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„Im Stil von Hexenjagden...

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Das Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, Andrej D. Sacharow, verfaßte noch vor dem Einmarsch der sowjetischen Truppen in der CSSR das Manifest „Wie ich mir die Zukunft vorstelle — Gedanken über Fortschritt, friedliche Koexistenz und geistige Freiheit“. Das Manifest wurde in der Sowjetunion verboten und gelangte auf Umwegen in die USA. Nunmehr liegt eine deutsche Ubersetzung des russischen Originals vor*. Der Schweizer Max Frisch verfaßte zu Sacharows verbotenem Manifest ein Nachwort.

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Das Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, Andrej D. Sacharow, verfaßte noch vor dem Einmarsch der sowjetischen Truppen in der CSSR das Manifest „Wie ich mir die Zukunft vorstelle — Gedanken über Fortschritt, friedliche Koexistenz und geistige Freiheit“. Das Manifest wurde in der Sowjetunion verboten und gelangte auf Umwegen in die USA. Nunmehr liegt eine deutsche Ubersetzung des russischen Originals vor*. Der Schweizer Max Frisch verfaßte zu Sacharows verbotenem Manifest ein Nachwort.

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Ein führender Wissenschaftler der UdSSR, Physiker, habe an die Staatsführung ein umfängliches Memorandum geschrieben, Gedanken über Fortschritt und geistige Freiheit als Voraussetzung des Fortschritts — so ungefähr hörte man es in diesem Sommer (1968) in Moskau. Ein Gerücht. Offenbar hatte der Verfasser, damit seine Mahnung nicht in behördlichem Schweigen untergehe, diese nicht nur an die Staatsführung geschickt, sondern Vervielfältigungen davon herstellen lassen und weit-herum verteilt, hauptsächlich an Intellektuelle. Ob Vervielfältigung durch Druck oder durch Photokopie, weiß ich nicht; jedenfalls ohne das Placet der Zensur, die eine reguläre Veröffentlichung nie zugelassen hätte. Da gegen Ende Juni davon zu hören war, muß die Verbreitung dieser Schrift, vom Verfasser auf Juni datiert, sehr rasch erfolgt sein. Bekanntgabe von Gedanken ohne behördliche Genehmigung der Bekanntgabe: also ein Apokryph. Wie es später in den Westen gelangt ist, ob mit oder ohne Wissen seines Verfassers, ist uns nicht bekannt.

Was wir vom Verfasser wissen:

Andrej Dmitriwitsch Sacharow, Jahrgang 1921, studierte während des Krieges an der Moskauer Universität und arbeitete nach 1945 an dem Lebedew-Institut für Physik. Er wurde Mitglied der Akademie der Wissenschaften, was die größte Auszeichnung für einen sowjetischen Wissenschaftler ist, schon mit 32 Jahren. Seine Forschung, so heißt es, führte zur Entwicklung der sowjetischen Wasserstoffbombe. Dreimal erhielt er den Titel eines Helden der Sozialistischen Arbeit, dazu den Lenin-Preis. Seit er an der Wasserstoffbombe arbeitete, sind keine Publikationen von A. D. Sacharow erschienen. Sein Name tauchte 1966 auf, als sechs Mitglieder der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften protestierten gegen die Einführung des Artikels 190 ins Strafgesetzbuch der UdSSR, ein Gesetz, „das der in unserer Verfassung proklamierten Bürgerfreiheit direkt entgegensteht“. Erst 1968 erschien wieder . ein wissenschaftlicher Aufsatz von A. D. Sacharow in einem Almanach unter dem Titel: „Symmetrie des Weltalls“; es wird angenommen, daß A. D. Sacharow jetzt auf dem Gebiet der Kosmophysik arbeitet. Daß in dem Sammelband „Die Zukunft der Wissenschaft“ jeder Verfasser mit einem Photo vorgestellt wird, ausgenommen A. D. Sacharow, ist bemerkenswert; offenbar Ist er Träger von Staatsgeheimnissen, seine Person daher strengstens gehütet.

