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Sowjetische Wissenschaft

19451960198020002020

Ideologie und Forschung in der sowjetischen Naturwissenschaft. Von Arnold Buchholz. 127 Seiten. Preis 2.90 DM. — Weltrevolution durch Weltgeschichte. Von Klaus Mehnert. 92 Seiten.

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Ideologie und Forschung in der sowjetischen Naturwissenschaft. Von Arnold Buchholz. 127 Seiten. Preis 2.90 DM. — Weltrevolution durch Weltgeschichte. Von Klaus Mehnert. 92 Seiten.

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Preis 2.90 DM. Beide Bände im Verlag der Deutschen Verlagsanstalt Stuttgart.

Der Wert dieser zwei Schriften ist sehr groß. Sie erstreben, in leicht faßlicher Form einen Ueberblick über die Verknüpfung der kommunistischen Doktrin mit der Theorie und der Praxis einer von vornherein zur Parteilichkeit verpflichteten Wissenschaft zu bieten. Der Ton der Darlegungen ist ruhig und sachlich, frei von gehässigen Verzerrungen, die auch der besten Sache nur zu schaden vermögen. So beschränkt sich Buchholz nicht etwa darauf, sowjetische Prioritätsansprüche bei wichtigen Erfindungen und Entdeckungen von vornherein mit Spott zu überhäufen. Er weist auf die Hemmungen hin, die dem Genius russischer Gelehrter durch das zaristische System entgegengestellt wurden — und die heute im gleichen Grade bestehen, wenn es sich um politisch mißliebige Forscher oder um den offiziellen Thesen widersprechende Experimente handelt. Er gesteht zil, daß die sprachlichen Schwierigkeiten und überhaupt die Abkapselung des europäischen Ostens den Ergebnissen der dortigen Wissenschaftler jenen Nachhall versagten, der angelsächsischen, deutschen, französisthen, holländischen, skandinavischen, der spanischiberischen und italienischen Bahnbrechern sicher war. Er nennt Namen wie Lomonosov, Lobacevskij, Sinin, A. S. Popov Mendeleev, Butlerov, Bogo- molec, die Lepešinskaja, Mičurin, Timirjazev, Lysenko, I. P. Pavlov, mit gebührender Achtung. Doch gerade diese Unbefangenheit, die es verschmäht, den Sowjetgelehrten in deren gegenüber westlichen Kollegen üblichen Jargon zu antworten, gestattet es Buchholz, von Persönlichem absehend, die Gleichschaltung, die Bevormundung, die Verknechtung der sowjetischen Naturwissenschaft ein- drucksam zu schildern. Er kann es sich ersparen, die Gelehrten der UdSSR, die von „bürgerlichen" Fachgenossen als von „Reaktionären", „Dunkelmännern", „Lakaien des Faschismus", „Kriegshetzern", „Atommördern", „Fideisten", „Idealisten" und höchstens von „Wissenschaftlern" unter Anführungszeichen sprechen müssen, als Ignoranten und Verbrecher abzutun. Doch wir wenden uns auch so mit Entsetzen von einer Atmosphäre ab, in der über die Richtigkeit einer Theorie durch Beschlüsse des Politbüros entschieden wird; wo hervorragende Forscher in demütiger Selbstkritik sich und ihre erarbeiteten Resultate öffentlich verleugnen; wo nicht etwa das Experiment, tausendfach wiederholt, den Lehrsatz zeitigt, sondern wo den vorgeprägten Lehrsatz die Experimente zu beweisen haben.

- Mathematik, Physik, Chemie, Astronomie, Biologie, Physiologie und Psychologie erscheinen der Reihe nach dem „Diamat", dem dialektischen Materialismus, verhaftet. Ein wertvolles, fast 400 Nummern umfassendes Literaturverzeichnis erhöht die Brauchbarkeit der Buchholzschen Schrift.

Während es sich bei ihr um die reife Leistung eines jungen Rußlandforschers handelt, ist Klaus Mehnert als Leiter der vorzüglichen Zeitschrift „Osteuropa" und als literarisch sehr tätiger Fachmann weithin bekannt. Sein hier zu besprechendes Werkchen ist die zweite Auflage eines 1950 erstmals erschienenen Textes. Sie gibt den Stand des Problems, wie er sich im Sommer 1953, nach Stalins Tod, zeigt. Wir verfolgen unter Mehnerts berufener Führung die Wandlungen der sowjetischen Geschichtsschreibung und Geschichtsdeutung von der, im Schatten der bolschewikischen Kampfjahre gezeugten Schule Pokrovskijs zur staatsbewußt-patriotischen Stalins, die sich sehr wohl mit den in die Sowjetära hinübergeretteten, einst bürgerlich-liberalen Historikern der letzten Zarenzeit, vom Schlage Taries, vertrug. Eine ähnliche Entwicklung wie im Bereich der Geschichtsforschung zeichnete sich in dem der Sprachwissenschaft ab, wo Marrs Verstiegenheiten, allerdings erst 15 Jahre später, durch das Eingreifen Stalins, erledigt wurden. Mehnert findet zwölf charakteristische Merkmale der Sowjetgeschichtsschreibung, wie sie am Vorabend von Stalins Tod amtlich geeicht die Universitäten und die historische Darstellung verpflichtete. Er schält als Grundthesen heraus: Die Völker sind ewig und ihrer jedes besitzt seine Eigenart; das russische Volk ist die hervorragendste, die führende Nation; es ist seit mindestens vier Jahrtausenden in seiner heutigen Heimat ansässig, und es stammt wesentlich von Skythen und Urslawen, während Normannen, Thraker und Chasareh bei seiner Volkwerdung keine nennenswerte Rolle gespielt haben; die russische Philosophie ist eigenständig; die russische Sprache ist kein Klasseninstrument, sondern ein die Epochen überdauerndes Ereignis des Volksganzen, das länger lebt denn Ueberbau oder Unterbau; der Staat — doch da stocken wir, Mehnert hat hier Schwankungen in Stalins Doktrin gesehen, ohne zu letzter Klarheit vorzudringen, schreiten wir also zu den ferneren Punkten. Den Slawen kommt eine besondere Vorzugsstellung zu, die Russen sind stets und überall Schrittmacher gewesen; sie haben in ihrer Geschichte das seltene Privileg, niemals die Sklaverei gekannt zu haben und von der Unfreiheit direkt zum Feudalismus und von diesem nach kurzem kapitalistischem Zwischenstadium zum Sozialismus vorgedrungen zu sein. Sie haben fer-

