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Nach der Schneeschmelze: Frühling im Oktober

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Noch i s t Polen nicht gewonnen, müssen wir den voreiligen Optimisten im Westen zurufen, die bereits einen völligen Umschwung in Warschau vollzogen wähnen und die sich über Gomulka in ähnlichen Illusionen wiegen wie seinerzeit über Tito. Noch hat Polen nicht gewonnen, wird sich mit besorgtem Mitgefühl ein jeder sagen, dem über die weltanschaulichen und weltpolitischen Differenzen hinaus die Sache der jetzt um ihre Freiheit und um ihre Unabhängigkeit kämpfenden Männer am Weichselstrand als eine der gesamten Menschheit am Herzen liegt.

Diese beiden Grundwahrheiten soll sich der Zeitungsleser vor Augen halten, wenn auf ihn die absichtlich oder aus bloßem Mangel an Ortskenntnis verwirrten und verwirrenden

Nachrichten aus dem Lande einströmen, das nun wieder einmal zum tragischen Mittelpunkt des allgemeinen Interesses geworden ist. Wer sind die Führer des zunächst erfolgreichen Umbruchs und was sind ihre Ziele? So lautet die erste zu beantwortende kapitale Frage; und ihr reiht sich sofort die zweite an: Welche Aussicht haben sie, einen dauernden Erfolg davonzutragen?

Wladyslaw Gomulka, im 52. Lebensjahr stehend, Arbeitersohn aus dem ehemals zum österreichischen Galizien gehörenden Erdölgebiet um Drohobycz, weiter zurück aus Bauerngeschlecht, ist schon äußerlich eine eindrucksame Erscheinung. Von Jugend an kränklich, mit hagerem Antlitz, aus dem flackernde, kluge Augen fanatisch blicken, starrsinnig, kühn bis zur Tollheit, von tiefem Glauben an seine Sendung erfüllt, Patriot und überzeugter Parteimann, Materialist und dennoch nicht ohne Verständnis für metaphysische Regungen, hart, unversöhnlich gegen persönliche oder sachliche Feinde, doch mit warmer Leidenschaft um die Verbesserung des Loses der breiten Volksschichten bemüht, schwer zugänglich und trotzdem ohne Großmannssucht, in der sich so viele neue Herren Genossen gefallen, ein Held der Tat und des eisernen Willens, ein vorzüglicher Organisator und ein wahrhafter Staatsmann: das ist der ungewöhnliche Mensch, der Jahre in den Gefängnissen Vorkriegspolens zubrachte, der unter der deutschen Besatzung den Widerstand mitleitete, darnach der eigentliche Regierungschef im Kabinett des unbeträchtlichen Osöbka-Morawski war und den der sachlich motivierte Haß seines Rivalen Mine, die Eifersucht Bieruts und die in unvereinbarer Gegensätzlichkeit der Charaktere wie der Auffassungen wurzelnde Feindschaft Rokossowskis im Laufe der Jahre 1948 und 1949 vom Posten des Parteisekretärs der PZPR und zuletzt aus der Partei verdrängten. Mehrere Jahre ist er alsdann in Haft gewesen. Vor noch ärgerem Schicksal hat ihn das mildere Kljma Polens bewahrt. Freigelassen und zunächst polizeilich überwacht, bald wieder in den Kulissen der polnischen Innenpolitik erscheinend, wurde er im April dieses Jahres teilweise rehabilitiert, allerdings noch vom Ersten Parteisekretär Ochab als Irrlehrer angeprangert. Im Juli wurde Gomulka auch von diesem Makel befreit, und seither betrachtete man ihn allgemein als den (wieder)kommenden Mann, ja als den Retter aus einem schier hoffnungslosen Chaos.

Neben dieser weitaus bedeutendsten Persönlichkeit des polnischen Kommunismus, neben dem Warschauer Tito, sind noch seine zugleich mit ihm zurück ans Steuerruder gelangenden Freunde Marian S p y c h a 1 s k i und Zenon K 1 i s z k o zu erwähnen. Der erste, um ein Jahr jünger als Gomulka, dem ursprünglichen Beruf nach ein hochbegabter Architekt, war Stabschef der linksgerichteten Widerstandsbewegung gggen die Okkupanten, kurze Zeit 1945 StadtpräsrcWit von Warschau, später, als Erster Vizemini6er für Landesverteidigung, in ähnlicher Rolle wie Gomulka neben Osöbka-Morawski, faktischer Oberbefehlshaber und Leiter der natürlich im kommunistischen Sinne geschehenden Politisierung des Heeres. Zugleich mit seinem Meister wurde er abgesetzt,1 dann verhaftet, rehabilitiert. Er ist nun wieder zur politischen Führung der Armee bestimmt. Kliszko, '48jährig, Jurist und Journalist, Widerstandskämpfer, einer der Leader der polnischen Kommunisten vor deren Vereinigung mit den Sozialisten zur PZPR, hat das gleiche Schicksal erduldet wie Spychalski. Nach den Posener Ereignissen wurde er, von allem Makel gereinigt, im August 1956 Vizeminister für Justiz. ,

• Die Gruppe Gomulka hat sich mit der des jetzigen Ministerpräsidenten Cyrankiewiez verbündet, die schon bisher die „Demokratisierung“, das heißt die Abkehr von Sowjetmethoden, größere Bewegungsfreiheit für die Intelligenz und wirtschaftliche Konzentrierung auf die vordringlichsten Lebensbedürfnisse'der Gesamtbevölkerung betrieben hat. Außenminister Rapacki, der kürzlich ins Politbüro gewählte Arbeiterführer Gierek, der ehemalige Warschauer Stadtpräsident Albrecht gehören zu diesem Kreis. Endlich ist der bisherige Erste Parteisekretär, Ochab, den Chruschtschow nach Bieruts Tod persönlich für dieses Amt durchgesetzt hat, allmählich von den sogenannten „Leuten von Natolin“ — voran . Vizeministerpräsident Zenon Nowak und Mazur — und von dem sie stützenden Marschall Rokossowski abgerückt; ob seine Aussöhnung mit Gomulka aufrichtig war, das wird die nahe Zukunft zeigen.