Bedrohung der Welt durch atomaren Krieg und durch Hunger, darüber sagt die vorliegende Broschüre nichts Neues; auch die Konsequenz, die A. D. Sacharow daraus zieht, ist bekannt: die Notwendigkeit der friedlichen Koexistenz, was allerdings ein euphorischer Name ist für den tatsächlichen Zustand, der nicht mehr als ein Waffenstillstand Ist und nicht einmal das, nur Waffenstillstand zwischen den beiden Supermächten als solchen, was sie nicht hindert an militärischen Einmischungen tonerhalb ihrer Machtbereiche oder dort, wo es um Erweiterung das Super-Machtbereiches auf Kosten Dritter geht. Was einer Kooperation, die mehr wäre als eine Balance permanenter Drohung und die allein die globalen Probleme zu lösen vermag, entgegensteht, ist bekanntlich die Ideologie. Wieweit A. D. Sacharow in Ideologie verharrt ist, ist nicht leicht abzuschätzen. Manche in einer tapferen Broschüre wirkt wie ein ideologischer Kotau, vielleicht' nötig, um überhaupt weitersprechen zu können, und es fehlt nicht an dogmatischen Gemeinplätzen. Seine Sprache bleibt oft in der Tradition der Narodnifci. Fürchtet der Verfasser, daß von der Obrigkeit, die er ja in erster Linie anspricht, die Sprache der wissenschaftlichen Intelligenz, deren spektakuläre Ergebnisse sie zieren, nicht verstanden würde? Berufung auf Lenin wie auf einen Kirchenvater, kritikfrei, als wäre es undenkbar, daß ein halbes Jahrhundert wissenschaftlicher Forschung in irgendeinem Punkt über den klassischen Marxismus-Leninismus hinausführen könnte, scheint unumgänglich zu sein, um nicht in den Verdacht der Konterrevolution zu kommen. Dieser Verdacht wäre grotesk. Einiges mag für einen biederen Funktionär anstößig sein, allein ein beiläufig eingeschobener Ausdruck wie dieser: „die Legende von der proletarischen Unfehlbarkeit“. Andere sind für weniger schon in die Verbannung geschickt worden. Aber die Kritik, die hier mit hinreichenden Beispielen vorgebracht wird, ist keinesfalls subversiv; es bleibt systemimmanente Kritik. Die Hoffnung lautet auf Sozialismus. Als dessen Widersacher braucht nicht wieder und wieder angeprangert zu werden, was man nicht hat, nämlich der Kapitalismus im Westen; der Widersacher kn “eigenen Land ist der Stalinismus. Es geht -dem Verfasser aber, obsffiön““er unter Stalin herangewachsen ist, nicht um „Bewältigung der Vergangenheit“, sondern um die Zukunft, die andere Möglichkeit, die er in der Gegenwart noch Immer und immer wieder verhindert sieht:

„Eine umfassende Analyse der Entstehung des Stalinlsmus und seiner Äußerungen enthält die ausführliche, 1000 Seiten starke Monographie von P. Medwedew. Dieses vom sozialistisch-marxistischen Standpunkt aus geschriebene Werk ist leider bis heute nicht veröffentlicht worden.“

Zuversichtlicher heißt es:

„Unser Land hat jetzt mit der Aufgabe der Reinigung von dem Übel des Stalinismus begonnen. Wir (...) lernen es, unsere Meinung zu äußern, ohne der Obrigkeit auf den Mund zu sehen und ohne Angst um unser Leben.“

Der Leser wird nicht vergessen dürfen, daß der Verfasser, der dieses Memorandum herauszugeben wagte, in einer besonderen Lage ist; wollen die Sowjets auf den Mond, und zwar als erste, um den Stand ihrer Wissenschaft und ihr technisches Potential unter Beweis zu stellen, so ist ein Schriftsteller wie Solschemzyn, wenn er sich ebenso gegen die Zensur auflehnt, durchaus entbehrlich,nicht aber ein Kosmophysiker wie A. D. Sacharow. Hier spricht somit ein Privilegierter, allerdings einer, der sich daraus eine Pflicht macht, für andere zu sprechen, die es nicht wagen können, die Obrigkeit zu ermahnen:

