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Vorhut des Weltaufstands

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Im Juli 1914, nach vier Friedensjahrzehnten, zerbrach Europa. Alle geistigen und moralischen Instanzen des Kontinents, mit wenigen Ausnahmen, versagten: die politischen und wirtschaftlichen Eliten, die Träger der Kultur, die Kirchen und nicht zuletzt die sozialistische Bewegung, die nur zwei Jahre zuvor gelobt hatte, der Kriegsgefahr die internationale Solidarität entgegenzusetzen. Im Grunde genommen hat sich Europa von den Folgen dieser Selbstaufgabe bis heute noch nicht erholt.

Als die russische Revolution am 7. November 1917 mit dem Aufruf „an alle“, Frieden zu schließen, begann, waren Lenin und seine Mitkämpfer von einem europäischen Konzept beseelt. In einem Abschiedsartikel an die Schweizer Arbeiterschaft schrieb Lenin am 8. April 1917: „Dem russischen Proletariat ist die große Ehre zuteil geworden, die Reihe von Revolutionen, die der imperialistische Krieg mit objektiver Unvermeidlichkeit erzeugt, zu beginnen ... Das russische Proletariat kann die sozialistische Revolution nicht allein mit seinen eigenen Kräften siegreich beenden ... Es kann seinem wichtigsten, seinem treuesten, seinem zuverlässigsten Bundesgenossen, dem europäischen und dem amerikanischen Proletariat die Bedingungen erleichtern, unter denen dieses seine entscheidenden Kämpfe aufnimmt...

Aber die russischen Revolutionäre, die sich als europäische Vorhut fühlten, blieben allein. Ihre Isolierung war eine doppelte: von den sich bedroht fühlenden Siegermächten organisiert und gestützt, schnitt der „Cordon sani-taire“ die Sowjetgebiete vom übrigen Europa ab, und die Orientierung auf die Errichtung des Sozialismus „in einem Land“, die Reaktion auf die ausbleibende „Weltrevolution“, bedeutete die Russi-fizierung einer sozialen Umwälzung, die zunächst als europäisches Ereignis gedacht war.

Ein Jahrzehnt nach Beginn der Revolution, Lenin war bereits einige Jahre tot und Stalin drückte der Entwicklung den Stempel auf, hatte sich ihr Charakter verändert. Die Lenin'sche Garde, die internationalistisch dachte, wurde schrittweise ausgeschaltet und schließlich liquidiert (siehe Seite 12), der Internationalismus wich immer mehr einer russischen Großmachtpolitik.

Der Sowjetstaat, der ein Auftakt zu einer Einigung des im Ersten Weltkrieg blutig zerrissenen Europa auf einer neuen Grundlage sein sollte, fügte der Spaltung des Kontinents einen zusätzlichen Faktor hinzu. Statt einer Annäherung an den fortgeschrittenen Teil Europas entfernte sich Stalins Sowjetunion immer mehr von diesem.

Die Sowjetunion bezahlte ihre Loslösung von Europa zunächst mit den verhängnisvollen und vielfältigen Erscheinungen des Stalinismus, mit den besonders schweren Opfern und Folgeerscheinungen des Zweiten Weltkriegs und schließlich mit einem Zurückbleiben auf dem nach marxistischer Sicht entscheidenden Gebiet des gesellschaftlichen Wettbewerbs, der materiellen Produktion. Sie bezahlte in den letzten Jahrzehnten mit zunehmender Stagnation und Korruption und dem Verlust der ideologischen Motivation.

Anläßlich des 70. Jahrestages der Revolution erhebt sich die Frage, ob eine sozialistische Gesellschaft entstanden ist, die neben den materiellen Bedürfnissen ja auch die humanitären und geistig-moralischen befriedigen muß. Die von Michail Gorbatschow geforderte neue „Revolution“ weist ebenso wie die Widerstände gegen die Reformversuche auf eine Problematik hin, die heute in der Sowjetunion selbst nicht mehr ganz zugedeckt werden kann.

Eine der Folgen der Gorba-tschowschen Bemühungen, die Verhältnisse und deren Ursachen zu verändern, wäre die Herstellung engerer Beziehungen der Sowjetunion mit Westeuropa. Die russische Revolution am Beginn dieses Jahrhunderts erreichte keine europäische Dimension. Diese könnte am Ende dieses Jahrhunderts erreicht werden -allerdings unter ganz anderen Voraussetzungen und Begleiterscheinungen als sie Lenin konzipiert hatte.

Der Autor trat 1935 der illegalen KPO bei, wurde 1937 von der Wiener Universität reli-giert, nahm am Spanischen Bürgerkrieg teil und war anschließend in Frankreich und England interniert. Nach dem Krieg Mitglied des ZK der KPO, wurde er als Folge der Auseinandersetzungen nach der Unterdrückung des Prager Frühlings aus der KPO ausgeschlossen. Derzeit ist er leitender Redakteur des „Wiener Tagebuch“.

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