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„Nicht eine gute Tat!''

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Stalin-Biographien gibt es eigentlich schon zuhaut. Nun ist eine weitere hinzugekommen, vertaßt von einem Sowjetbürger, der mit seiner Familie selbst in das Terror-Räderwerk des Tyrannen geraten war. Dementsprechend engagiert geschrieben und unzimperlich ist dieses Buch.

Kann man noch „Neues" über Josef Stalin schreiben, ohne dazu die Archive des Moskauer Politbüros zu konsultieren? Hat man über diesen Diktator, der zwischen 1928 und 1953 die alleinige Macht in der Sowjetunion ausübte, im Westen nicht schon genügend publiziert? Wissen wir nicht schon genug über das Leben und Wirken des einstigen georgischen Schuhmachersohnes?

Stalin wurde bekanntlich als Nachfolger von Lenin Generalsekretär der KPdSU und machte während seiner Herrschaft die Sowjetunion aus einem rückständigen Agrarland zu einem beachtlichen Industriestaat. Dazu kommt freilich die „Kleinigkeit", daß dieser ökonomische Fortschritt durch eine unmenschliche Politik erkauft wurde, die letzten Endes Dutzende Millionen Tote forderte.

Weiß man damit genug? Die Antwort liegt auf der Hand: Informationen über Stalin sind noch immer willkommen, insbesondere wenn diese aus Moskau kommen. Wir wissen in der Tat noch heute nicht genügend über diesen politischen Zwillingsbruder Adolf Hitlers; beiden Diktatoren zusammen fällt die Schuld zu, unser Jahrhundert so „gestaltet" zu haben, wie wir es nach 1945 bzw. 1953 geerbt haben.

Es sollte uns keineswegs als Trost dienen, daß über Stalin in seiner eigenen Heimat so gut wie vollkommenes Schweigen herrscht. Außer den ungenügenden (und nichtssagenden) lexikalischen Angaben in einschlägigen sowjetischen Fachwerken existiert über ihn seit 1953 keine Biographie. Die mittlere und jüngere Sowjetgeneration hat somit kein Bild von jenem Mann, von dem — als er im März 1953 durch einen Schlaganfall mit 73 Jahren verschied - Ilja Ehrenburg, der Hofpoet des Kremls jener Zeit, in seinem heimlichen Tagebuch vermerkte: „Gott ist gestorben!"

Nun kommt aus Moskau - freilich im Westen veröffentlicht-ein neues Buch über Stalin. Autor des Werkes ist Anton Antonow -Ows-sejenko; Sohn eines bolschewistischen Berufsrevolutionärs der ersten Stunde, dessen Name in jedem sowjetischen Schulbuch zu finden ist.

Vater Wladimir Antonow-Ows-sejenko war nämlich der Mann, der in jener zur Legende gewordenen „Oktoberrevolution" 1917 im Auftrag von Lenin den Sturm auf das Petrograder Winterpalais befehligte und die Provisorische Regierung der Russischen Republik eigenhändig verhaftete. Später erwartete ihn eine Bilderbuch-Karriere - bis er schließlich als amtierender Volkskommissar für Justiz der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik von Stalins Schergen abgeholt und ein Jahr später - wie die meisten Altbolschewisten -ohne Prozeß liquidiert wurde.

Seine politische Rehabilitation wurde nach dem historischen 20. Parteikongreß der KPdSU im Jahr 1956 von N. S. Chruschtschow ausgesprochen, der auch Sorge dafür trug, den Sohn Antonow-Owssejenkos (seit 1939 mehrmals verschleppt) aus, der Welt des GULAGs zurückzuholen.

Jetzt liegt das Buch dieses Mannes über Stalin - mit dem bezeichnenden Untertitel „Porträt einer Tyrannei" - als Frucht der Arbeit mehrerer Jahrzehnte auch in deutscher Sprache vor. Es ist kein wissenschaftliches Werk und weit davon entfernt, ein ausgewogenes, objektives Buch zu sein.

