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Verrat in der Roten Armee?

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Rudolf Ströbinger rekonstruiert in seinem Buch „Stal in enthau ptet die Rote Armee" den Massenmord an Marsch ????l Tucha????chewskij und Zehntausenden Sowjet-Offizieren.

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Rudolf Ströbinger rekonstruiert in seinem Buch „Stal in enthau ptet die Rote Armee" den Massenmord an Marsch ????l Tucha????chewskij und Zehntausenden Sowjet-Offizieren.

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11. Juni 1937. Ein schwüler Tag in Moskau. Um punkt acht Uhr beginnt im Saal des Obersten Gerichtshofes der Geheimprozeß. Die acht Mitglieder des Tribunals, die unter dem Vorsitzenden Wassilij Wassiljewitsch Ulrich, einem berüchtigten Armeerichter, die Angeklagten als Verräter und deutsche Agenten zu verurteilen haben, kennen die acht Beschuldigten gut. Sie waren Kampfgefährten, Genossen, zum Teil Freunde. Draußen zieht ein Gewitter auf. Die Stimmung im Saal ist eisig.

Hauptangeklagter: Michail Nikolajewitsch Tuchatschewskij, bis vor kurzem Oberbefehlshaber'der Roten Armee. Mitangeklagt: hohe und höchste Offiziere. Die meisten Mitglieder des Tribunals machen bis auf ein oder zwei Fragen überhaupt nicht den Mund auf. Nur Marschall Semjon Budjonnyi, ein Liebkipd Stalins, greift ein. Der alte Reitermarschall kann Tuchatschewskij nicht verzeihen, daß er bei allen militärischen Planungen die Panzer bevorzugte. Vielleicht kennt er auch Stalin gut genug, um zu wissen, daß jeder, der sich in diesem Verfahren passiv verhält, sein eigenes Leben aufs Spiel setzt.

Tribunal-Mitglied Pawel Dybenko gerät an den Rand eines Zusammenbruchs. Der Angeklagte Awgust Kork erinnert ihn daran, daß ihm der Angeklagte Witalij Primakow vor 19 Jaht;en im Bürgerkrieg das Leben gerettet hat. Von der Regie zum Hauptbelastungszeugen auserkoren, muß Dybenko daraufhin ärztlich behandelt werden, bei der Rückkehr in den Saal sagt er zu den Angeklagten: „Genossen, Genossen - glaubt ihnen nicht. Glaubt nicht, was ich sage! " Er spricht damit sein eigenes Todesurteil. Weni-

ge Monate später wird er selber im berüchtigten NKWD-Gefängnis Lubjanka verschwinden.

Dieses Schicksal teilen jene, die peinlich berührt in ihren Papieren geblättert haben.

Vor der Urteilsverkündung fährt NKWD-.Chef Jeschow, der die Verhandlung verfolgt, zu Stalin, um ihn über den Stand zu informieren. Er hütet sich, ihm zu sagen, daß Tuchatschewskij seinerseits Stalin des Verbrechens an Volk und Partei bezichtigt hat. Kurz vor Mittag geht das erwartete Gewitter nieder und es wird in Moskau angenehm kühl.

Punkt zwölf Uhr werden alle acht Angeklagten zum Tod verurteilt. Auch Primakow, der sich als einziger voll schuldig erklärt und unter Berufung darauf, daß er den NKWD -Beamten die Namen von 70 „Verschwörern" genannt habe, um sein Leben gebeten hat. Das Erschießungskommando nimmt sofort im Innenhof der Lubjanka Aufstellung

brüllen die Motoren mehrerer Lastwagen auf. Tribunalmitglied Marschall Wasilij Konstantinowitsch Blücher senkt als Feuerbefehl das weiße Taschentuch in seiner Hand. Der junge NKWD-Offizier und .spätere zeitweilige KGB-Chef Serow erzählte später, er habe in diesem Moment Tränen in Blüchers Augen gesehen. Einer der Verurteilten, Iona Jakir, ruft: „Es lebe die Partei ! Es lebe Stalin! "

In den folgenden Wochen und Monaten ließ Stalin drei der fünf

sowjetischen Marschälle, 13 der 15 Armeekommandanten, 62 von 85 Korpskommandanten, 110 von 195 Divisionskommandanten, 220 von 406 Brigadekommandanten und drei Viertel der Mitglieder des Obersten Kriegsrates erschießen. 65 Prozent aller höheren Offiziere vom Obersten aufwärts wurden verhaftet, 1.500 von insgesamt 6.000 hingerichtet. Auch zehn Prozent der niedrigeren Dienstgrade wurden verhaftet, insgesamt 20.000 Offiziere. Stütze der Partei in der Roten

Armee waren die Politischen Kommissare gewesen.???? von ihnen wur,.. den mindestens 20.000 ermordet. Von den 300.000 Mitgliedern der KPdSU in der Roten Armee soll Anfang 1938 die Hälfte nicht mehr am Leben gewesen sein .

Tuchatschewskijs dritte Frau, zwei Brüder, die Mutter, eine Schwester wurden ermordet, zwei ehemalige Frauen starben in Arbeitslagern, eine Tochter beging nach dem Tod ihrer Mutter Selbstmord.

Rudolf Ströbinger ermittelte viele bisher unbekannte oder unbeachtet gebliebene Einzelheiten in Tuchatschewskijs Biograpliie und widerlegt manche Legende. Vor allem werden Details der Beteiligung von Reinhard Heydrich, Chef von Hitlers Sicherheitsdienst, an der Tragödie geklärt.

