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Zufällige Entartung?

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„Die Reinigung der kommunistischen Bewegung vom Schmutz des Stalinismus ist längst noch nicht vollendet.“ Mit diesem letzten Satz seiner 626 Seiten langen Analyse der Ursachen, Auswirkungen und Gefahren einer Rückkehr des Stalinismus befindet sich der Autor Roy A. Medwedew in einem gewissen Gegensatz zu den Voraussetzungen jenes Appeasements, dessen man sich derzeit vor allem im Westen erfreut. Nach der in der öffentlichen Meinung vorherrschenden Ansicht freiheitlich denkender moderner Menschen gehört der Antistalinis-mus längst zu jenen „unkritischemotional“ bedingten Anschauungen, die seit dem Ende Stalins und des Kalten Krieges ihren Sinn verloren haben. Antistalinismus wird jetzt so wie Antikommunismus und letzten Endes Antimarxismus in einer Linie gesehen. Und Antikommunismus weist Willy Brandt neuerdings von sich, wobei er es allerdings unterläßt, jene Linie der Unterscheidung aufzuzeigen, die zwischen der Sozialdemokratie in Deutschland und dem Kommunismus sowie der linken Linken von heute geschichtlich entstanden ist.

Eine Trennungslinie, die es für viele Jusos und Linksintellektuelle grundsätzlich nicht geben darf.

Der Autor ist keiner jener „Ex-kommunisten“, die aus dem Osten in die freie Welt übersiedelt sind und die ohne Gefahr ihre Bestseller über den Horror des Stalinismus schreiben können. Roy E. Medwedew ist Sowjetbürger, Kommunist und Historiker vom Fach. Er ist der Zwillingsbruder des Biochemikers Shores (Jaures) Medwedew, der unlängst wegen seines Aufruhrs gegen die geistige Unfreiheit in der UdSSR in ein Irrenhaus eingewiesen wurde. Bei aller Wissenschaftlichkeit in dem Vorhaben, das Phänomen Stalin zu erfassen, kann der Autor nicht verleugnen, daß er auch als Tatzeuge des Geschehens während der 30jährigen Ära des „Großen Stalin“ auftritt. In seiner Jugend war Stalin der vergötterte Diktator; dann wurde Stalin nacheinander jener unverantwortliche Alleinherrscher, der auch den Vater des Autors, einen der Wächter, die im Sowjet-system die Wächter bewachten, umbringen ließ; der Erfinder jenes Systems, das heute noch fortwirkt, wenn Nonkonformisten in Irrenanstalten eingewiesen werden; und der Meister in jener auch von Hitler kopierten Methode, mit der Millionen von Sowjetbürgern verfolgt, gemartert und getötet wurden. Nur allzu lange lebte auch der Autor in dem Glauben linientreuer Kommunisten, der sie tröstete, wenn sie ausriefen: Das kann Stalin nicht gewußt haben oder: wenn Stalin das wüßte!

Auch in dem vorliegenden Werk wird weiter die These vertreten, die sich der Sowjetdogmatismus nach dem Ende Stalins und neuerdings auch gewisse Linksintellektuelle im Westen zunutze gemacht haben: Demnach war der Stalin-Kult, das damit verbundene Terrorsystem und die Diktatur eines Individuums anstatt jener des Proletariats „nur“ so etwas wie eine „zufällige Entartung“

des Kommunismus. Nicht etwa, daß Medwedew Stalin „bloße Irrtümer“ und keine Verbrechen anlasten würde. Aber für Medwedew ändern die Verbrechen des Stalinismus, der während 30 Jahren der UdSSR das Gepräge gab, nichts an den bleibenden Werten des Kommunismus und an der Bedeutung der von Lenin neu getexteten und praktisch angewandten Lehre des Marx. Denn, so argumentiert der Autor, nicht der Marxismus-Leninismus hat den Stalinismus hervorgebracht, sondern Stalin selbst sei es gewesen, der sich das in ihm verkörperte System beilegte. An diesem Punkt der Analyse beginnen die Widersprüche:

Medwedew kann zum Phänomen Stalin weder in der „Basis“ noch im „Uberbau“ eine Erklärung für das Emporwachsen des Stalinismus aus dem Wurzelboden des Marxismus-Leninismus finden. In der Verteidigung marxistischer Denk-vorstellungen widerlegt der Autor nolens volens deren Systemgedanken, indem er feststellt: der Stalinismus ist das Produkt einer „einzigartigen Persönlichkeit“, die eine „übermenschliche Kraft“ besessen hat. Damit kommt Medwedew nicht nur neuerdings — wenn auch in einem negativen Sinn — dem „Kult der Persönlichkeit“ nahe; er räumt der „Persönlichkeit“ einen Rang ein, den sie nach marxistischer Geschichtsauffassung nicht haben kann. Der Autor geht aber noch einen Schritt weiter, indem er dem Stalinismus eine derartig „typenbildende Kraft“ beimißt, daß demnach nicht nur unzählige Funktionäre beim Mitvollzug des Stalinismus schuldig wurden, sondern auch Persönlichkeiten wie Nikita S. Chruschtschow oder Ernst Fischer und andere heutige Vertreter eines gereinigten Kommunismus. Der Stalinismus war, und das muß dem Autor bei allem Respekt vor seiner Zivilcourage entgegengehalten werden, eben keine „zufällige Deformation“ des Sozialismus, er ist ein Regelfall.