„... wie inkompetente Zensur die lebendige Seele der sowjetischen Literatur im Keim erstickt. Das gleiche ist es mit allen anderen Gedankenäußerungen in der Öffentlichkeit, wodurch Stillstand, Fadheit, das Fehlen irgendwelcher neuer und tiefer Gedanken verursacht wird. Tiefgründige Gedanken werden nur in Diskussionen geboren, wenn Erwiderungen laut werden, bei der größtmöglichen Freiheit, nicht nur kontrolliert richtige, sondern auch zweifelhafte Ideen zu äußern. Das war schon den Philosophen des alten Griechenland klar, und heute gibt es wohl kaum jemanden, der dies bezweifelt. Aber nach 50 Jahren ungeteilter .Herrschaft über die Gedanken eines ganzen Landes scheint unsere Führung sogar die Andeutung einer solchen Diskussion zu fürchten. An dieser Steile sind wir gezwungen, die schändlichen Tendenzen der letzten Jahre zu erwähnen.“

Es ist schon viel, die Namen von Daniel und Stajawskij, von Ginsburg und Galanskow überhaupt zu erwähnen, Namen solcher, die in Arbeitslagern mindestens zur Vergessenheit verurtiili slhÄ, *oc8er* dJn Namen von A Solschenizyn, der in diesen Tagen (11. Dezember 1968) seinen fünfzigsten Geburtstag begeht in schwerer Bedrängnis; der Verfasser geht noch weiter: er nennt auch Neostalinisten, die für diese Praxis verantwortlich sind, offen beim Namen, beispielsweise den Leiter der Abteilung Wissenschaft im Zentralkomitee der KP.

„Die Leitung unseres Landes und unser Volk sollen wissen, daß die Einstellung dieses zweifellos klugen, verschlagenen und in seinen Ansichten und Prinzipien sehr konsequenten Mannes grundlegend stalinistisch ist (d. h. von unserem Gesichtspunkte aus die Interessen der bürokratischen Elite schützt) und daß sie sich fundamental von den Hoffnungen und Bestrebungen des größten und aktivsten Teils unserer Intelligenz unterscheidet, die nach unserer Meinung die wahren Interessen unseres ganzen Volkes und der fortschrittlichen Menschheit vertritt.“

Über seine Hoffnung sagt A. D. Sacharow:

„Heute liegt der Schlüssel zu einer fortschrittlichen Entwicklung des Begierungssystems zum Wohl der Menschheit in der Freiheit des Geistes. Das ist Insbesondere von den Tschechoslowaken verstanden worden, und wir müssen zweifellos ihre mutige und für das Schicksal des Sozialismus und der ganzen Menschheit wertvolle Initiative sowohl politisch als auch durch Verstärkung der wirtschaftlichen Hilfe unterstützen.“

Inzwischen ist die Antwort, die A. D. Sacharow auf sein Memorandum nicht erhalten hat, weltöffentlich erfolgt; sein Memorandum gestattet immerhin die Vermutung, daß die Antwort des Kreml an die Tschechoslowakei nicht im Einverständnis mit dem ganzen sowjetischen Volk erfolgt ist, zumindest nicht mit dem größten und aktivsten Teil der Intelligenz.

Im Grunde ist diese Schrift, fürchte ich, nicht umwälzender als die letzte Enzyklika des Papstes, obschon sie sich mit der Zukunft befaßt.

„Die Zukunft des Sozialismus hängt heute davon ab, ob es gelingen wird, ihn anziehend zu machen, ob sich die moralische Anziehungskraft der Idee des Sozialismus und der Arbeits-Intensivierung als Gegengewicht gegen das egoistische Prinzip des Privatbesitzes und der Kapltalver-größerung behaupten kann als ein entscheidender Faktor bei der ethischen Bewertung des Kapitalismus und des Sozialismus, ob die Menschen im Zusammenhang mit Sozialismus nicht in erster Linie an eine Beschränkung der geistigen Freiheit oder, schlimmer noch, an faschismusähnliche Kultregime denken werden.“

Die Argumentation ist moralisch

„Ich betone die moralische Seite, da sowohl in der Frage der Sicherstellung von größtmöglicher Arbeitsauswertung als auch in der Steigerung der Arbeitskapazität wie in der Sicherung des Lebensstandards des größten Bevölkerungsteiles der Kapitalismus und der Sozialismus sich gleich gegenüberstehen.“