Das also sind die Politiker, die jetzt, formell nach der stürmischen Sitzung des Zentralkomitees vom 19. bis 21. Oktober, Polen regieren. Ihr Programm ist in der Rede Gomulkas umrissen, die er vor diesem Partei-Parlament hielt. Es war die eines Kommunisten, der sich über die geringe, ihm bei westlichen Staatsmännern geltende Zuneigung keiner Täuschung hingibt; der keineswegs den Bruch mit der Sowjetunion heraufzubeschwören trachtet, ihn aber nicht scheute, wenn der Kreml gewaltsam den „polnischen. Frühling im Oktober“ unterbräche, den das, Warschauer Radio so poetisch, nach der Schneeschmelze, ankündete. Der Tito an der Weichsel spielt eben das gleiche Spiel wie sein Vorbild an der in Belgrad nicht mehr blauen, sondern grauen (oder roten) Donau. Es ist ein sehr gewagtes Spiel, bei dem die nun auf ihrem eigenen Weg beharrenden Sarmaten weniger Atouts in der Hand haben als ihre jugoslawischen Vorgänger und Freunde.

In einem ist zwar Gomulka gegenüber Tito im Vorteil. Er stößt im Lande auf keine unzufriedenen nationalen Minderheiten und er darf die gesamte Bevölkerung hinter sich wissen, sobald er die Unabhängigkeit und die Freiheit, die Eigenständigkeit seines Volkes verficht.' Nur eine kleine Minorität von Stalinianern, von „nationalistes etrangers“ und ein paar von unbesiegbarem Ressentiment gelenkte Grüppchen von rechts stünden beiseite oder hülfen gar, aktiv oder passiv, dem fremden Zwingherrn.

Allein sonst erweist sich die Situation . tür Polen erheblich schlechter als für das ferner vom sowjetischen Schuß liegende.Jugoslawien. Eingebettet zwischen die UdSSR, die deutsche Sowjetzone,, deren Machthaber sich um jeden Preis auf die Seite Moskaus stellen müssen, wollen sie nicht von ihren eigenen Landsleuten hinweggefegt werden, und von der Tschechoslowakei, in der bisnun am wenigsten von der Ent-stalinisierung zu beobachten war, hat das neue Warschauer Regime im Falle einer Verschärfung des - Konflikts mit dem Kreml einen konzentrischen Angriff der Sowjetstreitkräfte zu befürchten. Es würde ihm zwar Widerstand leisten und die nichtkommunistische Mehrheit kämpfte alsdann gemeinsam mit den Nationalkommunisten Gomulkas gegen den fremden Bedrücker; der Ausgang dieses ungleichen. Ringens wäre indessen unschwer vorauszusehen. Wirksame aktive Hilfe hätte man in Warschau, wie so oft in der Geschichte, von niemand zu erwarten. In Amerika schlügen die Herzen für Polen — wie sich Präsident Eisenhower ausdrückte —, doch die Flugwaffe und das Heer der USA schlügen sich nicht für Polen. Ungarn, Jugoslawien und China hegten die innigsten Sympathien für die Verteidiger der Selbständigkeit nicht nur des eigenen Landes, sondern auch der Kommunistischen Partei jedes Volkes; doch sie begnügten sich mit heißen, unfrommen Wünschen.

Die einzige, immerhin vorhandene Chance für den polnischen Titoismus besteht darin, daß die Moskauer Oligarchen vor der Anwendung nackter Gewalt, vor Blutvergießen in größtem Ausmaß zurückschrecken. Denn damit wäre wieder einmal die Koexistenz auf geraume Frist abgestoppt; Titos Haltung geriete ins Schwanken, Llngarn und Rumänien würde übel zumute, und endlich wäre Polen fortan nur durch ein regelrechtes Terrorsystem niederzuhalten, in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht eine schwer erträgliche Belastung. Anderseits erwägen die Herren im Kreml zweifellos die für ihr Ansehen gefährlichen Folgen eines völligen Zurückweichens vor der entschlossenen Resistenz des geeinten Polens. Ungarn und Rumänien würden gleichermaßen ihre besonderen Wege wandeln und am baldigen Ende dieser Entwicklung stünde die große südosteuropäische Föderation, jener Wunschtraum erst des Bulgaren Dimitrow, dann Titos, dem gemeinsam mit Gomulka die Führung dieses Gebildes zufiele, jener Alptraum weitblickender Politiker im Kreml, der in diesem Bund die kommunistische Neuauflage der Habsburgermonarchie und also den gefährlichen Rivalen der Nachfolger des Zaren erblickte. Daß China diese Pläne fördert — so wird zum Beispiel Ochabs Einlenken zu Gomulka auf die Ratschläge zurückgeleitet, die der zum Pekinger Kommunisten-Parteitag entsandte bisherige Erste Sekretär der PZPR bei diesem Anlaß empfangen hatte —, diese Stellungnahme der fernöstlichen Weltmacht verstärkt noch in Moskau das Unbehagen, und sie könnte mit dazu beitragen, ein energisches Vorgehen wider dje unbotmäßigen Warschauer Genossen zu entfesseln.

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