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Revolution im Februar

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Die Revolution in Rußland im Jahre 1917 ist eines der bedeutendsten Ereignisse in diesem Jahrhundert. Mit ihren Auswirkungen muß die heutige Welt noch leben.

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Die Revolution in Rußland im Jahre 1917 ist eines der bedeutendsten Ereignisse in diesem Jahrhundert. Mit ihren Auswirkungen muß die heutige Welt noch leben.

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Die Ursachen, die zum sozialen Erdbeben in Rußland führten, waren tiefgreifend und schon lange vor 1917 erkennbar. Das zaristische Rußland zählte in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts zweifellos zu den rückständigsten Ländern Europas.

Während sich Teile der sozial denkenden Intellektuellen der besitzlosen Bauern annahmen und für deren Rechte eintraten, begannen andere, auf den Spuren westeuropäischer Sozialdemokraten, die Arbeiter zu organisieren.

Erstere bezeichneten sich als „Sozialrevolutionäre“; die anderen sammelten sich in der um die Jahrhundertwende gegründeten

„Sozialdemokratischen Partei Rußlands“, die sich 1903 - infolge interner Streitigkeiten—in die gemäßigten Linken (Menschewiken) und in die radikalen Linken (Bolschewiken) spaltete.

Das Ziel der Bewegung war, die bestehende gesellschaftliche Ordnung zu stürzen und an die Macht zu gelangen.

Der große Widersacher aller dieser Revolutionäre war Zar Nikolaus II., der 1894 den Thron bestiegen hatte und das riesige Land mit 161 Millionen Untertanen als absoluter Herrscher regierte. Er vertraute der politischen Polizei, der „Ochrana“, die jegliche oppositionelle Bewegung im Land mit Gewalt und List zu unterdrücken hatte.

Der Weltkrieg 1914 vertiefte die Kluft zwischen Regierenden und Regierten, aber auch unter den sozialistischen Parteien Rußlands.

Während sich die Mehrheit der Menschewiken und die Sozialrevolutionäre im Sommer 1914 für die Verteidigung des Vaterlandes entschieden, forderte der Anführer der Bolschewiken, der 44j ährige Jurist Wladimir Iljitsch Lenin, der seit 1907 im Ausland (seit September 1914 in der Schweiz) weilte, daß der Krieg mit allen Mitteln sabotiert und der „ungerechte imperialistische Weltkrieg in einen gerechten Bürgerkrieg“ verwandelt werden müsse.

Der Winter 1916/17 stand im Zeichen von vermehrten Unruhen in Rußland. England und Frankreich drängten den Zaren zu Kraftanstrengungen an der Front. Dazu fehlten jedoch die Mittel. Die Kriegsziele begeisterten die Soldaten nicht mehr: Lethargie ergriff das Heer.

Vergeblich warnten die bürgerlichen Oppositionsführer den Zaren und seine Regierung vor den verheerenden Folgen ihrer Politik.

Nikolaus II. und seine Ratgeber antworteten auf ihre Weise: Man löste das (Schein-)Parlament auf, und die „Ochrana“ bekam neue, schärfere Anweisungen.

Die Fruchtlosigkeit aller Versuche, den Zaren zu einer Änderung seiner Haltung zu bewegen, wurde zum letztenmal durch die Ermordung des Mönchs Rasputin im Dezember 1916 offenbar. Aber auch diese Warnung, ein Wetterleuchten der kommenden Ereignisse, fand im Zarenpalast keinen Widerhall. Das Reich war reif für die Revolution.

Mit einer spontanen Frauendemonstration in den Straßen Petrograds — heute Leningrad — begann am 23. Februar 1917 (nach altem russischen Kalender) jene

Bewegung, die binnen weniger Tage den russischen Zarenthron zum Einsturz brachte.

Diese Bewegung, die später den Namen „Februarrevolution“ erhielt, wurde von keiner Partei organisiert und war von keinem Politiker in Bewegung gesetzt. Russische Arbeiterinnen, erbost darüber, daß die täglichen Brotrationen immer kleiner wurden und oft von den Bäckereien überhaupt nicht ausgegeben werden konnten, inszenierten den ersten Zwischenfall in der Hauptstadt.

Am nächsten Tag, dem 24. Februar, schlössen sich die Petrograder Arbeiter den Forderungen der Frauen an.

Polizeiabteilungen und Armee-Einheiten standen den Ereignissen in Petrograd machtlos gegenüber. Am 27. Februar gingen sogar Truppen der hauptstädtischen Garnison auf die Seite der Demonstranten über.

Ihre Parolen — Freiheit und Frieden - machten auf sie einen tiefen Eindruck. Erst jetzt erschienen die bürgerlichen und sozialistischen Politiker auf der Bühne der Revolution.

Sie forderten im Namen der Mehrheit der Bevölkerung die sofortige Abdankung des Zaren und die Bildung einer demokratischen Regierung. Am 28. Februar 1917 ging Moskau in die Hände der Aufständischen über.

Um die Monarchie für das Haus Romanow zu retten, dankte Nikolaus II. am 2. März 1917 ab. Doch niemand in seiner Familie war ge-

willt, das schwere Erbe anzutreten. Die Herrschaft der Romanows, die immerhin mehr als 300 Jahre gedauert hatte, war damit zu Ende.

In den nächsten Tagen formierte sich unter dem Fürsten Georgi Jewgeniewitsch Lwow eine Provisorische Regierung. Von den Bürgerlich-Liberalen bis zu den gemäßigten Sozialisten beteiligten sich alle Parteien an dieser Regierung. Man bemühte sich, den geeigneten Weg zu finden, Rußland ohne große Erschütterung vom Absolutismus zu einer bürgerlichen Demokratie zu führen.