Vieles in dieser Broschüre, vor allem, wenn es um die Einschätzung des kapitalistischen Westens geht, widerspricht der verordneten Unkenntnis; vielleicht ist die Behauptung, „daß es einen qualitativen Unterschied in der Struktur der Gesellschaft der beiden Länder nach dem Merkmal des Güterverkehrs nicht gibt“, schon ketzerisch, auch wenn der Verfasser die moralische Superiorität der einen Gesellschaft, der sowjetischen, nie in Frage stellt, im Gegenteil, gerade von diesem Anspruch her setzt der Verfasser an. Das ist pädagogisch. Die Feststellung, daß die beiden Länder sich angleichen, deckt sich mit der Hoffnung des Verfassers, der von der unausgesprochenen, aber alle Erwägungen bestimmenden Annahme ausgeht, daß es gegenüber der UdSSR—USA keine Alternative gebe.

Die Broschüre endet in einem futurologischen Versuch. China wird dabei nicht in Rechnung gesetzt, geschweige denn Westeuropa, aber auch nicht Afrika: nicht als Subjekt der Geschichte, nur als Objekt; die UdSSR und die USA zusammen werden die Welt retten. Man braucht nicht Maoist zu sein, um mindestens zu zweifeln, ob der Maoismus, im Gegensatz zum sowjetischen Humanismus, sich mit den Begriffen von Barbarismus und Nationalismus hinreichend definieren lasse.

Das ist d-ii der heutigen Sowjetunion allerdings die herrschende Meinung, der Sacharow sich anschließt, bestimmt durch sein Entsetzen über Grausamkeiten, aber ohne Analyse. Stichhaltiger als der futurologische Versuch (in einer Fußnote heißt,-es: 3er Verfasser sieht die Primitivität seines Versuchs einer Futurologie, die Bemühungen sehr vieler Fachleute voraussetzen würde, ein.“) erscheint die Kritik an der heutigen sowjetischen Praxis, die als Pseudo-Sozjalismus bezeichnet wird.

„Ist die Verfolgung im Stil von Hexenjagden Dutzender von Vertretern sowjetischer Intelligenz, die gegen die Willkür von Justiz- und psychiatrischen Organen aufgetreten waren, der Versuch, ehrliche Menschen zum Unterschreiben von erlogenen und heuchlerischen Widerrufen zu zwingen, die Entlassung aus Arbeitsstellungen mit Eintragung in die „Schwarze Liste“, die Beraubung junger Schriftsteller, Redakteure und anderer Intellektueller aller Existenzmittel nicht eine Schande? (...) Ist der letzte antisemitische Vorfall in d*n Personalpolitik nicht eine Schande? (...) Ist die fortgesetzte Beschneidung der Rechte der Krim-Tataren, die durch die stalinschen Verfolgungen etwa 46 Prozent ihres Volkes verloren haben, nicht eine Schande?“

Das hört der Kreml nicht gern.

Hören wir es gern?

Das wurde nicht gern gesagt.

Ein Akt staatsbürgerlichen Gewissens — so verstehe ich diese Broschüre — unter Bedingungen, wo es dazu eines außerordentlichen Mutes bedarf, ein Akt also, der als solcher unsere größte Hochachtung verdient. Man wird sich fragen, welche Wirkung er haben kann. Das ist von hier aus, auch wenn man über die heutige Praxis in der Sowjetunion das eine und andere weiß, schwer abzuschätzen.

Bedenken (sie treffen auch auf unsere eigenen Manifeste zu) können aber nicht vergessen lassen, was die Broschüre, auch so und gerade so, zu bedeuten hat. Sie ist ein Signal der Not. Denn daß es der sowjetischen Intelligenz heute nicht möglich ist, anders als in der verordneten Terminologie zu sprechen, die nicht ihrer fortschreitenden Erkenntnis entspricht, sondern lediglich zur Legitimation der etablierten Herrschaft dient, das gerade ist ja ihre Not.

Andrej D. Sacharow, Wie ich mir die Zukunft vorstelle, Diogenes Verlag AG, Zürich, 1968.

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