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Stalins rauchende Pistole

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Daß Stalin ein skrupelloser Massenmörder war, daran konnte bei klarem Verstand wohl längst niemand mehr zweifeln. Einwandfreie Beweise für seine unmittelbare Täterschaft im Einzelfall, sprich: konkrete Mordbefehle, die in direkter Linie auf ihn zurückgeführt werden können, waren bisher aber nicht allzu häufig. Nun ist einiges klarer zu beurteilen, denn ein gespenstisches Dokument aus dem Moskauer zentralen Parteiarchiv liegt jetzt auch in deutscher Sprache vor: Briefe Stalins („Der Stählerne“) an Molotow („Der Hammer“) aus den Jahren 1925 bis 1936. In einem Schreiben vom August 1930 steht wörtlich: „Kondratjew, Groman und einige andere Halunken müssen unbedingt erschossen werden.“

Dieser Satz ist die sprichwörtliche rauchende Pistole in einem prominenten Einzelfall. Sie hatte zunächst eine Ladehemmung und ging erst acht Jahre später los. Verhaftet allerdings wurde Nikolai Dmitriewitsch Kondratjew sofort. Der Direktor des Instituts für Konjunktur beim Volkskommissariat für Finanzen wurde im Westen vor allem durch seine Theorie der langen Konjunkturwellen bekannt, der Ausdruck Kondratjew-Wellen geht auf Joseph Schumpeter zurück. Kondratjew blieb bis zum 17. September 1938, an dem er von einem Militärtribunal zum Tode verurteilt wurde, in Haft. Er wurde noch am selben Tag erschossen. Der im Gefängnis geschriebene erste Teil eines geplanten großen Werks wurde von seiner Frau in Sicherheit gebracht und 1991 in Moskau veröffentlicht.

Daß zwischen Brief und Vollzug acht Jahre vergingen, ist sowohl für Stalins Charakter als auch für die Verhältnisse in der Sowjetunion aufschlußreich. Stalins Briefe belegen ein weiteres Mal, wie sehr Zorn, Bachsucht und taktisches Baffine-ment sein Verhalten bestimmten. In mehreren Fällen kann man anhand der Briefe verfolgen, wie er zunächst das Versagen eines seiner späteren Opfer in einer konkreten Aufgabe feststellt, sich aber sonst wohlwollend äußert, fast den Verteidiger spielt, wie er erst später auch die richtige Gesinnung des Betreffenden in Zweifel zieht, ihn langsam einkreist und erst zuschlägt, sobald die Vernichtung des kleinen oder großen, echten oder vermeintlichen Gegenspielers in den Gremien, die Stalin noch nicht umgehen kann oder will, als Notwendigkeit und Ergebnis eines Konsenses erscheint. Dabei stolperte er nie über die eigenen, zu schnellen Füße. Er war ein kompromißloser, aber geduldiger Hasser und verstand es wie kein anderer, seine Bache kalt zu genießen.

Es ist bezeichnend für die „Sensibilität“ Wjatscheslaw Molotows, daß er den Brief mit der Stelle, Kondratjew müsse erschossen werden, für harmlos genug hielt, um ihn nicht auszusondern, als er im Dezember 1969 77 handschriftliche Stalin-Briefe (nur ein einziger ist mit der Maschine geschrieben) dem Moskauer Zentralen Parteiarchiv übergab. Sie entstanden während der Erholungsaufenthalte Stalins auf der Krim und enthalten seine Kommentare zu den aktuellen Vorgängen und die Anweisungen an sein ausführendes Organ Offenbar hat Molotow einen Teil der Briefe vernichtet, es sei denn, sie würden noch in irgendeinem Panzerschrank der Entdeckung harren. Aus dem Jahr 1936, in dem der Ter ror einen Höhepunkt erreichte, ist in dem Konvolut beispielsweise nur ein einziges Schreiben vorhanden. Der Inhalt der anderen war vermutlich auch in den Augen Molotows so belastend, daß er sie nicht einmal einem geheimen Parteiarchiv anvertraute.

Einer Schlußfolgerung der Herausgeber ist vollinhaltlich zuzustimmen: Stalin war kein Machtmensch in dem Sinne, daß es ihm ausschließlich, also wertfrei, um die eigene Macht und sonst gar nichts ging. Er war ein überzeugter Kommunist, also Gesinnungstäter. Damit werden freilich offene Türen eingerannt. Eine weitere Schlußfolgerung: Er war kein Isolationist der Bevolution, sondern hatte sehr wohl stets auch die Weltrevolution im Auge, war dabei aber Bealist. Auch gegen diese l'hese wird es wenig Widerstand geben, die Frage ist auch nicht mehr wichtig.

