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Trübe Tage in Polen

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„Der beste Propagandist sind die Tatsachen. In betreff unserer Zusammenarbeit mit Volksungarn sind sie besonders zahlreich und beredt.“ So begann ein Auflageartikel, der am 17; Juni 1958 im nun wieder gehörig an die Kandare genommenen Organ der polnischen Intelligenz, dem „Zlycie Warszawy“, zu lesen war. Er sollte die Begleitmusik zu den üblichen Feiern darstellen, die am folgenden Tag aus Anlaß des zehnten Jahrestages der Unterfertigung des polnisch-ungarischen Freundschaftspaktes veranstaltet wurden. Die „Stunde der Wahrheit“, die Ueberwindung des Zwangs zur politischen Heuchelei, welche Errungenschaft allzu optimistische Gemüter im Oktober 1956 bejubelt hatten, ist längst vorbei. Eine strenge Zensur hält wieder die polnischen Zeitungen im Zaum. Sie zeigen wieder die Weltereignisse im Zerrspiegel der Moskauer Fabrikation, mögen auch einige spärliche Reste der zeitweise ausgezeichneten und zutreffenden Berichterstattung aus den letzten Jahren übrig geblieben sein. Doch das, was man in der Rzeczpospolita Ludowa, der Volksrepublik an der Weichsel, seit Mitte Juni erlebte, überstieg die kühnsten Befürchtungen der weitaus überwiegenden Bevölkerungsmehrheit.

In ohnmächtiger Erbitterung, die von den heftigsten Gegnern des Regimes bis tief in die Reihen der kommunistischen PZPR reichte, und von der Gomulka, Cyrankiewicz, geistige und physische Arbeiter gleichermaßen erfüllt waren, mußte man sich damit begnügen — und schon das zeigte einen bewundernswerten Mut und eine aufrechte, unbeirrbare Gesinnung —, über die Budapester Morde nur mündlich seine wahre Meinung zu sagen und im Rundfunk, in der Presse nicht an dem Schimpfkonzert teilzunehmen, das die anderen sowjetischen Satelliten Imre Nagy ins Grab nachheulten. Phantasievolle Gerüchterstatter haben die Nachricht in Umlauf gebracht, Gomulka habe scharf in Moskau protestiert. Das hätte keinen Zweck gehabt und die ohnedies gefährliche Lage der jetzigen polnischen Führung wie die ihrer Nation nur verschlimmert. Begnügen wir uns mit einem authentischen Bericht darüber, was wirklich geschehen und, noch wichtiger, was nicht geschehen ist.

Die Warschauer Staatslenker dürften seit etwa Anfang Juni vom Prozeß gegen Nagy und dessen Schicksalsgefährten gewußt haben. Vermutlich hat man die Angelegenheit schon auf der Zusammenkunft der kommunistischen Parteigrößen in Moskau, ab 20. Mai, erörtert, und Gomulka, der damals drei lange Sondergespräche mit Chruschtschow hatte, soll sich bemüht haben, Nagy zu retten. Vorher, bei einem Besuch in ■ Budapest am 10. Mai, waren dem Ersten Sekretär der PZPR von seinem ungarischen Kollegen Kädär beruhigende Zusicherungen über das Los der nun dem Henker Ueberlieferten gegeben worden, und erst daraufhin hat Gomulka seine bekannte Erklärung zugunsten Kädärs veröffentlicht. Die Todesurteile und deren Vollstreckung wurden in Warschau seitens der dortigen Parteileitung jedenfalls für eine unnötige und verhängnisvolle Grausamkeit angesehen, die — auch und gerade vom Standpunkt der „sozialistischen Legalität“ her — zudem einen abscheulichen Rechtsbruch bedeutet. Mit dieser Auffassung haben die maßgebenden polnischen Persönlichkeiten nicht zurückgehalten

In einem Rundschreiben an die nachgeordneten Parteisekretariate wurde gesagt, die ungarischen Urteile seien ohne Befragen der PZPR gefällt und vollzogen worden; man habe dazu nichts zu bemerken; das Parteivolk möge' diese Erklärung nach seinem Gutdünken interpretieren. Anderseits bleibe man den allgemeinen Grundlinien des Marxismus-Leninismus wie dem Sowjetbündnis selbstverständlich treu. Konnten sie, als polnische Kommunisten, anders sprechen, anders handeln? Doch, wenn man gewisse Schlagworte des Parteijargons wiederholen mußte, so gab es der Mittel genug, der in dieser Hinsicht feinfühligen polnischen Nation klaren Wein einzuschenken.

