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„Wie die Götter…"

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Die große Entscheidungsschlacht ist geschlagen. Der Wissenschaft ist es gelungen, der Natur die letzten Geheimnisse zu entreißen, die den Menschen bisher noch daran hinderten, sich zu ihrem Herren zu machen und ihr die Gesetze ihres Werdens und Hervorbringens vorzuschreiben. Die Biologie hat für den naturwissenschaftlichen Materialismus den Durchstoß vollzogen und der philosophische Materialismus ist bereits darauf aus, mit Hilfe der neuen Erkenntnisse seine Folgerungen zu ziehen und di alten metaphysischen Ideologien endgültig abzutun. Ein Ereignis von umwälzender Bedeutung ist demnach im Gange! Von den Thronen der wissenschaftlichen Akademien Leningrads und Moskaus tönt diese Verkündigung, und die Sowjetpresse ist seit Wochen damit beschäftigt, das große Geschehen, die bis zu ihren letzten Konsequenzen reichende wissenschaftliche Rechtfertigung des Marxismus russischer Prägung zu verdolmetschen und mit kräftigen Paukenschlägen zu begleiten. Mit einer bis zur Langweiligkeit aufgipfelnden Rhetorik der Wiederholung haben in diesem Sommer „Iswestija“ und „Prawda“ das Thema dieses großen Sieges abgewandelt.

Es war in der Tat ein Sieg. Auf dem Schlachtfeld liegen nämlich als moraliscHerledigte die russischen Gelehrten, die es gewagt haben, Zweifel an wissenschaftlichen Errungenschaften zu äußern, die dazu ausersehen sind, das Gedankengebäude des Sowjetsozialismus für immer zu untermauern. Die Geschichte dieser Auseinandersetzungen und ihr Ausgang sind denkwürdig.

Im Sommer des vergangenen Jahres unternahm es der Sowjetgelehrte Schebrak, Mitglied der Weißrussischen Akademie der Wissenschaften, in der amerikanischen Zeitschrift „Science“ gegen verschiedene Theorien seines Moskauer Berufsgenossen Trophin Lysenko Stellung zu nehmen. Die Kritik war kühn, Lysenko war als Biologe der Stolz der Sowjetunion. Er war vor dem Kriege ein kleiner Angestellter einer landwirtschaftlichen Versuchsstation in der Ukraine gewesen, ein geschickter Experimenten r, der durch ungewöhnliche Erfolge in seinen Pflanzenzüchtungen die Aufmerksamkeit auf sich zog. Zu größerem Wirkungskreis berufen, erschloß er hunderttausende Hektar unausgenützten Bodens im Norden Rußlands und Sibiriens durch seine Züchtungen kälteresistenter Pflanzen. Aber dem verdienstvollen Praktiker verlangte es auch nach dem Ruhme des Gelehrten, und so wurde er zum ideologischen Theoretiker, dessen Hypothesen nicht nur in der Wissenschaft des Westens Widerspruch begegneten. Schebrak sagt ihm in der amerikanischen Zeitschrift nach, er ziehe „naive und spekulative Schlüsse", aber er werde nicht in der Lage sein, eine erfolgreiche Entwicklung der Vererbungslehre, wie sie durch die Namen Mendel, Weismann und Morgan bezeichnet ist, zu verhindern. Professor Schebrak blieb nicht allein. An seine Stelle trat alsbald mit einem leitenden Aufsatz in der „Science" der Sowjetwissenschaftler Dubinin vom Institut für Experimentalbiologie an der Leningrader Akademie der Wissenschaften. Dubinin teilte nicht nur die Ansichten Schebraks, er zitierte zur Unterstützung seiner Auffassung sogar Arbeiten von zwei „Sowjetbiologen", die zur Zeit als Emigranten in den USA weilen. Es zeigte sich bald, daß hinter Lysenko die stärkeren Bataillone standen und di wissenschaftliche Diskussion auf das politische und parteidogmatische Gebiet übersiedelte. Mächtige politische Interessenten wurden sichtbar, als am 2. September 1947 die „Prawda" die gelehrten Kritiker mit vollen Lagen zu beschießen begann. Aus einem Aufsatz, der den Titel trug „Antipatriotische Handlungen unter der Flagge wissenschaftlicher Kritik", erfuhr die Öffentlichkeit, „daß bei einem gewissen, zurückgebliebenen Teil unserer Sowjetintelligenz noch Dienstfertigkeit und Kriecherei vor der bürgerlichen, dem sowjetischen Patriotismus zutiefst fremden Wissenschaft lebendig sind. Es ist nötig, diese faulen Wurzeln der Dienstfertigkeit und Gefallsucht vor der bürgerlichen Kultur entschieden schonungslos auszureißen!"