Auch die Bolschewiken begrüßten anfangs die Revolution begeistert und waren bereit, die Provisorische Regierung in jeder Hinsicht zu unterstützen.

Nicht so aber Lenin, der im Ausland weilende Anführer der Bolschewiken, der die Nachricht über den Sturz des Zaren in Zürich vernahm und nun alles daransetzte, so rasch Wie möglich nach Rußland zurückkehren zu können.

Es ist eine Geschichte für sich, wie es Lenin gelang, mittels eines zum „neutralen Boden“ erklärten Eisenbahnwaggons Stockholm zu erreichen, von wo aus er unverzüglich nach Rußland reiste.

Kaum war Lenin am 3. April 1917 mit seinen engsten Mitarbeitern in Petrograd eingetroffen, begann er schon seine umstürzlerischen Pläne zu verwirklichen. Auf dem Finnischen Bahnhof hielt er eine erste Programmrede.

Diese war eine offene Kriegserklärung an die Provisorische Regierung. Lenin trat für einen neuen Staat ein „ohne stehendes Heer, ohne eine gegen das Volk gerichtete Polizei, ohne ein über das Volk gestelltes Beamtentum“.

Er ließ die „Weltrevolution“ leben und verkündete: der bürgerlichen Februarrevolution müsse eine neue, eine sozialistische Revolution folgen.

Heute sieht man die russische politische Szenerie des Frühlings und Sommers 1917 ziemlich klar.

Drei politische Strömungen versuchten, die Oberhand über Rußland zu gewinnen: die Provisorische Regierung, die seit ihrer Gründung im März 1917 stets nach links abdriftete; die Sowjets, die die Macht im Namen des arbeitenden Volkes für sich beanspruchten und sich dabei von einem idealisierten Bild der Pariser Kommune von 1871 leiten ließen, sowie die Bolschewiken, die vorerst durch die Sowjets zur Macht gelangen wollten und erst später

ihre Strategie änderten.

Im Sommer 1917 spitzte sich die Lage zu: Lenin selbst mußte nach einem gescheiterten Aufstand gegen die Regierung nach Finnland fliehen. Seine führenden Mitarbeiter gingen in die Illegalität.

Am 20. Juli trat Fürst Lwow als Ministerpräsident zurück. Der Sozialrevolutionär Alexander Fedorowitsch Kerenski, 37 Jahre alt, gelernter Jurist, wurde Regierungschef.

Der neue Ministerpräsident, auf der Suche nach einem festen staatsrechtlichen Stützpunkt, ließ für August in Moskau eine Gesamtrussische Staatskonferenz zusammenrufen. Daran nahmen etwa 2.000, Delegierte teil —

aus allen politischen Parteien, ausgenommen die Bolschewiken.

Kaum war die Konferenz zu Ende, wurde die Lage von einem Staatsstreich bedroht. Der Putschversuch kam aus dem Lager der Rechten. General Korni-low, der Höchstkommandierende der Russischen Armee, versuchte Anfang September, mit einem Handstreich die Staatsgewalt an sich zu reißen, die Regierung aufzulösen und zur „Rettung Rußlands vor dem Chaos“ eine Militärdiktatur auszurufen.

Sein Vorhaben scheiterte. Kerenski alarmierte seine Partei, die revolutionären Militärräte und die Sowjets. Auch die Bolschewiken meldeten sich plötzlich aus dem Untergrund, bekamen kalte Füße von den Militärs und reihten sich zur Stützung der Provisorischen Regierung in die Verteidigung von Petrograd ein. Es kam aber zu keinerlei Kämpfen.

Der Putsch der Generäle brach Mitte September zusammen. Kornilow selbst wurde verhaftet. Eigentliche Sieger des Putschver-

suches waren die Bolschewiken. Sie waren plötzlich zu „Rettern der Revolution“ aufgestiegen. Ihre Illegalität gehörte der Vergangenheit an.

Die Autorität der Partei Lenins wuchs, und ihre Parolen — Friede und Bodenverteilung — nahm die Masse begeistert auf.

Am 23. Oktober fand in Petrograd eine Sitzung des Führungsgremiums der Bolschewistischen Partei statt. Lenin, kurz zuvor heimlich aus seinem finnischen Asyl zurückgekehrt, plädierte für den möglichst baldigen bewaffneten Aufstand gegen Kerenski und seine Regierung.

Das Handeln ging in der Nacht vom 24. auf den 25. Oktober 1917 auf das von Leo Trotzki beherrschte Militärkomitee über. Alle wichtigen Punkte Petrograds wurden von den Bolschewiken und ihren Verbündeten besetzt -ohne Kampf und ohne Menschenopfer, wie später Trotzki selber zugab.

Der Sturm auf das Winterpalais erfolgte am Spätabend des 25. Oktober (nach der ab 1918 eingeführten neuen Zeitrechnung am 7. November), als etwa um 21 Uhr der nahe bei der Nikolaj-Brücke auf der Newa liegende Kreuzer „Aurora“ einen einzigen — blinden — Schuß abfeuerte. Der Widerstand im Winterpalast dauerte kaum eine Stunde.

Lenin und seine Partei haben im Oktober 1917 nicht das Zarentum zum Einsturz gebracht, sondern die Republik. Die „zweite Revolution“ in Rußland innerhalb eines Jahres machte Lenin den Weg zu einer Einpartei-Diktatur frei, die dann im Jänner 1918 auch errichtet wurde und bis heute den Grundstein der Sowjetunion bildet.

Retter der Revolution

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