Schon im Ei des Leviathans waren Ziele, Methoden und Typen des späteren Stalinismus beschlossen. Die „Sozialdemokratische Arbeiterpartei Rußlands“, jetzt KPdSU, hat auf ihrem II. Parteikongreß (1903) bereits große Partien des Stalinismus dogmatisiert. Damals haben Lenin, Trotzki und der „Vater des Marxismus in Rußland“, Plechanow, jenen Theorien Bahn gebrochen, die Lenin und Trotzki nach der Oktoberrevolution in Rußland (1917) realisiert und Stalin auf die Spitze getrieben haben. 1903 versuchten es die späteren „Menschewiken“' noch einmal, gegen die in der Arbeiterpartei aufkommenden bolschewikischen Methoden der Intellektuellen aufzukommen. Die Menschewiken wollten: Freiheit, Demokratie, Humanität, ohne schon das volle Ausmaß der später von den Bolschewiken gehandhabten Unfreiheit, Gewalttätigkeit und Bestialität zu ahnen. Nur einige verspürten angesichts der vorerst bloß theoretisch aufgezeigten Ziele, Methoden und Typen des Bolschewismus instinktiv jene späteren Auswirkungen, deren Mordopfer nicht wenige von ihnen werden sollten. Rebus sie stantibus muß erinnert werden:

1903 war es Plechanow, ein ehemaliger Offizier aristokratischer Herkunft, der zuerst einmal die unbedingte Unterordnung der „demokratischen Prinzipien“ unter die „Erfordernisse der Revolution“ zur Anerkennung brachte. Der damals kaum 23jährige Trotzki, Sohn begüterter Eltern, beseitigte damals mit einer brillanten Rede die instinktive Angst, die Diktatur des Proletariats könnte ein grausamer „jakobinischer Akt“ werden. Und Lenin, Sohn wohlhabender Eltern und aus einer eben vom Zaren geadelten Familie, faßte das Kommende in einem System zusammen, dessen Dokumentation in dem Buch „Was tun?“ in die Revolutionsgeschichte eingegangen ist. Nach der Machtergreifung durch die Minorität der Bolschewiken (1917) fragten Lenin und Trotzki allerdings nicht lange, was zu tun sei. Die spätere, fast ausschließlich dem Stalinismus zugewandte Beschreibung des bolschewikischen Terrors ließ meistens die Tatsache vergessen, daß schon vor Stalin, unter Lenin und Trotzki, jene Methoden der physischen Ausrottung einer Klasse vorexerziert worden sind, die nachher geradezu „Vorbild“ bei der Ausrottung einer Rasse wurden.

Francois Fejtö hat in seiner Geschichte der Volksdemokratien (Styria, Graz 1973) die weitere Ausbreitung des Stalinismus in den seit 1939 unter kommunistischer Kontrolle geratenen Ländern beschrieben. In unseren Tagen kehrte aus Kuba Günther Maschke zurück, der vor zehn Jahren als Student in der Ära Rudi Dutschke hinter den Bildern des Fidel Castro und des Che Guevara marschierte, um im Sinne der Neuen Linken Revolution zu machen. Jetzt zeigt er sich entsetzt über eine „unvorstellbar militarisierte Gesellschaft“ in jenem Kuba, das so lange die Fluchtburg aller „Freiheitsliebenden“ war. Und: der Sozialist Allende, dessen Machtergreifung mit Hilfe der Volksfront in Chile einmal als „die erste freie Wahl eines Marxisten in die Macht“ herausgestellt wurde, konnte bald nachher eben diese Macht nur noch so behaupten, wie alle „Sieger in der Revolution“ in den letzten 150 Jahren in Südamerika ihre Macht errungen und behauptet haben; nämlich mit Unterstützung jener Militärs, deren Erscheinen auf der politischen Bühne sonst von der Linken als Beweis des Vorhandenseins einer „Gewaltherrschaft“ lauthals diffamiert wird.

In der Geschichte der Sozialdemokratie sind eine „Volkspartei der Mitte“ und der „Kommunismus“ erreichbare Tangentialwerte. Das vorliegende Werk zeigt auch dieses Risiko, das heute „in“ ist, unter anderem auf.

DIE WAHRHEIT IST UNSERE STÄRKE. Geschichte und Folgen des Stalinismus. Von Roy A. Med-wedew. S. Fischer, Frankfurt am Main 1973. 638 Seiten.

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