Der politische Charakter des Gegenangriffs wurde noch deutlicher, als in der wissenschaftlichen Sowjetzeitschrift „Lite- ratumaja Gaseta" ein Aufsatz mit vielen Zitaten aus Marx, Engels und Lenin die Kritik an Lysenkos Lehre als Versündigung gegen das Parteidogma kennzeichnete. Denn es ist der Königsgedanke dieser Lehre, daß der durch den dialektischen Materialismus reif gewordene Mensch außerordentliche Fähigkeiten zur Einsicht in die Naturgesetzlichkeit besitze; die Natur selbst bewege sich nach dem vom Menschen erkannten Gesetz der dialektischen Eigenbewegung • der Materie. Der Mensch, der nun selbst im

Sinne dieses Gesetzes aktiv zu handeln beginnt, wird fähig, die Natur zu beeinflußen, umzu gest alten, zu beherrschen. Dieser marxi- stische-philosophische Optimismus hält alle Naturvorgänge für rational erfaßbar. Auch die Gesetze der Vererbung sind rational erfaßbar, auch hier kann der menschliche Geist — er spielt im dialektischen Materialismus seltsamerweise noch eine ungeheure Rolle! — entwicklungsfördernd eingreifen.

Wenn Lysenko annimmt, daß durch systematische Veränderung der Umweltbedingungen die Erbmerkmale verändert werden können, daß man also neue Arten aktiv „erzielen“ kann, dann bestätigt er die Annahme der marxistisch-kommunistischen Philosophie, daß der geistig mündig gewordene Mensch sich die Natur untertan machen kann.

Damit war der Kem des Streitgegenstandes deutlich herausgestellt: Um die siegreiche Behauptung der marxistisch-politischen P h i 1 o- sophie ging es, um die Eroberung der S c h 1 ü s s el s teil u ng für mar xist is c h-kommunistische Weltanschauungslehre, in der Tat um eine geistige Entscheidungsschlacht großer Tragweite. Noch suchten die sowjetrussischen Wissenschaftler, die als Gegner Lysenkos und seiner Lehre sich bekannt hatten, ihre Position zu halten, so Sawa- dowskij, Mitglied der Lenin-Akademie der landwirtschaftlichen Wissenschaften, Schmalhausen, der Direktor des Severtsov-Instituts für Entwicklungsmorphologie an der Akademie der Wissenschaften, und Dubinin, ein dritter Gelehrter von Rang. Die Stärke ihrer Verteidigung schien darin zu liegen, daß sie an einem Kernstück des Darwinismus festhielten, das Lysenko als fehlerhaft ablehnte, nämlich die These vom Konkurrenzkampf innerhalb der einzelnen Arten, aus dem die lebenstüchtigeren Individuen als Sieger hervorgehen. Hier schien der Marxismus, der mit seinem Glauben an die ununterbrochene Höherentwicklung der Natur und der Menschheit eng mit dem Darwinismus verbunden ist, getroffen zu sein. Aber hinter Lysenko stand bereits das Zentralkomitee der politischen Partei, und als er vor kurzem in der entscheidenden Sitzung der Lenin-Akademie sich zur Anklage gegen seine wissenschaftlichen Kritiker erhob, konnte er schon in der Einleitung seiner Rede den Trumpf ausgeben, daß seine Stellungnahme dieser politischen Instanz bereits bekannt und von ihr gutgeheißen sei. Er vertrete die „fortschrittlich-materialistische" Richtung gegen die „reaktionär-idealistische" und eine „impotente metaphysische Wissenschaft“. — Es geschah, was nach der Vorgeschichte zu erwarten war: In einer Resolution der Akademie wurde die vom Zentralkomitee der Partei bereits gutgeheißene Lehrmeinung zur offiziellen Parteilehre erhoben.

