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Uber Marx hinaus

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Der Friedenspreis des deutschen Buchhandels wurde am 16. Oktober in Frankfurt dem polnischen, im Exil lebenden Philosophen Leszek Kolakowski verliehen.

Nicht erst die „neuen Philosophen” in Paris, die vor kurzem mit ihrem spektakulären Abschied vom Marxismus auf sich aufmerksam machten, haben das Thema einer Überwindung des Marxismus gestellt. Mit Aufmerksamkeit kann rechnen, wer über den Marxismus hinausgeht, ohne Antimarxist gewesen zu sein. Leszek Kolakowski hat seit den vielen Jahren, in denen sein Werk im deutschen Sprachraum bekannt ist, die Frage nach Sinn und Wert gestellt - eine Frage, die nur auf dem Hintergrund der Allgegenwart des marxistischen Denkens und der mit ihr verbundenen Überschattung der Sinnfrage verständlich ist.

Wer die Sinnfrage stellt, muß notgedrungen über die durch den Marxismus bestimmte kulturelle Atmosphäre der Gegenwart hinausgehen, weil er aufdeckt, daß die mit dem Marxismus gemeinhin verbunden geglaubte Tendenz auf politische Verwirklichung von mehr Gerechtigkeit” nicht viel mit den Gesellschaftsanalysen von Marx und schon gar nichts mit der politischen Praxis in Gesellschaftssystemen, die sich auf Marx berufen, zu tun hat.

Nun ist diese Einsicht keineswegs neu. Sonst wäre nicht verständlich, wieso - zumal im Austromarxismus - immer wieder das Problem einer Verbindung der marxistischen Gesellschaftsanalyse und des ethischen Sozialismus zur Diskussion gestanden hätte. Offensichtlich sollte damit versucht werden, auf der Ebene der dem Bewußtseinsstand vermeintlich entsprechenden Vergesellschaftung des Eigentums an Produktionsmitteln jene Kontinuität der europäischen, letztlich mit dem Christentum verbundenen Werthaltung aufrechtzuerhalten, die den gegenwärtigen Stand des Bewußtseins erst ermöglichte. Man war sich also dessen bewußt, daß mit der marxistischen Analyse der technologischen Gesellschaftsorganisation noch keineswegs der „neue Mensch”, der mit dieser neuen Organisationsform leben kann, geschaffen sei.

Eben dieses Bedürfnis nach einer Grundhaltung, die die technologische Lebenswelt zur Kenntnis, aber nicht zum Maß nimmt, sucht seinen Ausdruck. Das Problem läßt sich zwar einfach formulieren, ist aber äußerst komplex. Die technologische Lebenswelt hat zu einer Krise der Grundhaltung der Menschen geführt, die ziemlich beispiellos ist. Daß die Mittel zur Erreichung von Zwecken eine eigene Sachgesetzlichkeit schaffen, die insinuiert, daß die Zwecke sich schließlich zumindest verändern, wenn sie überhaupt wieder erkannt werden können, ist neu. Die eigene Sachgesetzlichkeit der Mittel ist dem jeweiligen Spezialisten zugänglich. Da aber die Mittel mit den Zwecksetzungen sich weit verzweigt haben, sind die meisten derer, die bestimmte Mittel zu bestimmten Zwecken einsetzen, Nichtspezialisten, Personen, die die Sprache der Mittel nicht kennen. Und so ist mit der Ethik, die sich allein an den guten Willen hält, nicht viel anzufangen.

Zwei gleichermaßen gefährliche Kurzschlüsse bestimmen zumeist die Haltung, die in dieser Situation eingenommen wird: Man glaubt, der Komplexität der modernen Lebenswelt dadurch ausweichen zu können, daß man ifyr ausweicht - in Drogen, hemmungslosen Konsum, Innerlichkeitskulte, weltferne Mystik. Oder man glaubt, daß eine Strukturanalyse der modernen Lebenswelt und entsprechende Organisation der Lebensbedingungen alle Probleme lösen helfe. My^ik oder Bürokratie scheinen die Alternativen des modernen Menschen zu sein.