Anton Antonow-Owssejenko ist bei der Formulierung seiner Sätze nicht zimperlich. Man spürt, daß er Stalin über alle Maße haßt -und nicht nur ihn, sondern auch das System, das mit dem Diktator zusammengewachsen war und dessen Vertreter (und Polizisten) heute als finanziell gut gestellte Rentner überall im weiten Sowjetland aufzufinden sind. Denn von ihnen wurde niemand (mit Ausnahme von Berija,. Abaku-mow und vielleicht wenige Dutzend weiterer Personen) gerichtlich zur Rechenschaft gezogen.

Die Haltung des Autors ist menschlich verständlich. Sein Buch ist nicht bloß die Anklageschrift einer Einzelperson gegen den Mann, der seinen Vater umbringen ließ und sein eigenes Leben verspielte. Durch die Feder des Autors klagt hier vielmehr eine ganze Generation den Diktator Stalin an: jene bolschewistische

„Durch die Feder des Autors klagt eine ganze Generation den Diktator Josef Stalin an" Elitegeneration, Lenins und Trotzkis Weggefährten, die mit der ganzen Sippe zwischen 1935 und 1941 ausgerottet wurde.

Die Stärke des vorliegenden Buches liegt zweifelsohne in seinem Material, in jenen diversen, hauptsächlich mündlich überlieferten Fakten und Begebenheiten, die der Autor (heute 63 Jahre alt und Frührentner in Moskau) aus den nichtgeschriebenen Memoiren verschiedener, zufällig am Leben gebliebener Mitglieder der Leninistischen Garde jetzt für die Nachwelt rettete.

Mit Recht bemerkt in seinem Vorwort Prof. Michael S. Vos-lensky: „Der Leser dieses Buches wird hier die unbekannte Atmosphäre des Stalinschen und des Nach-Stalinschen Rußlands einatmen."

Antonow-Owssejenkos Buch gliedert sich in vier Teile. Zuerst schreibt der Autor über Stalins „gelungenen Schritt", die Macht zu erobern. Am Schluß der Beschreibung des Lebenswegs des Diktators steht die Kapitelüberschrift: „Der Tyrann hat Langeweile".

Was zwischen diesen beiden Kapiteln liegt, sind drei Jahrzehnte Sowjet-Geschichte mit vielen unbekannten Details, ähnlich den Büchern von Alexander Solschenizyn. Eindeutiges Thema des Buches ist aber der „verbrecherische Kern" Stalins und des Stalinismus.

Antonow-Owssejenko verachtet noch heute jene Sowjetbürger und Führer, die Stalin mit verschiedenen Argumenten verteidigen wollen und unverhohlen den Stalin-Kult in der Sowjetunion pflegen (einige solche Beispiele werden im Buch genannt). Er schreibt: „Die Tatsachen sind jedem bekannt, der sich einen Funken Menschlichkeit und den Wunsch zu wissen bewahrt hat!"

Jenen, die vermeinen, beides berücksichtigen zu müssen, das Gute und das Verwerfliche der Stalin-Ära, hält der Autor eindeutig entgegen: „In den drei Jahrzehnten vollbrachte der Generalsekretär ... nicht eine gute Tat!" Und jenen, die behaupten, Stalin sei nicht verantwortlich für die vielen Verbrechen, weil allein seine Schergen die Schuld tragen, antwortet Antonow-Owssejenko: „Er wußte Bescheid... Er heckte es aus. Er gab die Befehle...!"

Der heute parteilose Russe ist die Stimme des Uberlebenden einer schwergeprüften Generation. In dieser Eigenschaft wagt er mit dieser Anklageschrift vor die — politisch bedingt — westliche Öffentlichkeit zu treten und, durch Fakten untermauert, zu versichern: für Stalin und seine Verbrechen gibt es keine Verjährung! Das Buch ist jedem zeitgeschichtlich interessierten Leser zu empfehlen.

STALIN. Porträt einer Tyrannei. Von Anton Antonow Üwssejenko. Piper-Verlag, München 1983.447 Seiten, zahlreiche Abb., geb., öS 364,80

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