Der nun einsetzende letzte Akt des Dramas brachte dieselben Szenen, wie sie vor wenigen Monaten der bekannten Resolution des Zentralkomitees über die russische Musik und den Verurteilungen der Tondichter Schostakowitsch und Prokofiew folgten: Wenige Tage nach seiner öffentlichen Anprangerung als Reaktionär und Metaphysiker richtete Professor Schebrak einen Brief an die „Prawda", in dem er sich als bekehrter Ketzer bekannte und versprach, fortan im Sinne des Beschlusses des Zentralkomitees und der Akademie arbeiten zu wollen. Die „Prawda“ schloß an diesen Brief einen Kommentar, der des Gelehrten „antipatriotische Handlung" nicht ohne weiteres verzieh, aber sein Versprechen zur Kenntnis nahm, in Zukunft am Bau des Kommunismus mithelfen zu wollen; man werde ja sehen, wie weit seine Erklärung mit seiner Haltung übereinstimmen werde.

Auf Schebrak folgten der Reihe nach als Büßer Orbeli, dieser Gelehrte von internationalem Ruf, den die Akademie der Wissenschaften vierzehn Tage nach dem in der Bodenkulturakademie errungenen Siege Lysenkos der „apolitischen Einstellung" und unzulässigen „Objektivität" schuldig erklärte, der Genetiker Schmalhausen und der Biologe Zhukowsky, der bisher Mitglied der Akademie der Wissenschaften war und sich zu retten suchte, indem er unter allen die Asche am dicksten auf sein Häretikerhaupt streute.

In Furcht und Zittern unterwarfen sie sich alle, selbst noch in ihren Widerrufen verrratend, wie gering daran ihre Überzeugung beteiligt war. Der einzige, der sich weigerte, vor dem Scherbengericht sich zu beugen, war der Direktor der Timiryazer- Akademie in Moskau, Prof Nemchinow; er wurde dafür seines Postens enthoben.

Um jeden Zweifel vor der Öffentlichkeit zu zerstreuen, daß es nicht etwa um einen Streit von Fachleuten der Biologie gehe, sondern um die weltanschauliche Grundlage des politischen Systems, ist jetzt auch das Philosophische Institut der Moskauer Akademie der Wissenschaften für die neue Verstärkung des Parteidogmas zu einem großzügigen Propagandafeldzug angetreten, durch den in populärwissenschaftlichen Kursen die Aufklärung über „die philosophischen Fragen der gegenwärtigen Biologie“ in Stadt und Land hinausgetragen werden soll.

Mit den Geschehnissen ist ein weiteres Gebiet des Geisteslebens Rußland in die strenge Disziplinargewalt des Zentralkomitees der Partei genommen worden: 1946 geschah es der Bühne und der Bühnenliteratur, 1947 der Geschichtsschreibung und den Historikern, im Februar 1948 der Tonkunst. Für die Befestigung des Systems und einer in theoretischer Spekulation fußenden Weltanschauung, ist diesmal die Naturwissenschaft aufgeboten, eine zweckbewußte, auch für den politischen Export bestimmte Scheinwissenschaft, aber deswegen in der Hand einer ungeheuren Staatsapparatur keine geringzuschätzende Kraft. Der wirklichen Wissenschaft wartet hier die Aufgabe einer rechtzeitigen Aufklärungsarbeit.

Der Geist, der in diesen Begebnissen wirkt, hat sich zu seiner hochmütigsten Machtgebärde aufgereckt: Ich mache euch die ganze Erde untertan. Wenn ihr mir folgt, werdet ihr dann wie die Götter!…

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