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Beginnt im 70. Jahr erst die große Revolution?

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„Oktoberrevolution“ wird jene gut vorbereitete Putschaktion bezeichnet, mit der vor 70 Jahren Lenin und die Bolschewiken die Macht in Rußland an sich rissen. Der Sturm auf das Winterpalais am 7. November 1917 hat die Welt verändert.

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„Oktoberrevolution“ wird jene gut vorbereitete Putschaktion bezeichnet, mit der vor 70 Jahren Lenin und die Bolschewiken die Macht in Rußland an sich rissen. Der Sturm auf das Winterpalais am 7. November 1917 hat die Welt verändert.

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Der Sowjetstaat befindet sich im 70. Jahr seines Bestehens in einem kaum vorstellbaren Umgestaltungsprozeß. Es gibt—auch im Westen—kaum jemanden, der das Reformprogramm von Generalsekretär Michail Gorbatschow nicht ernst nimmt; auch wenn dessen Erfolgschancen in der Sowjetunion selbst und im westlichen Ausland unterschiedlich bewertet werden.

Gorbatschow hat erst vor kurzem in Murmansk wieder jene Prinzipien zusammengefaßt, von denen sein Veränderungswillen im Rückgriff auf die „Große Revolution“, wie die Oktoberrevolution in der UdSSR genannt wird, bestimmt ist: die Sowjetunion, so betonte der sowjetische Parteichef, durchlaufe jetzt „die große Schule des Lebens, die Schule der Wahrheit und Offenheit, die Schule des Verantwortungsbewußtseins und der Disziplin, der Erweiterung der Demokratie und des Internationalismus sowie des Patriotismus“.

Mit Wolfgang Leonhard, dem intimen Kenner des Sowjetsystems, wird man wohl sagen können, daß derzeit die sowjetische Politik von einer „Demokratisierung von oben“ beeinflußt ist. Diese von Leonhard bereits 1975 (in: Am Vorabend einer neuen Revolution? Die Zukunft des Sowjetkommunismus) auf dem Hintergrund von marxistischen Reformansätzen getroffene Feststellung klingt fast wie eine prophetische Aussage. Es ist zwar nicht die „Furcht vor einer Revolution“, wie Leonhard vor zehn Jahren noch meinte, die zu Veränderungen und Verbesserungen im Sowjetsystem führt, sehr wohl ist aber der wirtschaftliche, technologische und soziale Nachholbedarf der Sowjetunion ein die Umgestaltung hervorbringender Faktor.

Was wird aus der Sowjetunion nach den Reformen? Auf einer internationalen Konferenz von Sowjetexperten im Juni 1957 in Oxford (also im Jahr nach jenem berühmten 20. Parteitag der KPdSU, auf dem Nikita Chruschtschow mit dem Stalinismus abrechnete und eine „Rückkehr zu Lenin“ proklamierte) meinte der damalige Zentralsekretär der Sozialistischen Partei der Schweiz, Jules Humbert-Droz, daß sich das Sowjetsystem wohl kaum rasch in Richtung westliche Demokratie entwickeln werde. Sein weiterer Ausblick, auf dem Hintergrund der gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Bestrebungen in der UdSSR Michail Gorbatschows, fördert erstaunliche Weitsicht zutage: „Ich glaube, wenigstens einige Möglichkeiten dafür zu sehen, daß ein totalitärer Staat sich im Laufe der Jahre in einen traditionellen Typus eines autoritären Systems verwandelt, das wenigstens minimale Garantien für die Rechte von Individuum und Gruppen bietet und sich in gewisser Weise an die verschiedenen Kräfte anpaßt, welche die sowjetische Gesellschaft bestimmen.“

Sicherlich wird auch ein Gorbatschow am sozialistischen Weg, an der Entwicklung einer kommunistischen Gesellschaft nichts ändern. Daß Rußland im Jahre 1917 auch einen anderen als den revolutionären Weg hätte gehen können, wird heute auch in der Sowjetunion zugegeben. Pawel Wolobujew, Historiker und korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, rückt - von der FURCHE darauf angesprochen — das Bild von einem „vorprogrammierten sozialistischen Entwicklungsweg für das Land“ zurecht. Heute werde in der Sowjetunion die Revolution erstmalig „durch das Prisma der Alternative betrachtet, vor der Rußland 1917 stand: auf welchem Entwicklungsweg — dem sozialistischen oder kapitalistischen — weiter vorangeschritten werden soll“.

Eine der Ursachen dafür, daß Rußland nicht den „bürgerlichdemokratischen Weg“ beschritt, liegt nach Ansicht Wolobujews „in dem verwickelten Knoten von Problemen, mit denen das Land zu jener Zeit konfrontiert war: Austritt aus dem Krieg, wirtschaftliche Zerrüttung, ungelöste Bodenfrage, Probleme der Nationalitätenpolitik“. Diese Probleme konnten nach Meinung Wolobujews „nur durch revolutionäre und nicht durch reformistische Methoden gelöst werden“.

Eine Antwort auf die Frage, ob die genannten Schwierigkeiten durch die Oktoberrevolution nicht noch verstärkt wurden, gibt der Historiker nicht. Er betont jedoch, daß die russische Intelligenz — obwohl ein großer Teil von ihr revolutionär eingestellt gewesen sei und jahrzehntelang gegen den zaristischen Absolutismus gekämpft habe - „trotz ihres demokratischen Charakters auf den Oktober nicht vorbereitet“ gewesen sei. Ein zarter Hinweis darauf, daß in dieses Vakuum eine zentra-listisch organisierte Partei von Berufsrevolutionären vorstieß, die Ziele vorgab und damit den Keim zu neuer Selbstherrlichkeit legte?

Von einer „Revolutionskritik“ ist man in der Sowjetunion — trotz der neuen Vorgaben, „auf Verschweigen und Entstellungen des gesamten Prozesses verzichten“ zu wollen (so Wolobujew) — noch weit entfernt.

Der Rückgriff auf Lenin, der — wie Wolobujew ausdrücklich hervorhebt - „den Kampf der Meinungen in der Partei für eine normale und natürliche Erscheinung hielt, mit Ausnahme jener Fälle, wo dieser Kampf die Grenzen der innerparteilichen Demokratie verließ und zur Fraktionsbildung führte“, wird im 70. Jahr der Oktoberrevolution und danach eine gewisse Sprengkraft nicht verfehlen; wenngleich vor Überschätzungen und Ubererwartungen, was die Reformkapazität betrifft, doch gewarnt werden muß.

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