Allgemeine Lesart: Heydrich spielte Stalin gefälschte Dokumente zu, die dem Sowjetdiktator suggerierten, Tuchatschewskij sei deutscher Agent. Stalin, der immer und überall Verschwörungen witterte, sei darauf hereingefallen und habe einzig aufgrund dieser VerleumdungTuchatschewskij und den größten Teil der Führung der Roten Armee liquidieren lassen, womit Nazideutschland Jahre vor dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion ein Schlag gegen diese gelang, der mehr zählte als viele spätere militärische Siege.

Nach Ströbingers Überzeugung wurde Stalin nicht Opfer einer mit teuflischer Raffinesse eingefädelten deutschen Intrige, sondern war längst gesonnen, sich Tuchatschewskijs zu entledigen. Tuchatschewskij war ein möglicher Machtkonkurrent, war aufgrund seiner aristokratischen Herkunft suspekt und Stalin haßte ihn schon lange. Auch in der Sache Tuchatschewskij habe, so Ströbinger, letzten Endes Stalin Hitler übertölpelt.

Aber kann man es wirklich als Erfolg für Stalin verbuchen, wenn er zugleich mit dem wir.klichen oder eingebildeten Gegner Tuchatschewskij Zehntausende Offiziere verlor und seine Armee auf verhängnisvolle

Weise schwächte? Zugleich beseitigte Stalin mit Tuchatschewskij genau den Mann, der seit Jahren in Hitlers Deutschland den künftigen Kriegi;gegner gesehen und noch in einer in der Lubjanka angefertigten Niederschrift den deutschen Überfall fast auf den Monat genau vorhergesagt hatte - für Frühjahr 1941.

Haß war Eifersucht, waren Tuchatschewskijs militärische Erfolge, während er von Lenin als militärischer Dilettant kritisiert worden war. Ihre Riv????lität war alt. Schon im August 1920 hatte der damalige politische Kommissar der Südwestfroht, Stalin, verhindert, daß Budjonnys Reiterarmee Tuchatschewlikij beim Angriff auf Warschau unterstützte. Er selbst wollte Lemberg einnehmen. Ergebnis war, daß beide scheiterten. Tuchatschewskij rieb Stalin seine militärischen Fehler bei jeder Gelegenheit unter die Nase.

Als sich Anfang März 1921 die Matrosen der Kriegsschiffe „ Petropa wlowsk" und „Sewastopol" gegen die Sowjetregierung erhoben und gemeinsam mit den Matrosen von Kronstadt freie und geheime Wahlen in die Räte, Rede- und Pressefreiheit für alle Arbeiter-und Bauernparteien, Freilassung aller politischen Gefangenen, ein Ende der politischen Privilegien für die Bolschewiki und das Verfügungsrecht der Bauern über ihren Boden forderten, knüppelte der mit absoluter Handlungsvollmacht ausgestattete Tuchatschewskij die Rebellion mit äußerster Härte nieder. Tausende Aufständische fielen, von den 2.500 Gefangenen wurden die 'meisten erschössen uhd nur wenige in die Lager geschickt.

Lenin per5önlich belobigte Tuchatschewskij und entsandte ihn in die südrussische Provinz Tambow, wo 40.000 bewaffnete Bauern die bolschewikischen Funktionäre verjagt und die Macht in die Hand genommen hatten. Der „Held von Kronstadt" wurde seinem Ruf gerecht: Er ließ ganze Dörfer dem Erdboden gleichmachen und die Familien der Aufständischen, Frauen, Alte, Kinder, hinrichten. Der einstige Unterleutnant de???? zaristischen Garderegiments Semjonow wurde sodann Stabschef und Umgestalter der Roten Armee, einer der international bekanntesten Militärtheoretiker seiner Zeit und zog zwangsläufig Stalins krankhaftes Mißtrauen auf Sich.

Heydrichs Fälschungen wirkten auch deshalb so glaubwürdig, weil Tuthatschewskij Deutschland im Ersten Weltkrieg als Kriegsgefangener kennengelernt hatte, Deutsch sprach und vor Hitler tatsächlich eine deutsch-sowjetische Partnerschaft befürwortete.

Ströbinger kann einige Einzel ·heiten der Fälschungsaktion und vor allem den Weg der getürkten Papiere überzeugend klären: Sie wurden über den Nachrichtendienst des tschechoslowakischen Außenministeriums dem tschechoslowakischen Präsidenten Dr. Edvard Benes zugespielt, der sie dann als Freundschaftsdienst an die Sowjetunion weitergab.

Stalin zeigte sich bei Benes erkenntlich: Er ordnete an, daß die tschechischen Waffenhersteller mit sowjetischen Bestellungen bedacht wurden. Auch bei Michail Frinowskij, der als Leiter einer eigens dafür · ins Leben gerufenen NKWD-Abteilung, des „Spezbüros", den Prozeß gegen Tuchatschewskij zu Stalins größter Zufriedenheit vorbereitet hatte, zeigte dieser sich erkenntlich: Er verlieh ihm einen Orden und ließ ihn erschießen.

RUDOLF STRÖBINGER: „Stalin enthauptet die Rote Armee". Der Fall Tuchatschewskij. Deutsche Verlags·Anstalt, Stuttgart 1990. 320 Seiten, zahlreiche Bilder, öS 310,40.

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