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Letzte Hexenjagd

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Im Gefolge der neuen Moskauer Informationspolitik sind jetzt Einzelheiten über Stalins letztes Verbrechen gegen die Menschlichkeit bekannt geworden.

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Im Gefolge der neuen Moskauer Informationspolitik sind jetzt Einzelheiten über Stalins letztes Verbrechen gegen die Menschlichkeit bekannt geworden.

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Nach 35 Jahren wurden jetzt in der Sowjetunion die Vorbereitungen zu einem monströsen Schauprozeß im Frühjahr 1953 bekannt, der in einer neuen Säuberungswelle gipfeln sollte. Stalins Aufmerksamkeit richtete sich gegen die Ärzte des Kreml.

Die vorangegangenen zwei Jahrzehnte sahen Prozesse gegen Wirtschaftsfachleute, hohe Militärs, Parteifunktionäre und Parteiveteranen, ja sogar gegen Künstler und Literaten. Im Frühjahr 1953 wollte Josef Stalin die Moskauer Ärzte-Elite das Fürchten lehren.

Einer der Überlebenden dieser begonnenen Kampagne, J. Smirnow, 1953 Gesundheitsminister der UdSSR, brach jetzt das Schweigen. Seinen Bericht veröffentlichte unlängst eine Moskauer Zeitung.

Daraus wissen wir Einzelheiten über das sogenannte Ärzte-Komplott im Kreml. Stalin, dessen Argwohn in seinen letzten Lebensjahren ausgesprochen krankhaftes Ausmaß erreichte, äußerte bereits im Spätherbst 1952 den Verdacht, die Kreml-Ärzte (die besten Ärzte des Landes) stünden im Dienste des „Weltimperialismus“. Sie hätten den Auftrag, durch medizinische Machenschaften die führenden Kader der KPdSU zu vergiften.

Stalin war besonders sein Leibarzt, Professor Winogradow, in dieser Zeit suspekt. Hatte er nicht dem Staatssicherheitsdienst-Minister Berija mitgeteilt, Stalins Gesundheitszustand gebe zu Sorge Anlaß? Man müsse also den Chef schonen, ihm weniger Arbeit geben, aber mehr Gelegenheit zum Ausruhen und Entspannen.

Berija hatte diesen vertraulichen ärztlichen Rat Stalin sofort wissen lassen, der — so Smirnow — daraufhin in „unbeschreibliche Wut“ ausgebrochen sei. „Winogradow muß in Ketten gelegt werden! Die ganze Sippe ist sofort zu verhaften!“

Diese Reaktion — meint jetzt Minister a. D. Smirnow — gehe auf Stalins Erfahrungen in der Zeit der letzten Jahre Lenins zurück. 1923 — Stalin wurde damals Generalsekretär der KPdSU - hatte er Lenin von der Parteiarbeit zurückzuhalten versucht und dies mit der Erklärung begründet: der große Lenin sei krank und bedürfe der Ruhe. Damit schirmte er Lenin auch von der Außenwelt ab.

Nun, im Herbst 1952, glaubte Stalin, man wolle ihn hinterhältig von der Macht entfernen, ihn mit ärztlicher Assistenz kaltstellen. Er realisierte überhaupt nicht, daß er 72 Jahre alt und seine Gesundheit in der Tat angegriffen war.

Am 13. Jänner 1953 hatte die sowjetische Nachrichtenagentur TASS kurz gemeldet, daß der Staatssicherheitsdienst auf eine Verschwörung aufmerksam geworden sei. Eine internationale jüdische Organisation, die amerikanische JOINT, eine „bourgeoisnationalistische Terrorgruppe“ im Dienste der CIA, habe eine Anzahl Kreml-Ärzte dazu verleitet, führende Persönlichkeiten der Sowjetelite zu ermorden.

Und es folgte eine Liste der bereits verhafteten „Mörder-Ärzte“, an der Spitze das Akademiemitglied Winogradow. Gleichzeitig rühmte TASS die junge Ärztin Lidia Timaschuk, eine Assistentin in der Kreml-Klinik, die als „echte Kommunistin“, stets

Stalin unter Marx im Kreml 1932 wachsam, die Sicherheitsbehörden auf die Spur dieser „Verbrecher im weißen Kittel“ gebracht habe. Sie wurde in der Folge befördert und mit dem höchsten Orden der .Sowjetunion, dem „Lenin-Orden“, geehrt.Und die verhafteten Ärzte?

Sie und ihre Familienmitglieder kamen in den Kerker des Staatssicherheitsdienstes. Sie wurden als Terroristen behandelt, wobei die „Fachleute“ Berijas versuchten, sie für einen Schauprozeß gefügig zu machen. Smirnow berichtet, daß dabei einige Ärzte starben.

Am 5. März 1953 starb plötzlich und unerwartet Josef Wissario-nowitsch Stalin.

In der Nacht des 3. April wurden die Mitglieder der „Terrororganisation JOINT“ stillschweigend aus ihrem Kerker entlassen. Sie kamen zwar frei, mußten sich aber verpflichten, über ihre Verhaftung beziehungsweise Folterung nichts verlauten zu lassen.

Der Ärztin Timaschuk—der angeblichen Denunziantin — wurde später offiziell der „Lenin-Orden“ aberkannt. Sie selbst wurde nach Sibirien, in ein dortiges Spital versetzt. General Rjumin, der die Verhöre der Ärzte geführt hatte, machte man selbst den Prozeß. In aller Heimlichkeit, versteht sich.

Ihm und einigen seiner Folterknechte wurde Amtsmißbrauch vorgeworfen. Sie wurden für schuldig befunden und hingerichtet.

Die befreiten Kreml-Ärzte traten zunächst einen längeren Sanatoriums-Aufenthalt an. Danach gab man ihnen die Möglichkeit, ihre Tätigkeit fortzusetzen. Smirnow erwähnt, daß heute keiner mehr von ihnen lebt. Der letzte „Arzt-Terrorist“, W. Wassilenko, Akademiemitglied und „Held der Sozialistischen Arbeit“, starb als 90j ähriger vergangenes Jahr in Moskau.

Und nach 35 Jahren Schweigen erfahren die Leser des Sowjetblattes „Moskowskije Nowosti“, was sich tatsächlich, hinter den Kulissen in Moskau im Winter 1952/53 abgespielt hat; und wie Stalins letzte „Hexenjagd“ endete.

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