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Marxismus macht Menschen zum Staatseigentum

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Leszek Kolakowski, seit 1970 Professor am All Souls College in Oxford und 1977 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet, wurde am 23. Oktober 1927 in Radom (Polen) geboren. Er studierte Philosophie und wurde 1953 Dozent an der Universität Warschau. Trotz öffentlicher Kritik an ihm wegen Revisionsideen erhielt er Akademiestipendien für westliche Universitäten (in Holland und Frankreich). 1966 wurde er auf Grund kritischer Äußerungen zur Beschränkung der Meinungsfreiheit aus der Partei ausgeschlossen, zwei Jahre später verlor er seinen Lehrstuhl. Danach lehrte er am McGill College in Montreal und in Ber-kely in Kalifornien. Kürzlich ist der zweite Band'se&he<p*Ffä-logie „Hauptströmuiigendes Marxismus“ (siehe Rü€fik „Politische Bücher“) erschienen. Das Gespräch mit Professor 0* Kolakowski führte Burkhard Bischof in Oxford.

FURCHE: Sie waren einst Revisionist und wurden deswegen in Polen öffentlich kritisiert. Heute sagen Sie, das kommunistische Ideal sei tot. Wurde dieses kommunistische Ideal durch seine eigene Inkonsequenz umgebracht?

KOLAKOWSKI: Nein, ich würde nicht sagen, daß sich der Kommunismus als inkonsequent herausgestellt hat. Meistens wirkt dieses System nach seinen Grundsätzen. Nur die gelegentlich erzwungenen „Lok-kerungen“ des Totalitarismus erweisen eine Inkonsequenz. Nach jahrzehntelanger Erfahrung mit diesem System und nach so vielen Versuchen der Reform, die sich in wesentlichsten Punkten als erfolglos erwiesen hatten, ist es einfach schwer, daß Leute noch daran glauben. Aber als inkonsequent würde ich dieses System nicht anklagen.

FURCHE: Was sagen Sie zu Bewegungen, wie sie der „Prager Frühling“ 1968 oder die „Charta 77“ darstellten. Waren oder sind das ernsthafte Versuche eines Revisionismus

oder haben sie lediglich eine revisionistische Fassade?

KOLAKOWSKI: Ich bin sicher, daß die Leute, die 1967/68 in der Tschechoslowakei eine Reform des Kommunismus vorgeschlagen haben, daß diese Leute so wie wir in Polen in den Jahren 1955 bis 1957 in ihren Intentionen glaubten, den Kommunismus reformieren zu können, ohne ihn zu vernichten. Sie glaubten daran, daß man dieses System verbessern, intellektuelle und moralische Standards in den Kommunismus wieder einführen und demokratische Institutionen wiederherstellen könne, ohne die Grundsätze des Kommunismus anzutasten.

Es war weder in Polen in den fünfziger Jahren noch in der Tschechoslowakei in den sechziger Jahren sicher, was wirklich zu den Grundsätzen und was zu den Akzidenzien gehörte. Ich glaube nicht, daß man von einem Gegensatz zwischen der Fassade und den wirklichen Absichten sprechen kann. Aber es hat sich ziemlich rasch herausgestellt, daß der Kommunismus in dem Sinne unre-formierbar ist, daß sich dann, wenn man seine ausgesprochenen Grundsätze annimmt, die Ideen der revisionistischen Bewegung als inkonsequent erweisen. Wenn der Kommunismus, das heißt Leninismus, sich an ein monoparteiisches Machtsystem anschließt, hat es keinen Sinn, von demokratischem Kommunismus überhaupt zu reden.

Damit will ich aber nicht sagen, daß diese Bewegung keine Rolle spielte. Umgekehrt: Ich glaube, daß sie wichtig war: weil sie so mächtig zur völligen Desintegration der offiziellen Ideologie beigetragen hat.

FURCHE: Anderseits hat sich nach den Revisionsversuchen in Polen 195b, in Ungarn 1956 und in der Tschechoslowakei 1968 in der Bevölkerung dieser Länder eine politische

Lethargie breitgemacht. Ist das die negative Seite dieser Versuche?

