverständlich, das Bemühen, die noch immer sehr offiziellen, sehr kühlen Beziehungen zwischen den breiten Volksmassen Polens und der UdSSR zu verbessern, die polnischen Bauern zu beruhigen und durch den Appell an gesamtnationale Gefühle, durch Hinweis auf das Gespenst der deutschen Revanche sogar die erbittertsten Antikommunisten zu gewinnen.

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