Die Nachricht von der Budapester Tragödie wurde durch eine kurze Meldung der amtlichen Telegraphenagentur PAP verbreitet. Sie stand an versteckter Stelle im Innern der Tagblätter vom 18. Juni, unter der Ueberschrift „Kommunique des Justizministeriums der Ungarischen Republik“, und lautete: „Das Justizministerium der Ungarischen Republik veröffentlichte ein Kommunique über die Beendigung des Prozesses Imre Nagys und seiner Gruppe. Das Untersuchungsmaterial und der Gerichtsprozeß haben gezeigt und bestätigt — so stellt das Kommunique fest (mit diesen paar Worten desolidarisiert sich Warschau von den Behauptungen Kädärs) —, daß Imre Nagy und seine Gruppe im Einklang mit ihren früheren revisionistischen, bürgerlich-nationalistischen Ansichten, im Bündnis mit den reaktionären, imperialistischen Kräften der Bourgeoisie Verrat an der ungarischen Volksdemokratie der Werktätigen und am sozialistischen Vaterland verübt haben.“ (Folgt die Bekanntgabe der verhängten Strafen und des Vollzugs der Todesurteile.) Die einzige weitere Nachricht, die bis zum 25. Juni über die Affäre Nagy ferner in der polnischen Presse zu finden war, bestand in einem Satz einer PAP-Depesche aus New York über einen Presseempfang bei Eisenhower: „Im Zusammenhang mit der Hinrichtung Imre Nagys und dreier anderer Mitglieder seiner Gruppe drückte der Präsident die Ansicht aus, diese Angelegenheit werde ein sehr großes Hindernis bei Verhandlungen mit der UdSSR sein.“ Kein Schmutz ist aus Polen den Opfern Kädärs nachgeschleudert worden. Wie man über diesen und seine Helfer denkt, das verrät jedem, der mit den Subtili-täten der Warschauer amtlichen Mitteilungen vertraut ist, dieser „Hofbericht“: „Am 10. Jahrestag der Unterzeichnung des Freundschafts- und Beistandspaktes zwischen der Polnischen Volksrepublik und der Ungarischen Volksrepublik gab der Botschafter der UVR in Polen, Katona, einen Empfang in den Salons der ungarischen Botschaft in Warschau. Zum Empfang erschienen Vertreter der Regierung, der politischen Parteien und der gesellschaftlichen Organisationen. Ferner waren die Chefs und die Mitglieder einer Anzahl in Polen beglaubigter diplomatischer Vertretungen anwesend.“ Mit anderen Worten: erstens war keiner der leitenden Männer des Staates und der PZPR gekommen, die meisten fremden Diplomaten glänzten durch Abwesenheit, und vor allem: es fehlte der in Polen, wie in anderen Ostländern, bei derlei Anlässen sakramentale Zusatz, daß die Veranstaltung — je nachdem — in freundschaftlicher, in sehr freundschaftlicher, in herzlicher, in sehr herzlicher oder in ungewöhnlich herzlicher Stimmung verlaufen sei. Diplomatische Note für Ungarn mithin: „zero eliminatoire“, „ganz ungenügend“.

Soll das aber auch heißen, daß zwischen Moskau und Warschau ein Konflikt oder gar ein Bruch bevorsteht? Das Klima ist derzeit zweifellos wenig sommerlich für die beiderseitigen Beziehungen. Die polnischen „Dogmati-ker“, „Stalinisten“, „Natoliner“ regen sich kräftig. Sie harren ungeduldig des Augenblicks, Gomulka zu stürzen, sich an ihm und an seinem Team zu rächen. Ihre Oberhäupter — der nach Prag als Botschafter abgeschobene Mazur, der sich an der Moldau ungemeiner Sympathien erfreut und den dortigen, durch den Besuch des immer heller erstrahlenden Sowjetstars Kirischenko ausgezeichneten Parteitag dazu benutzte, um kräftig gegen Gomulka zu hetzen; der frühere Kabinettchef Bieruts, Mijal, und der einstige 'Gewerkschaftsboß Klosiewicz — wagen die mannigfachsten Vorstöße. So wandte sich der Bruder des im Oktober 1956 entfernten Exwirtschaftsdiktators Hilary Mine, Bronislaw, in einem scharfen Artikel der „Polityka“ gegen Professor Oskar Lange, Vorsitzenden des Gomulka maßgeblich beratenden Wirtschaftsrats. In einer Leserzuschrift (?) an dieses einflußreiche Presseerzeugnis nimmt ein Mißvergnügter die „ganze Richtung“ aufs Korn und verkündet, der Oktoberumbruch sei unnötig, also schädlich gewesen. Aus der Tschechoslowakei, aus Bulgarien, aus der DDR ertönen herbe Kritiken. Doch in Moskau gibt man der jetzigen Warschauer Equipe weiterhin zögernden moralischen und sparsamen finanziellen Kredit. Mindestens solange Chruschtschow am Ruder ist und soferne er sich da behaupten kann, ohne Gomulka zu opfern.

Eben erst weilte eine sowjetische Delegation unter Professor Lobanov in Warschau, wo sie neue, noch engere kulturelle Bindungen an die UdSSR verabredete. Wissenschaftlic'- er, künstlerischer, literarischer Austausch zwischen den zwei Staaten ist in beschleunigtem Gange. Obwohl zugleich die geistigen, wirtschaftlichen und gewiß auch die politischen Kontakte Polens mit Jugoslawien andauern. Doch da halten wir inne. Entrollt sich nicht vor uns eine gewaltige Kulisse, ein gigantisches potemkinsches Dorf — oder eine riesenhafte Chruschtschowsche Agrar-stadt —, hinter der ganz andere Landschaften zu erblicken wären? Nämlich jene nackten Tatsachen, die der offiziöse Schreiberling den besten Propagandisten hieß. Sie s.nd wahrlich zahlreich und beredt; sie umfassen nicht nur das traurig warnende Beispiel des armen Imre Nagy, dessen Anwendbarkeit auf Tito der Kreml auf dem Umweg über Peking deutlich verkündet hat, sondern auch die Unsicherheit, die über Gomulka und über ganz Polen verhängt ist: ohne Rücksicht darauf, daß sich beide, der Parteiführer und das Land, bemühen, durch würdige Haltung und durch kluge Fügsamkeit einem jederzeit, als Blitz aus trübem Himmel, möglichen versehrenden Schlag vom kommunistischen Olymp im Kreml zuvorzukommen.

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