KOLAKOWSKI: Die Lethargie, die Sie erwähnen, ist nicht ein Resultat dieser kritischen Bewegungen, sondern umgekehrt, der ausgeübten Op-pression. Ich glaube, die sowjetischen Behörden hatten recht, als sie in die Tschechoslowakei einmarschierten: vom Standpunkt ihrer imperialen Interessen aus gesehen! Ich glaube, wenn der „Prager Frühling“ die Möglichkeit gehabt hätte, sich durch die innere Logik weiterzuentwickeln, hätte er wahrscheinlich zur Wiederherstellung der Demokratie in der Tschechoslowakei geführt; konsequenterweise auch zur Zerstörung des monoparteiischen Systems. Also in diesem Sinne haben Sie recht: Die Lethargie war das Resultat der Invasion und der Oppression. Sonst aber scheint es, daß wir in allen diesen Ländern wiederkehrende Wellen der Apathie und der Hoffnungen erwarten können. In der Tschechoslowakei mußte nach der Invasion von 1968 natürlicherweise eine Periode der Hoffnungslosigkeit kommen. Aber

jetzt sehen wir in allen osteuropäischen Ländern - sogar in der DDR -eine Erneuerung der oppositionellen Bewegungen und damit auch der Hoffnungen.

FURCHE: Wenn also revisionistische Bewegungen in den kommunistischen Ländern bisher keine entscheidenden Veränderungen des Systems herbeiführen konnten, glauben Sie, daß möglicherweise revisionistische Bewegungen von außerhalb - vielleicht der Eurokommunismus - Veränderungen auch in Osteuropa herbeiführen könnten?

KOLAKOWSKI: Gewiß nicht im radikalen Sinne! Allgemein kann man sagen, daß, je mehr Verschiedenheiten des Kommunismus es außerhalb des sowjetischen Machtbereiches gibt, desto mehr Platz für Verschiedenheiten innerhalb der sowjetischen Sphäre möglich ist. Und umgekehrt: Also daß diese beiden Phänomene sich gegenseitig verstärken. In diesem Sinne ist es möglich, daß der Eurokommunismus eine gewisse positive Rolle für die Entwicklung der osteuropäischen Länder spielen kann. An weitgehende Resultate würde ich aber nicht glauben. Sonst aber muß es im Interesse der antitotalitären Bewegungen liegen, daß die Verschiedenheit sowohl innerhalb als auch außerhalb der sowjetischen Machtsphäre im Kommunismus so groß wie nur möglich ist.

FURCHE: Um zu theoretischeren Aspekten zurückzukommen: Marx glaubte an die Tradition von Hobbes, Spinoza und Hegel. Diese Tradition muß das vereinen, was Isaiah Berlin als „negative Freiheit“ bezeichnet. Ist nicht die Unterdrückung dieser negativen Freiheit dem Marxismus inhärent?

KOLAKOWSKI: Ich würde nicht unbedingt Ihre Ansicht teilen, daß

Marx in dieser besonderen Frage Hobbes oder Spinoza wiederholte -nein, er hat eine etwas andere Auffassung.

Wenn Sie fragen, ob die Verneinung der sogenannten negativen Freiheit dem Marxismus inhärent ist: Ich glaube ja im folgenden Sinne: Negative Freiheit, das ist Freiheit tout court, es gibt keine andere. Negative Freiheit ist einfach der Bereich der Entscheidungen, die die soziale Organisation dem einzelnen zur Verfügung stellt und die nicht durch Staat oder Gesetz reguliert wird. Der Staat unterstützt Freiheit nicht dadurch, daß er etwas tut, sondern umgekehrt, dadurch, daß er sich von Interventionen enthält. Marx glaubte ganz richtig daran, daß die politische Freiheit, wie sie in den liberalen Theorien des 17. und 18. Jahrhunderts entwickelt worden war und, dann in der amerikanischen und Französischen Revolution formuliert wurde, daß diese Freiheit im Begriff selbst die Konflikte der menschlichen Interessen voraussetzt.

