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Die Rebellion der Magyaren

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Fortsetzung von Seite 3

lig isoliert und mußten sich aus Budapest zurückziehen.

Der Aufstand schien gesiegt zu haben! Denn die Nagy-Regierung trug schnell der Situation Rechnung: am 28. Oktober erweiterte Nagy das Kabinett mit zwei bürgerlichen Politikern. Einen Tag später begann er Verhandlungen mit den Russen über den Abzug der Truppen.

Am 30. Oktober schaffte Nagy das Einparteiensystem ab und kündigte nach den Wünschen der Aufständischen die Bildung einer Koalitionsregierung mit bürgerlichen Parteien und Sozialdemokraten an. Am gleichen Tag wurde der von den Kommunisten 1949 zu lebenslänglicher Haft verurteilte Kardinal Joseph Mindszen-ty von Einheiten der ungarischen. Volksarmee befreit.

Als dann die Sowjets entgegen allen ihren vorherigen Versprechungen Truppen an der ungarischen Grenze zusammenzogen und sich bereits am 31. Oktober anschickten, strategische Punkte im Lande zu besetzen, kündigte Imre Nągy am 1. November den Austritt Ungarns aus dem Warschauer Pakt an und proklamierte die „immer und ewig dauernde" Neutralität des Landes - nach dem Muster von Osterreich, Gleichzeitig erging der Appell der Regierung an die Vereinten Nationen, die Ungarnfrage dringend auf die Tagesordnung zu setzen.

All diese Maßnahmen wurden von jeder Schicht der Bevölkerung begrüßt und durch unzählige Kundgebungen gebilligt. Dabei stand auch nicht die neugegründete ungarische Kommunistische Partei, die MSZMP zurück, deren Erster Sekretär, Jä-nos Kädär, am 1. November im Rundfunk sprach und sich vorbehaltlos der Politik „seines Freundes und Genossen Imre Nagys" anschloß…

In der Nacht vom 31. Oktober auf den 1. November wurde jedoch das Todesurteil über den Volksaufstand in Moskau ausgesprochen. Der orthodoxe Flügel des Politbüros nützte die im Nahen Osten entstandene Kriegslage aus, um Chruschtschow zu einer Militärintervention gegen Ungarn zu bewegen. Denn, so argumentierten sie, die „Ungarnereignisse" könnten rasch zu einer allgemeinen Krise in Osteuropa ausarten und somit die sowjetische Vorherrschaft in dieser Region gefährden!

Indessen hatte das Moskauer Politbüro auch aus Washington zuverlässige Nachrichten erhalten: die USA denke nicht daran, die sowjetische Einflußsphäre in Osteuropa zu gefährden!

Was nun kam - war ,JRoutine-arbeit". Der Aufmarsch der Roten Armee konnte bis zum Abend des 3. November abgeschlossen werden. Vergebens waren die Bemühungen der Nagy-Regierung, die

Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit wieder voll auf Ungarn zu lenken, um die bereits errungene Freiheit zu retten.

Zwar bestanden noch immer Kontakte zwischen Nagy und den Sowjets. Aber die Verhandlungen der Russen mit dem neuernannten Verteidigungsminister General Päl Maleter (ein Kommunist und Partisan des II. Weltkrieges) waren nur zum Schein geführt worden. Formell ging es immer noch um den Abzug der Sowjettruppen aus Ungarn. Die Sowjets zögerten die Gespräche jedoch nur hinaus, bis die militärischen und politischen Voraussetzungen der Intervention gesichert waren.

Am 4. November 1956, einem Sonntag, folgte der entscheidende Schlag. In den frühen Morgenstunden rückten die russischen Panzer in Budapest ein. Schon in der Nacht zuvor hatten die Sowjets mitten aus den Verhandlungen heraus Malėter und seine Begleiter unter Bruch der diplomatischen Gepflogenheiten verhaftet und somit die ungarische Volksarmee ihrer Führung beraubt.

Eine Rundfunkstation aus der Provinz verkündete am 4. November die Gründung einer „revolutionären Arbeiter- und Bauernregierung", an deren Spitze Jänos Kädär gestellt wurde. Kädär wurde, wie sich später herausstellte, am 2. November aus Budapest „entführt" und für seine neue Rolle in der sowjetischen Karpato-Ukraine präpariert. Nagy selbst mußte am 4. November seinen Amtssitz im Parlamentsgebäude aufgeben. Er fand mit seinen engsten Mitarbeitern in der jugoslawischen Botschaft Asyl.

Fünf Tage dauerte der Kampf der Sowjets um Budapest. Auf dem Land wurde bis zum 15. November weitergekämpft. Bis tief in den Januar 1957 hinein setzte man den „Kleinkrieg" in den Bergen gegen die Invasoren fort. Und es ging noch etliche Monate, bis Jänos Kädär seine Herrschaft gefestigt hatte.

Im Zuge dieser Konsolidierung wurde die Streikbewegung der Arbeiterschaft niedergeschlagen, die National- und Revolutionskomitees abgeschafft. Schriftstellerverband und Journalistenverband aufgelöst, die Studentenvereinigung verboten und die an dem Aufstand Beteiligten zur schärfsten Rechenschaft gezogen.

Die Verlustbüanz des ungarischen Volksaufstandes in Zahlen ausgedrückt lautet wie folgt: Die Volkswirtschaft des Landes erlitt durch die Kampfhandlungen und Streiks etwa 24 Milliarden Forint Schaden. Durch die Kämpfe in Budapest und auf dem Lande kamen über 3.000 Menschen ums Leben und über 19.000 wurden verletzt. Beinahe 200.000 Menschen flüchteten aus Ungarn.

Die Verluste der sowjetischen Interventionstruppen wurden noch immer nicht veröffentlicht. Man schätzt sie auf wenigstens 3.000 Rotarmisten.

Die Zahl der von der Kädär-Re-gierung eingekerkerten Aufständischen wird von zuverlässigen Quellen mit 12.000 angegeben. (Offizielle Zahlen existieren bis heute nicht!) Hingerichtet wurden zwischen 1956 und 1961 453 Menschen, darunter Ministerpräsident Imre Nagy und General Päl Malėter.

Die historischen Lehren, die die ungarischen Kommunisten aus dem Aufstand zogen, werden im oben gedruckten Beitrag auf dieser Seite ausführlich behandelt. Was nun die Sowjets betrifft, die schlußendlich für die Entwicklung hinter den Kulissen in Ungarn die Verantwortung tragen: Sie haben aus 1956 ihre eigenen Lehren gezogen. Sie wissen nun, daß die Magyaren ein Rebellenvolk sind, das man, wenn man von ihnen Ruhe will, mit Samthandschuhen behandeln muß.

Das tun sie auch, und die vergangenen Jahrzehnte haben ihnen recht gegeben: Die .Jsleinen Freiheiten" und der einzigartige Wohlstand im heutigen Ungarn, das wohltuend unter den anderen Volksrepubliken bzw. der UdSSR selbst heraussticht, sind die unmittelbaren Folgen dieser realistischen sowjetischen Politik.

Der Aufstand 1956 war also letzten Endes nicht vergebens: Die Helden und die Märtyrer des Volkes sind Vor 25 Jahren nicht umsonst gestorben!

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