ner als Sauerteig im Byzantinischen Reich gewirkt, und Rußland war später Bannerträger des Fortschritts. Wer gegen dieses Land kämpfte, diente der Reaktion, einerlei ob es sich um früher von den russischen Revolutionären als Freiheitshelden gepriesene kaukasische Streiter gegen den Zarismus wie Samyl drehte oder um Barer Kon- föderierte, um Krimtartaren und innerasiatische Muselmanen. Denn — hier endet die Schlußkette — das Interesse der Sowjetunion, deren Kern das russische Volk bildet, deckt sich mit dem Interesse der Menschheit.

Mehnert gibt sich viel Mühe, dieses eben dargelegte, in sich geschlossene System als Widerspruch zum echten Marxismus darzutun, «1s eine Relativierung der „reinen Lehre" der Verfasser des Kommunistischen Manifests. Er hat damit recht. Die heutige Sowjetunion mit ihrem totalitären Staat, der nicht daran denkt, abzusterben, mit seinen Gardetruppen und Achselstücken, mit seinen Orden und Titeln, mit seiner’ neuen Klassengliederung, die schon wieder (was Mehnert nicht berührt) Tendenz zur Erblichkeit verrät, mit seiner hoch emporgehobenen Elite und mit der, kaum mehr getarnten Mitherrschaft der nur formal in den Parteiapparat eingeordneten Marschälle und Manager, hat mit dem, was sich Karl Marx von seiner sozialistischen Zukunftswelt vorstellte und mit dem, was sich Marxens Anhänger ursprünglich von ihr vorstellten, wenig gemeinsam. Doch nicht darum geht es. Eine Doktrin wird sich, gewinnt sie einmal in weitem Umfang praktische Geltung, stets , von sich selbst fortentwickeln. Es gibt keinen Stillstand; die Zeit schreitet über jede Zukunftsvision, über jede

Prophetie hinweg. Doch das hat Belang, daß sich die Sowjetgewaltigen nach wie vor auf Marx berufen, daß sie an seiner Lehre heruminterpretieren und daß die ihr gegensätzlichsten Ergebnisse als logische Folgerungen aus den marxistischen Grundthesen bezeichnet werden. Noch mehr, daß sie es in gewissem Umfang auch sind. Denn es kommt nicht auf Uniformen, Polizei, Geschichtslehrbücher oder Staatsorganisation an, sondern auf die im gesamten Sowjetbereich, für alle Kommunisten unabänderbaren und angewandten Hauptdogmen: den dialektischen Materialismus, also die Leugnung jeder Transzendenz, jeder nicht grob materiellen Wirklichkeit, jedes anderen Daseinsziels als die Befriedigung der Bedürfnisse in einer rein irdischen Existenz. Sodann, daraus quellend, der Klassenkampf, der faktisch zur Neugliederung der Gesellschaft unter dem Gesichtspunkt der Nützlichkeit für und des Einflusses auf die Partei führt, in der sich alle Macht vereint. Angesichts dieser Umstände soll man nicht, wie Mehnert es tut, die Widersprüche überschätzen, die sich dem objektiven Betrachter zwischen Einst und Jetzt des Marxismus, zwischen Theorie und Praxis des Kommunismus enthüllen. Lind man möge sich auch nicht wundern, wenn morgen oder in zehn, in zwanzig Jahren die sowjetische Geschichtsforschung nochmals das Gegenteil ihrer heutigen Thesen verfechten wird. Dafür, daß sogar aus der eventuellen Erkenntnis der Widersprüche keine störenden Folgerungen abgeleitet werden können, sorgen Parteiapparat und Polizei. Ideen und Führer mögen wechseln; doch das Regime, das System bleibt unerschüttert, solange es nicht von außen her überrannt wird. Diese Einsicht angeregt, wenn auch nicht sie ausgesprochen zu haben, ist eines der großen Verdienste der Arbeit Mehnerts, die weit mehr bedeutet, als ihr Titel andeutet und ihr Inhalt zunächst zu bescheren scheint.

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