Aufgabe der Philosophie war es schon immer, gegen vermeintliche Plausibilitäten Bedenken anzumelden. Einer, der solche Bedenken am klarsten angemeldet hat, ist Kolakowski. Die Bürokratisierung ist gewissermaßen das Netz, das den Menschen von dem Ausbruch aus dem Rä derwerk der modernen Liebenswelt abhalten soll. Erfolgreich ist dieser Versuch, weil er sich tarnt: In der Sprache der sozialen Gerechtigkeit wird die moderne Versklavung des Menschen betrieben. Nur so ist zu verstehen, daß selbst äußerst differenziert Denkende wie Merleau-Ponty einen Vergleich von Sozialismus und Faschismus unter dem Vorzeichen „totalitäre Ideologien” weit von sich wiesen. Denn, so argumentiert er, im sozialistischen System dient alles, auch das Verbrechen - so schlimm es sein möge - dem revolutionären Ziel:

Wer von den Phänomenen her denkt von den Leiden der jetzt Lebenden, wird die abstrakte Orientierung auf ein Ziel, das endlich als reines Sprachklischee existiert, weit von sich weisen. Es ist jedenfalls schwer, schreibt Kolakowski, „sich eine größere Entfernung vorzustellen als diejenige, welche jenes System (die Bürokratieform, in der der Staat das Monopol über die Produktionsunternehmen hat) von dem trennt, was die Ideengeschichte beständig Sozialismus nannte”. Aber keineswegs wäre der Ausbruch aus der modernen Welt in eine wie immer erreichte Innerlichkeit gerechtfertigt. Er überließe die Welt denen, die sie zum Ort des Leidens machen. Zum Schluß bliebe nur der Ausweg in den Selbstmord. Wir wissen nicht, wie viele diesen Ausweg schon jetzt nehmen.

Kolakowski sieht die Möglichkeit einer revolutionären Stimmung aus religiösen Motiven, dafür spreche das allgemein verbreitete Gefühl der Sinnlosigkeit. Der Wunsch nach einfachen Lebensformen, nach dem Rückzug aus der Komplexität der modernen Lebenswelt ist weit verbreitet, zumal in der nachwachsenden Generation aller Länder, vielleicht mit Ausnahme der Nachwuchseliten in Ländern der „Dritten Welt”. Die Autarkiebestrebungen von Randgruppen haben nach Kolakowski aber ihre Grenze an der faktischen Nachfrage nach Gütern, an der Bedürfnisstruktur unserer Gesellschaften. Wir kennen das Phänomen: Man fährt im Privatwagen zu Demonstrationen für Enteignung.

Auch wenn die Bedürfnislage nicht als Fixum anzusehen ist, ist es schwer vorstellbar, wie ihre grundlegende Revolutionierung im Sinne einer religiösen Emeuerungsbewegung ohne Gewaltanwendung vor sich gehen sollte. Kolakowski ist sicher darin recht zu geben, wenn er meint, daß Veränderungen, die sich auf die gesamte Lebensführung beziehen und in relativ kurzer Zeit vonstatten gehen sollen, der Gewaltanwendung bedürfen.

In dem Maße, in dem die bestehenden großen Religionen der Menschheit sich von ihren eigenen Gruppenegoismen lösen und - ohne ins Unbestimmte zu verschwimmen - ihre Bedeutsamkeit allen Menschen mitteilen können, wird es gelingen, die Menschheit von der Fixiertheit an ihr eigenes Ende zu erlösen. Welche Lehren sind es, die die großen Religionen den Menschen verkünden? Daß wir nie in einer vollkommenen, machbaren Welt leben werden, daß „die nicht enden wollende Spirale menschlicher Bedürfnisse … ein Symptom der verzweifelten Flucht des Menschen vor sich selber ist”. Nur die Religionen können „an den schmerzlosen Verzicht auf Überfülle zugunsten einer Hinwendung zu tieferliegenden Fragen unseres Daseins gewöhnen”.

Hier ist Kolakowski sicher weiter gegangen als die jungen Denker in Paris, die gestern noch das Heil von der Revolution erwarteten. Denn mit einem schlichten Verweis auf Ethik, wie er am Ende des Bestsellers von B.-H. Levy („La barbarie ä visage humain”) zu finden ist, werden alle Probleme, die sich bei der Revolutionierung des Bewußtseins stellten, neu aufgerührt, sie kommen an kein Ende, das zu leben ermöglicht.

Trotzdem ist dies keine Bestätigung des Institutionalismus der großen Religionen. Wir wissen, wie viel an Glaubwürdigkeit erst wieder erlangt werden muß, wenn in den Religionen das Andere, das über die Problemlage der modernen Lebenswelt hinausführen soll, ausdrücklich werden soll. Kolakowski ist durch Marxismus und Sozialismus hindurchgegangen. Er ist nicht ein Heimkehrer, der die bestätigt, die daheim blieben. Daher ist er ein verläßlicherer Weggenosse für viele.

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