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Morphologie des modernen Diktators

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Die Nachwelt müßte es eigentlich Napoleon danken, daß er Germaine de Stael-Necker so ingrimmig verfolgt hat, wenn sich auch das Verhalten seiner Polizeigewaltigen der Verhaßten gegenüber, mit heutigen Maßstäben gemessen, biedermeierisch ausnimmt. Er hat der scharfsichtigen Menschenkennerin und Beobachterin damit jedenfalls Anlaß gegeben, immer wieder das Phänomen ihrer Zeit zu überdenken und ihm die Morphologie des ersten Diktators neuzeitlicher Prägung zu widmen, die sie in ihren — erst nach ihrem Tode ' erschienenen „Considerations“ niedergelegt hat. Schon der weite Rahmen, den sie dem Problem gibt, verrät den Geist, der über dem Augenblick steht: .Bonaparte war nicht nur ein Mensch, er war ein ausgeklügeltes System, und wenn er recht behalten hätte, dann hätte er die Welt, die Gott geschaffen, von Grund aus umgewandelt. Man muß an ihn wie an ein großes Problem herangehen ttnd sich klar sein, daß die Lösung dieses Rätsels das geistige Leben aller Zeiten beeinflussen wird. Germaine de Stael sieht klar die Mittel, mit denen sich Napoleon in den Sattel schwingt: „Seine Geschicklichkeit bestand einesteils darin, die Massen zu blenden, andernteils die Einzelperson zu verderben. Sein Plan, Frankreich zu unterjochen, bestand aus drei Teilen: er beabsichtigte, die Wünsche der Menschen auf Kosten ihrer sittlichen Werte zu befriedigen, die öffentliche Meinung durch Trugschlüsse zu verderben und der Nation anstatt der Freiheit den Krieg als Endzweck hinzustellen.“ Da die Gegner schwach waren, beherrschte er bald ganz allein die Szene: „Es war seit der Revolution das erstemal, daß der Name eines einzigen auf den Lippen aller war. Bisher sagte man: die Nationalversammlung hat dies, das Volk jenes getan. Jetzt sprach man nur mehr von diesem Mann, der sich über alle erhoben und die menschliche Gattung namenlos gemacht

O du mein trautes Heim. Eine Kulturgeschichte der Wohnung, gezeichnet und geschrieben von Osbert Lancaster. Ullstein-Verlag 1950. 74 Seiten.

Beim Durchblättern dieser ironischen Wohnkulturgeschichte erinnert man sich jener Witze, die seinerzeit an einer offiziellen Reichsarchitektur einen „Style dictatoire“, einen „Barack-Stil“ und den „Style Lui-meme“ feststellten. Denn die Stilbegriffe, die Lancaster in satirischer Laune mangels schon vorhandener prägt, heißen so ähnlich: „Russischer Ballettstil“ etwa oder „Bankdirectoire“ oder „Städtischer Rustikalismus“ oder auch „Allerletzte Sachlichkeit“ — welch letztere durch ein Luftschutzkeller-Interieur illustriert wird. Und sonderbarerweise gelingt es dem Autor, mit diesen seinen parodierenden Stilnamen,, die er jeweils durch entsprechende Zeichnungen erläutert, die Arten und Entartungen neuerer Wohnkultur glänzend zu umschreiben. Aber neben allem Witz und aller Leichtigkeit des Tons steckt in den Deskriptionen dieser vergnüglichen Wohnhbel ein sehr beachtliches Wissen um geistes- und kulturgeschichtliche Zusammenhänge — nach der letzten Seite bemerkt man sozusagen plötzlich, daß auf den vorhergegangenen nicht nur amüsant geplaudert wurde. Dr. Jörg Mauthe

England — Tirol. Von A. M. P i r k h o f e r.

Universitätsverlag Wagner, Innsbruck. 192 Seiten.