Eine andere Schlußfolgerung, die sich bei der Lektüre der Stalin-Briefe aufdrängt, bleibt in den Einleitungskapiteln und Kommentaren (vorsichtshalber?) unterbelichtet: Stalin konnte nur deshalb zum Massenmörder werden, weil auch seine Konkurrenten, ebenso wie all seine Getreuen, den Mord als Mittel der politischen Auseinandersetzung für richtig hielten und weil das Erschießen von Gegnern, Abweichlern und „Schädlingen“ sanktioniert, ja eine grundsätzlich niemals in Frage gestellte Selbstverständlichkeit war. Darin bestand tatsächlich ein breiter Konsens. Widerstand regte sich erst, als der Kampf gegen die Abweichler jeden einzelnen bedrohte - da aber war es längst zu spät. Der alte Stalin ließ Molotows Frau umbringen und wollte auch noch Molotow selbst liquidieren, starb aber vorher.

Eines der Mittel, jede andere Meinung nieder-zubügeln, war die Behauptung, der Feind bereite eine Invasion der Sowjetunion vor. Stalin gab der Geheimpolizei persönlich Befehle, wie „Beweismateri-al“ zu beschaffen war. In einem Brief mit der Anschrift „OGPU Gen. Menschinski. Nur persönlich. Von Stalin.“ heißt es wörtlich: „Die Herren Kondratjew, Jurowski, Tscha-janow u.a., die bisher dem Vorwurf, ,eine Tendenz zur Intervention' zu haben, geschickt ausgewichen sind, jedoch (unbestreitbar!) Interventionisten darstellen, müssen durch die Mangel gedreht werden; sie sind ebenfalls strengstens nach dem Interventionstermin zu befragen (Kondratjew, Jurowski und Tschajanow müssen davon ebenso wissen, wie Miljukow davon weiß, den sie für eine ,Unterredung' aufgesucht haben) ... das auf diese Weise beschaffte Material machen wir in dieser oder jener Form den Sektionen der Komintern und den Arbeitern aller Länder zugänglich“.

Die Briefe sind noch in einem weiteren Punkt aufschlußreich. Sie dokumentieren Stalins Haß auf die Spezialisten, die im Parteijargon „Spezis“ genannten, nicht dem Parteiapparat angehörenden Fachleute für Verwaltung, Wirtschaft, Energie, Bauwesen und viele andere Gebiete. Sie hatten ihre Ausbildung vor der Bevolution absolviert, doch ohne sie kam die Partei nicht aus. In den Spezialisten sah Stalin eine Schichte, die sich den Plänen der Partei offen widersetzte oder sie insgeheim sabotierte.

Dieser Haß war Ausdruck der Ohnmacht des Diktators angesichts einer widerspenstigen Wirklichkeit. Zutiefst überzeugt davon, daß nicht nur die politische und soziale, sondern auch die ökonomische Wirklichkeit den Befehlen der Partei (und das hieß: seinem Befehl) zu folgen hatte, und zutiefst hilflos, wo sie dies nicht tat, war für ihn jedes ökonomische Sachargument, das nicht genau seiner Linie entsprach, gleichbedeutend mit Widerstand, Konterrevolution, Sabotage.

Lenin hatte die Krise der Planwirtschaft mit dem Neuen Ökonomischen Plan (NEP), das heißt mit einer teilweisen Bückkehr zu marktwirtschaftlichen Methoden, bewältigt. Für Stalin hieß Marktwirtschaft grundsätzlich Konterrevolution, und ein Wissenschaftler wie Kondratjew, der für marktwirtschaftliche Elemente in einer sozialistischen Wirtschaft eintrat, war in seinen Augen von vorneherein ein Feind und ein künftiges Opfer.

Die ökonomische Wirklichkeit hat sich Stalins mit Massenmord und Terror durchgesetztem Befehl bekanntlich mit durchschlagendem Erfolg widersetzt. Daß die Sowjetunion ihn solange überlebte, verdankte sie nicht zuletzt dem Umstand, daß die Mitglieder der Kolchosen ein kleines Stück Land selbständig bewirtschaften und ihre Produkte vermarkten durften. Michail Gorbatschows Weigerung, dieses privat bewirtschaftete Land zu vergrößern, war einer seiner schwersten Fehler, denn sie verschärfte die ökonomischen Probleme.

In unserem Jetzt und Hier ist eher die Frage aktuell, ob sich die Wirklichkeit nicht mitunter auch einer AVirtschaftspolitik widersetzt, die mit den besten Absichten in demokratischen Entscheidungen aus den Annahmen der die Begierungen beratenden Wissenschaftler abgeleitet wird. Sie signalisiert ihren Ungehorsam immer auf die gleiche Weise, nämlich indem sich die Probleme, die gelöst werden sollen, verschärfen, statt zu verschwinden.

STAUN-BRIEFE AN MOLOTOW 1925-1936

Herausgeber: Lars Th Lih, Oleg iXau-S mow, Oleg Chleumuk.

Einführung: Roheit C Tucker.

Siedler Verlag Berlin 1996.

304 Seiten, Im., öS 44),-

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