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China und der Trotzkismus

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„ ... und liebten ihre Empörung mehr als die Menschheit“ (Roger Martin du Gard in „Sommer 1914“).

I.

Der Marxismus als Idee (Uberbau) ist in einem betonten Selbstverständnis Reflex sozialer und historischer Bedingungen (des Unterbaues), die eigentlich weithin unter dem Aspekt urchristlicher Postulate betrachtet, wenn auch aus der Schauweise der Aufklärung beurteilt werden. Einem Marxismus, der ohne das „Klassifikationsschema“ des Dekalogs zu bestehen vermag, fehlt das Urmaß für die Ortung der Dinge, der christliche Nährboden, das Bild einer richtigen gesellschaftlichen Ordnung, an dem man die Un-Ordnung der gegebenen Bedingungen in der Gesellschaft zu erkennen vermag. Das gilt etwa für China, dessen Konflikt mit Moskau vermutlich auch darauf zurückzuführen ist, daß beide Kommunismen von durchaus verschiedenen Denkansätzen und historischen Erfahrungen ausgehen müssen.

Weil die Ideen des Marxismus stets Reflex von Sachverhalten sind, gehört die dauernde Anpassung der Ideen an einen sich permanent verändernden „Unterbau“, an die jeweiligen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedingungen, zum Wesen des Marxismus. Orthodoxie im Sinn einer Fixierung auf einen historischen und regional begrenzten Unterbau (etwa auf die Klassengesellschaft des 19. Jahrhunderts), dessen einmalige Bedingungen man nun in jeder Periode der gesellschaftlichen Entwicklung und jeder Region zumutet, ist unmarxistisch. Die Ideen sind gegenüber dem „Unterbau“ nicht autonom; dieser allein ist Wirklichkeit. Die Ideen sind lediglich Derivate, erstmals entstanden in der Periode der Schaffung einer marxistischen Gesellschaftsordnung, Sublimationen einer gestörten Ordnung.

Nun gibt es jedoch in der Praxis des Marxismus zwei Richtungen, welche die Relation von Unterbau und Uberbau durchaus verschieden interpretieren:

1. Eine Richtung versucht die Majorität der Straße in eine Majorität in der gesetzgebenden Körperschaft zu übersetzen und „innerhalb der Formen der Demokratie“ (M. Adler) einen ohnedies liquidationsreifen Kapitalismus durch ein neues System gesellschaftlicher Ordnung, durch ein marxistisches Endreich abzulösen. Da der Unterbau ohnedies im Sinn der Vorstellungen des nunmehr herrschenden Marxismus manipuliert (vorerst: repariert) werden kann, stabilisiert sich dieser; er wird evolutionär bis konservativ. Die Programmierung der gesellschaftlichen Entwicklung, die wieder in Ideen reflektiert wird, kann einen Unterbau konstituieren, der den marxistischen Grundvorstellung angemessen ist. Unterbau und Überbau decken sich fast synchron.

2. Eine andere Richtung im Marxismus, über den uns V. Dedijer in der „Zukunft“ (2/1964) neuerlich einen Bericht liefert, geht vom Prinzip einer Revolution in Permanenz aus. Von den Gedanken eines utopischen Egalitarismus besessen, wird die Revolution nicht als Mittel erkannt, sondern ist Mittel und Zweck. Sollte es zur Machtergreifung kommen, wird die Revolution von oben her fortgesetzt, nunmehr mit Einsatz des Instrumentarismus der staatlichen Exekutive. Da aber jetzt das konventionelle Objekt der Revolution, der Klassengegner, fehlt, kann sich der revolutionäre Elan schließlich nur in einem Aufstand gegen das Nichts aktivieren, der zur Produktion von Gegnern im eigenen Lager führen muß. Die Revolution entäußert sich der im Ursprung vorhanden gewesenen sozialreformato-rischen Antriebskräfte; es entsteht ein lediglich proklamatorischer Sozialismus in unmittelbarer Anwendung der Prinzipien des Hegel-schen Denkprozesses (Hegel denkt nur in Revolutionen, in der Negation von Negation). Die Revolution wird inhuman.

II.

Die Ideen einer inhumanen Revolution ohne Ende finden ihre drastische Ausformung im Trotzkismus. Dieser aber ist undeklariert Anti-Marxismus, zumindest NichtMarxismus. Das Bemühen, den Trotzkismus zu vernichten, ist vom Standpunkt des Marxismus-Leninismus aus durchaus legitim. In seinem perfekten Zynismus vermag der Trotzkismus der Arbeiterschaft, welche die historische letzte Klasse sein soll, keine Hoffnung auf Stabilität, auf Wohlfahrt und Freiheit zu bieten, wohl aber die Chance eines steten und Pflichtigen Engagements in einer Revolution, die ihren Zweck in sich trägt. Im Ablauf der Revolution steht schließlich jeder gegen jeden, Arbeiter gegen Arbeiter. Der Trotzkismus, weil utopisch, ist daher kaum mehr als eine Gelegenheitsgesellschaft von Anarchisten, die im Sinn der Philosophie des Zeno (342—270 vor Christi) mit dem Vokabular und den Instrumenten eines Kollektivismus jede gesellschaftliche Stabilität ablehnen und sich je Individuum absolut setzen wollen. Auf diese Weise soll ohne Nahziel, jenseits von heute und morgen, durch kalte Asketen, Sozialpuritaner, die nicht einmal die Kraft haben, sich selbst zu lieben, ein Reich der Reinen konstituiert werden, ein Endreich der Gleichen ohne jede regionale Begrenzung, ohne Institutionen, ohne legitime Herrschaft.