Dr. Pirkhofer hat sich die originelle Aufgabe gestellt, ein Bild Tirols in englischer Beleuchtung zu skizzieren: ein Spiegelbild sozusagen des Tiroler „Nationalcharakters“ und der Tiroler Landschaft, wie es sich bei der Durchforschung des englischen Schrifttums vom Beginn des 18. Jahrhunderts bis in unsere Tage erkennen läßt. Das Ergebnis dieser mit feinem Empfinden und gründlicher Kenntnis der Materie durchgeführten Arbeit ist ungemein anregend und interessant auch für den Kreis jener Leser, die mit den Angelegenheiten der Fremdenverkehrswerbung nicht unmittelbar befaßt sind. So zeigt der Verfasser an Hand zahlreicher Zitate aus der englischen Literatur, wie sich das Verständnis der Engländer für Tirol und seine Bewohner im Laufe der Zeiten gewandelt hat und der Wirklichkeit — oder was wir für Wirklichkeit halten — näher gekommen ist; oder welches die spezifisch tirolischen Merkmale und Charakterzüge sind, die gerade diesem österreichischen Stamm, mehr als den Österreichern im allgemeinen, so starke Sympathien in England gewonnen und so viele Engländer dahin geführt haben, im Tiroler, in diesem „nature's gentleman“, einen ihrem eigenen Volke wesensverwandten Typus zu erblicken.

Ein reiches Literaturverzeichnis und gut ausgewählte Illustrationen erhöhen den Wert des Buches, dem eine weite Verbreitung zu wünschen ist; in England vor allem, aber auch unter den Kennern und Nichtkennern Tirols in Osterreich. Kurt Strachwitz hat. Fortan beansprucht er Jede Berühmtheit für sich und kein Mensch wird es wagen, den Kampf darum mit ihm aufzunehmen.“ Es gibt keine Freiheit und Menschlichkeit mehr: „Ich hatte das Gefühl, nicht mehr frei atmen zu können, und dieser Zustand war das Leiden aller, die unter Bonaparte leben mußten.“ Dieser Mann aber ist nicht imstande, eine logisch einwandfreie, wirklich überzeugende Rede zu halten: „Er ist nur beredt, wenn er schimpfen kann, und er kennt keine größere Schwierigkeit als jene, die ihn zwingt, sich zusammenzunehmen, um eine würdevolle Rede zu improvisieren, die die Versammlung, zu der er spricht, überzeugen soll“, denn: „er überschüttet seine Zuhörer mit einem Wasserfall von Worten, so daß sie nicht mehr aus noch ein wissen und den widersprechendsten Reden Glauben schenken.“ Er stellt Frankreich vor Alternativen, die in Wirklichkeit keine sind. Niemand antwortet auf seine Frage: „Wollt ihr, daß ich euch den Jakobinern ausliefere?“ „Wir werden schon mit dir und den Jakobinern fertig werden!“ Aber die Zwangslage ist ein Mittel, das Napoleon gerne benützt: „Schließlich und endlich: Man liebte ihn nicht, aber man hatte keine Wahl, und so hat er immer verstanden, irgendeine drohende Gefahr auszunutzen, damit man seine Herrschaft als das geringere Mittel ansehen würde.“ Man war ihm leider nicht zeitgerecht, bei Beginn seines Aufstieges entgegenzutreten: „Nichts ist wichtiger als die ersten Anzeichen einer Gewaltherrschaft zu beobachten, denn wenn sie einmal fortgeschritten, dann ist es unmöglich, sie aufzuhalten. Ein einziger Mensch kann den Willen eines ganzen Volkes beeinflussen, von dem die Mehrzahl, einzeln befragt, wünscht, freizubleiben, sich aber trotzdem unterwirft, weil einer den anderen fürchtet und nicht wagt, ihm seine Gedanken aufrichtig mitzuteilen, Oft genügt eine kleine Minderheit, am sich einer Mehrheit entgegenzustellen, wenn diese nicht weiß, was sie tun soll.“ Und dieser Diktator erkennt als erster bereits die Macht des durch eine fügsame Presse unablässig reproduzierten Wortes: „Die Zeitungen wiederholen dieselben Nachrichten Tag für Tag, ohne daß es jemals erlaubt war, ihnen zu widersprechen. Der erste Konsul überwacht diese Blätter, er diktiert Artikel, die ihn durch seinen Stil verraten ...“ 1803 oder 1933 oder ??? Mit wahrer Sehergabe hat diese geistvolle Frau ein Bild entworfen, dem die Menschheit nach 150 Jahren nichts Wesentliches hinzuzufügen hat, wenn sie den dargestellten Typ nadizeichnen will. Olga Taxis-Bordogna hat mit ihrem lebensvoll und mit großer seelischer Einfühlungsgabe geschriebenen Lebensbild „Madame de Stael“, dem wir hier folgten, die biographische Literatur um diese weibliche Gegenspielerin Napoleons wertvoll bereichert.

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