Das war richtig. Diese Freiheit setzt

voraus, das menschliche Interessen zusammenstoßen. Marx schien geglaubt zu haben, daß in der kommunistischen Gesellschaft die Frage dieser Freiheit belanglos, irrelevant sein wird, weü alle Leute sich spontan mit der Gesellschaft identifizieren würden. Er setzte voraus, daß es möglich ist, eine konfliktlose Gesellschaft zu schaffen.

Das war, glaube ich, eine gefährliche Illusion, weil sie voraussetzt, daß man eine Einheit der Gesellschaft mit institutionalen Mitteln sichern kann*. Und die einzige Einheit, die man institutionell gewährleisten kann, ist der Despotismus.

FURCHE: Betrachten Sie den Leninismus und Stalinismus als legitime Auslegung des Marxismus?

KOLAKOWSKI: Ich würde ,ja“ sagen. Leninismus war nicht die einzig mögliche, aber eine gut unterbaute Auslegung des Marxismus. Nicht in dem Sinne, daß sich Marx die kommunistische Gesellschaft als Gulag vorgestellt hätte. Gewiß nicht! Aber neben den Intentionen der Theoretiker gibt es so etwas wie eine innere Logik der Entwicklung der Theorie, die von den Absichten der Ideologen unabhängig ist.

Es ist wahr, daß, wenn Marx den Ausdruck „Diktatur des Proletariats“ benutzte, er nicht genau erklärte, was er meinte.

Es war keine offenbare Entartung, das Wort Diktatur wörtlich zu nehmen, wie es Lenin machte und wie er es erklärte: eine Macht, die auf schiere Gewalt und nicht auf das Gesetz gestützt ist. Auch die ganze Verstaatlichung der Maschinerie der Produktion war gewiß im Marxismus eingeschlossen. Und die vollständige Verstaatlichung heißt Verstaatlichung der Menschen, also Menschen zum Staatseigentum zu machen, was die Grundlage des Totalitarismus ist.

FURCHE: Es ist wohlbekannt, daß die Kirche in einigen osteuropäischen Ländern, vor allem in Polen, eine mehr oder weniger starke Opposition darstellt. Glauben Sie, daß diese Rolle der Kirche in Zukunft noch stärker werden könnte, oder glauben Sie, daß sie schwächer ulird?

KOLAKOWSKI: Das kann ich nicht voraussehen. Gewiß ist die Kirche in Polen die einzige lebendige Autorität in der Gesellschaft, die wirkliche, die moralische Autorität. Die Partei hat ihre Autorität verloren, sie wird nicht geglaubt, sogar wenn sie zufällig die Wahrheit sagen sollte.

FURCHE: Glauben Sie, daß die christliche Philosophie wieder eine mögliche Alternative zum Liberalismus und Marxismus entwickeln könnte? Und wie sollte eine solche Alternative dann aussehen?

KOLAKOWSKI: Das ist eine zu schwere Frage. Erstens gibt es keine christliche Philosophie schlechthin, es gibt eine Menge von christlichen philosophischen Richtungen. Innerhalb des christlichen Denkens gibt es

und gab es eine Menge von verschiedenen Einstellungen und unvereinbaren philosophischen Ideen.

Ich glaube nicht, daß es so etwas wie eine spezifisch christliche Ordnung, so etwas wie einen spezifisch christlichen Staat gibt. Dazu ist das Christentum nicht berufen. Es ist nicht dazu da, Rezepte für die politir sehe Ordnung zu schaffen. Seine Sache ist moralische Erziehung und nicht politische Programme. In dem Sinne scheint es mir unwahrscheinlich, daß das Christentum als solches eine politische Alternative für Kommunismus und Liberalismus schaffen könnte. Die Absicht, aus &#9632;dem Christentum eine vollständige politische Theorie oder politische Alternativen herauszuleiten, scheint mir sogar gefährlich und mit der ursprünglichen Botschaft des Christentums unvereinbar.

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