Seiner anarchischen Grundposition wegen hat sich der Trotzkismus daher nie organisatorisch zu stabilisieren vermocht; er lebt von ständigen Abspaltungen und vermehrt sich, wie einmal in einem anderen Zusammenhang bemerkt wurde, durch Zellteilung, vor allem aber davon, daß ihn Moskau aus taktischen Gründen ernst nehmen muß. Die Vierte Internationale (Paris) hat daher nur den Charakter eines Korrespondenzbüros. Die politische Macht des Trotzkismus ist, wenn man von Ceylon absieht, in keinem Land beachtenswert, er ist keine politische Wirklichkeit, nur eine Potenz, die lediglich konspirativ präsent sein kann.

III.

Nun scheint es, als ob der Trotzkismus, soweit er Revolution in Permanenz, wenn auch nicht Anarchismus sein will, in China und in Kuba Positionen für seine Ideen gefunden hat. Das 22. Gremium des Exekutivkomitees der IV. Internationale hat jedenfalls angeregt, eine Kooperation mit den chinesischen Kommunisten einzugehen. Die scheinbare faktische Annäherung der Praxis des chinesischen Kommunismus an die Theorie des utopischen Trotzkismus vertieft die Auseinandersetzung im Kommunismus, der nur im Widerstand, in der Opposition, ein Uniformes zu sein schien, nicht aber in der Periode der Etablierung.

Moskau hat die Klassiker der Lehre auf seiner Seite. Marx und Engels wenden sich gegen die „Anti-autoritäten“, Lenin (Ausgewählte Werke, Band II, Moskau 1947) spricht von einer friedlichen Entwicklung der Revolution (S. 146) und erhebt Einwände gegenüber den Anarchisten (S. 204). In seinem Kampf gegen den linken Kommunismus weist Lenin auf die Notwendigkeit einer Bedachtnahme auf die „konkreten Besonderheiten“ hin (S. 735), er ist nicht für den „nur einen“ Weg, ohne Rücksicht auf die notwendige Taktik. Schließlich aber war es Marx selbst, der in seinen späteren Lebensjahren, durch Erfahrungen nüchtern geworden, ein Gegner der „Konspirations- und Revolutionsspielerei“ geworden war.

Sosehr auch der Trotzkismus bemüht ist, im chinesischen Kommunismus und im nationalkommunistischen Fidelismus Partner zu finden, fehlt jeder Ansatz für eine Kooperation. Sowohl China als auch Kuba sind keineswegs auf utopische Sozialmodelle hin festgelegt und wissen ihre Ideen wohl mit den erkennbaren Bedingungen abzuschätzen. Weder im chinesischen noch im chauvinistischen Kommunismus des Fidel Castro ist Platz für einen anarchischen Syndikalismus in der Schauweise der Vierten Internationale.

Offenkundig müssen wir daher nach der Art, wie jeweils das Prinzip der Revolution interpretiert wird, von einer Dreiteilung des Kommunismus ausgehen und

• mit einem Kommunismus rechnen, für den Revolution nur ein Mittel im Interesse der Machtergreifung ist (Moskau), nach welcher die weitere Entwicklung evolutionär ablaufen soll;

• mit einem Kommunismus, der die Revolution auch nach der Machtergreifung von oben, autoritär, mit den Methoden eines terroristischen Etatismus in Richtung auf erkennbare Ziele und aus Zeitnot fortsetzt, und

• mit dem organisatorisch kaum faßbaren, utopisch-theoretischen, anti-staatlichen Trotzkismus, dem Revolution nur eine Denkkategorie, aber mangels Macht keine Wirklichkeit ist, weshalb er vor allem von Intellektuellen bevorzugt wird (Trotzkismus). A. J. Toynbee („Kultur am Scheideweg“, Berlin 1958, S. 132) ist der Ansicht, daß der Streit zwischen Trotzki und Stalin damit zusammenhing, daß Trotzki die Sowjetunion zum Werkzeug der kommunistischen Weltrevolution machen wollte, während Stalin den Kommunismus dem Interesse der UdSSR dienstbar zu machen suchte.

An die Stelle des Kommunismus sind eindeutig die Kommunismen getreten.

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