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Drei Gestörte nutzten die Gunst der Stunde

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Anton Neumayr ist zwar Internist, doch gehen seine Interessen weit über die Medizin hinaus. Er ist auch Musiker, Pianist und Verfasser eines dreibändigen Werkes über Musik und Medizin, kurz, ein überzeugter Grenzgänger der Disziplinen. In seinem neuen Buch „Diktatoren im Spiegel der Medizin” nahm er sich drei Diktatoren vor: Napoleon, Hitler und Stalin.

Er untersucht alle verfügbaren, oft gegensätzlichen Krankheitsgeschichten und zieht seine fachlich abgesicherten Schlüsse. Die Darstellung der drei Laufbahnen bietet nichts Neues; was sie interessant macht, ist der Blickwinkel des Autors, der sich von den herrschenden Thesen über die jeweilige Person und Periode weitgehend freihält.

Stalin bietet die geringsten Anhaltspunkte für medizinische Analysen, die über das hinausgehen, was man schon weiß. Nicht nur war die stalinistische Gesellschaft stets eine Geheimgesellschaft. Zwar gäbe es nach dem Zusammenbruch des Sowjetsystems Zugang zu Geheimarchiven, doch wachte Stalin mit peinlicher Sorgfalt darüber, daß alles sofort vernichtet wurde, was einen Schatten auf seinen Ruf werfen konnte. Anscheinend war bei Stalins Handeln weniger Ideologie im Spiel als bisher angenommen, und mehr paranoide Uberzeugung, „gottähnlich, wenn nicht überhaupt Gott” zu sein. Ein Historiker auf der Suche nach ideologischer Fundierung der Stalinschen Aktionen, wie Isaac Deutscher, konnte sich das wohl nicht vorstellen.

Mit Begeisterung fündig wird Neumayr dagegen bei Napoleon. Damals gab es noch keine Elektrokardiogramme, etliche der Krankheiten, unter denen Napoleon litt, waren noch nicht bekannt. Sie wurden aus heutiger Sicht fehldiagnostiziert. Daß Napoleon solcherart an Magengeschwür und einem Leberabzeß und nicht an Krebs und dazu noch an Vergiftung durch die falschen Medikamente starb, gibt einen interessanten Einblick in die Epoche. Ähnlich, wenn Neumayr erzählt, wie die sich unaufhaltsam verschlimmernden Hämorrhoiden, Harnverhaltungen und Magenkrämpfe Napoleon bei seinem Rußlandfeldzug immer wieder in einen Zustand brachten, in dem er vor Schmerz, und unfähig, aufs Pferd zu steigen, zu lebenswichtigen Entschlüssen während einer Schlacht einfach nicht mehr fähig war.

Ausschlaggebend wurden diese Leiden dann in Dresden und in der Völkerschlacht von Leipzig. In der Schlacht bei Dresden verwandelte sich der anfängliche Erfolg durch Napoleons Trägheit und Unentschlossen-heit in eine Niederlage, „ähnlich wie das Ermatten seiner Kräfte und das wiederholt beobachtete Zögern bei der Erteilung seiner Befehle wahrscheinlich zum unglücklichen Ausgang des Rußlandfeldzuges beigetragen haben.” In der Völkerschlacht bei Leipzig wurde er „mitten im Schlachtgetümmel in seinem Zelt von Schlaf übermannt. Er erwachte erst... durch den ohrenbetäubenden Lärm einer Explosion. Ein Offizier hatte irrtümlich noch vor der Überquerung der Elbe durch die restliche Hälfte der französischen Truppen und damit zu früh die Sprengung einer Brücke angeordnet.” Es sei daran erinnert, daß damals die Feldherren Schlachten vom Pferd aus leiteten.

Auch bei seiner letzten Schlacht konnte der Korse nicht zur alten Energie zurückfinden, obwohl sich das Blatt bereits zu seinen Gunsten gewendet hatte. Unfähig, aufs Pferd zu steigen, zögerte er so lange mit dem Befehl zum Angriff, bis es zu spät war.

Richtig zum Zug kommt Neumayr bei Hitler, über den es, von Jugenderzählungen bis zu ausführlichen medizinischen Analysen und einer ganzen medizinischen Literatur, alles gibt, was der posthume Diagnostiker sich nur wünschen kann, bis hin zum letzten Elektrokardiogramm vor Hitlers Tod. Wenn es eine Schwierigkeit gibt, dann eher die, aus den vorhandenen Informationen Schlüsse zu ziehen. Die Kindheit und Jugend bis zum Entschluß, „Politiker zu werden”, verlief zwar gestört bis krankhaft, dies aber nicht in einem so außergewöhnlichen Maß, daß sich der Versuch, die Entstehung des Ungeheuers bloßzulegen, daraufstützen könnte.

Auf die eine oder andere Weise wuchsen alle drei Diktatoren unter Verhältnissen auf, die psychische Schäden hervorriefen - in allen drei Fällen in einer ganz bestimmten Richtung. Sie hielten sich dem Rest der Menschheit von Jugend auf für weit überlegen. Während jedoch Napoleon und Stalin die Konsequenz aus dieser Überzeugung zogen und zielstrebig an ihrem Erfolg arbeiteten, fehlte Hitler genau diese Fähigkeit der Zielstrebigkeit.

Entscheidend für den Erfolg aller drei waren die gesellschaftlichen Umstände, in die sie hineinwuchsen. Napoleon hätte wohl als Befehlshaber einer kleineren oder größeren Garnison sein Leben beschlossen, wenn die französische Revolutionsmacht nicht im -für ihn - richtigen Augenblick in ihre Existenzkrise geschlittert wäre. Ähnliches läßt sich von Stalin sagen. Wahrscheinlich wäre er Priester geworden, wäre Rußland Ende des vorigen Jahrhunderts nicht bereits in eine tiefreichende gesellschaftliche Krise geraten, mit aufregenden Perspektiven für einen jungen Mann seines Schlages.

Dasselbe gilt für Hitler. Zwar hat er nicht, wie die anderen, mit extremer Anstrengung auf seinen Erfolg hingearbeitet. Offenbar war es seine Fähigkeit, mitreißende Reden zu halten, die ihm den Weg zum politischen Erfolg ebnete. Die Ideen brauchte er, wie auch Stalin und Napoleon, nicht zu entwickeln, die gab es für alle drei fertig zum Gebrauch.

Bleibt noch die Frage nach der extremen Grausamkeit dieser Männer. Auch Napoleon ließ Ströme von Blut fließen. Verkörperung des Zeitgeistes mehr als dessen Erfinder, entwickelte er den ideologischen Volks- und Massenkrieg. Daß sich die absolute Zahl der Toten seiner Feldzüge (in Rußland verlor er immerhin rund 500.000 Soldaten) im Vergleich mit den Toten zweier Weltkriege bescheiden ausnimmt, liegt an der niedrigen damaligen Einwohnerzahl Europas.

Stalin und Hitler stehen am Ende einer Entwicklung, an deren Anfang Napoleon stand. Stalin als Vollstrecker der Ideologie vom revolutionären Siegeszug der Massen, Hitler als Vollstrecker der nationalistischen Ideologie vom Siegeszug der Rasse, beide mit ihren Wurzeln in der Französischen Revolution. Sie waren die richtigen Männer, die richtigen Unmenschen, zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort.

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